Michael Green und Richard Löwenherz
Eins muss man meiner Freundin Hanna-Zebra lassen, Leute überreden kann sie gut. Wir wollten doch unbedingt zum ersten Mal das Ritterfest auf Burg Greifenfels sehen! Tatsächlich brauchte sie ihren Großvater nur eine halbe Stunde zu bearbeiten, dann hatte sie ihn so weit. Er war bereit, mit uns zu fahren. Oh, was haben wir uns gefreut!
Das Ritterfest ist ziemlich berühmt und etwas Besonderes, denn es findet nur alle zehn Jahre statt. Von überall her kommen Besucher, weil dort ein riesiger Jahrmarkt aufgebaut ist. Nicht wie auf einer modernen Kirmes, sondern richtig wie im Mittelalter. Außerdem gibt es noch Ritterspiele und Schauspiele und Wettkämpfe und Führungen durch die Burg, aber ich glaube, dass die meisten Leute wegen des Jahrmarkts kommen.
Schon im Zug waren wir so rappelig, dass wir nicht stillsitzen konnten und sogar Merlo ganz aufgeregt auf der Hutablage hin- und herhüpfte. "Jetzt hört mal auf mit der Wippelei", sagte Hanna-Zebras Großvater, als es ihm zu viel wurde, "sonst lass ich euch in Greifenfels punktum einkerkern!" Hanna-Zebra lachte laut: "Aber, Großvater, die stecken doch keine Kinder ins Gefängnis!" Der Großvater drohte ihr augenzwinkernd mit dem Zeigefinger: "Na, na, sei dir da mal nicht so sicher. Früher sind die Leute anders mit Kindern umgesprungen. Mit deinem vorlauten Mundwerk hättest du sicher einen schweren Stand gehabt und häufig Bekanntschaft mit der Rute gemacht."
Au weia, das saß! Hanna-Zebra setzte sich artig neben mich auf die Bank und kullerte mit den Augen: "Hatten die Menschen im Mittelalter denn überhaupt keinen Anstand?" "Doch", der Großvater schmunzelte, "hatten sie. Aber sie lebten anders als wir. Überlegt doch mal - es gab keine Schulen, keine Zeitungen und nur wenig handgeschriebene Bücher, die aber in lateinischer Sprache. Kaum jemand aus dem einfachen Volk konnte überhaupt lesen, es gab kein Radio, kein Fernsehen, keine zuverlässige Berichterstattung! Nur Geistliche, Adlige oder sehr wohlhabende Menschen hatten Möglichkeiten, lesen und schreiben zu lernen, sich zu bilden. Den armen Leuten blieb häufig nichts anderes übrig, als das zu glauben, was man ihnen sagte. Der Glaube hatte damals eine unheimliche Macht, vor allem der Leichtglaube und der Aberglaube!"
Ich war überrascht. "Aber woher wusste man denn dann, ob jemand die Wahrheit sagte oder Lügen verbreitete?" Großvater machte ein nachdenkliches Gesicht: "Tja, Michael Green, das war gar nicht so einfach! Man musste schon eine gute Menschenkenntnis besitzen, um hier zu unterscheiden. Nicht selten war es so, dass der, der am lautesten brüllte und stärker oder mächtiger war, seine Ziele am ehesten durch setzen konnte."
Hanna-Zebra war baff: "Ich glaub's nicht!" "Doch, doch, Hanna-Zebra", antwortete der Großvater ernst, "manchmal war es wirklich ein Trauerspiel. Im Mittelalter glaubten zum Beispiel viele Menschen, ihre Seelen vor dem Fegefeuer retten zu können, wenn sie Pilgerfahrten ins Heilige Land und in die Heilig Stadt Jerusalem machen würden. Auf diesen langen und beschwerlichen Reisen nach Kleinasien sind unzählige Pilger ausgeraubt worden und verschollen oder umgekommen."
Er lehnte sich zurück und sah aus dem Fenster. "Ah, ich sehe schon den Burgturm von Greifenfels, jede Menge Fahnen! Sammle deinen Vogel ein, Michael Green, wir steigen gleich aus." Wir liefen das kurze Stück vom Bahnhof zu Fuß, durch die engen verwinkelten Gassen des Ortes, immer ein bisschen bergauf zum Kirchplatz. Großvater war schon vorher die Puste ausgegangen, aber Hanna-Zebra und mir blieb die Luft erst weg, als wir den Jahrmarkt sahen! Die ganze Hauptstraße, vom Kirchplatz den Burgberg rauf, bis in den Burghof hinein, reihte sich eine Bude an die andere, bunt geschmückt mit flatternden Fahnen und Bändern. Hunderte von Menschen schoben dazwischen durch, lachten und riefen, Kinder schrieen und Babys quietschten, dazu hörte man das Klappern von Pferdehufen, ein ständiges Gebimmel von kleinen Glöckchen, und von irgendwoher tönte eine altertümlich zirpende Musik.
"Herrje, warum tue ich mir das an?", ächzte der Großvater, als er uns eingeholt hatte, "dieser alte Mann braucht jetzt erst mal eine Pause!" Sein Blick suchte zielstrebig den Markt vor uns ab. "Ich glaube, da habe ich schon das Richtige gefunden!" Er steuerte auf eine Bude zu, an der vorne ein großes Schild mit der Aufschrift "Wirtshaus" hing. "Hier werde ich mich ausruhen", meinte er, "bei einer schönen Portion Spanferkel mit Fladenbrot und Bier. Wenn ihr möchtet, könnt ihr inzwischen über den Markt stromern - ihr wisst ja, wo ihr mich findet!"
Damit waren wir sofort einverstanden. Ich nahm Merlo auf die Schulter, und wir schlenderten los. Wie groß dieser Jahrmarkt war! Und was es alles zu sehen gab: eine Töpferwerkstatt, wo Krüge auf einer drehenden Scheibe geformt wurden, eine Sattlerei, die Ranzen, Schuhe und Sättel anbot, daneben ein richtiger Holzschuhmacher. Die Menschen in den Buden trugen altertümliche Kleidung, und manche versuchten auch, so wie früher zu sprechen. An einem Stand kauften wir uns zwei große Brezeln. Dann folgten wir den verschiedenen Geräuschen und entdeckten schließlich einen Mann, der aus Tausenden von kleinen Metallringen echte Kettenhemden herstellte. "Schusssichere Westen ...", meinte Hanna-Zebra nachdenklich, und der Mann lachte: "Ja, gegen Schwerthiebe und Speere schützten sie auch. Aber die Ringe mussten schon sehr dicht verkettet sein, um einen Pfeil aufzuhalten. Je kleiner die Ringe, desto wertvoller war das Kettenhemd." Dann zeigte er uns, wie man die einzelnen Ringe zusammenfügte.
Wir gingen weiter und kamen zum Burghof. Der reinste Hexenkessel! Gaukler, Spaßmacher und Artisten mischten sich unter die Menschenmenge, zeigten ihre Künste und neckten die Leute mit ihrem Narrenspiel. Es war entsetzlich eng, wir wurden hin- und hergeschubst und konnten zwischen den vielen Erwachsenen kaum etwas sehen. Ich bekam Angst um Merlo.
"Lass uns lieber wieder 'runtergehen", schlug ich vor, und Hanna-Zebra nickte. Wir quetschten uns bis zum Rand des Burghofs durch und wollten gerade durch ein Seitentor verschwinden, als diese zirpende Musik wieder ertönte. Neben dem Tor auf einem Mäuerchen entdeckten wir einen Mann, der ein seltsames Instrument auf seinem Schoß hielt. Mit einer Hand strich er über die Saiten und eine zarte Wolke von hellen Tönen erklang. "Sieh mal", sagte ich zu Hanna-Zebra, "eine echte Zither!" "Nicht ganz richtig", antwortete der Mann und lächelte uns an, "es ist eine echte Harfe, ein volkstümliches Instrument aus dem Mittelalter. Ich habe es selbst nach alten Plänen gebaut." Man konnte sehen, wie stolz er auf sein Werk war.
"Dann sind sie ein Instrumentenbauer?" "Oh nein", lachte der Mann, "keineswegs. Heute bin ich der Troubadour Walther von Grünefeld. Ich sing für die Menschen, wie es früher die Minnesänger taten, Lieder von Liebe und Schmerz, edlen Frauen und tapferen Kriegern, von großen Ereignissen, Kreuzzügen und Eroberungen." "Oh, bitte, singen sie etwas für uns", bettelte Hanna-Zebra und setzte sich neben ihn auf die Mauer. "Mit Vergnügen, holde Maid", antwortete Walther, und dann legte er los:
"Schwach sind die Worte und stockend die Zunge,
womit ein Gefangener sein trauriges Los beklagt;
doch zu seinem Trost mag er ein Lied beginnen.
Freunde habe ich viele, aber ihre Gaben sind gering;
Schande über sie, wenn unausgelöst ich armer Wicht
muss zwei Winter schmachten hier!
Und sie, meine Ritter von Anjou und Tourraine
wohl wissen sie, die nun behaglich zu Hause sitzen,
dass ich, ihr Herr, in Deutschland gefangen bin.
Sie sollten für meine Befreiung kämpfen,
aber ihre Schwerter stecken in den Scheiden
und rosten friedlich, während ich gefangen bin."
"Was für ein trauriges Lied", Hanna-Zebra war ganz gerührt. "Ja wirklich", stimmte Walther zu, "Richard Löwenherz hatte nichts zu lachen, als er das Lied schrieb. Man hatte ihn lange eingekerkert, unter anderem auf Burg Trifels, und seine Aussichten waren nicht die besten."
Natürlich wollten wir jetzt mehr darüber wissen. "Nun, warum nicht?" Walther legte die Harfe zur Seite, räusperte sich und begann. "Richard Löwenherz - ihr kennt ihn ja vielleicht schon aus der Robin-Hood-Geschichte - wurde 1157 in Oxford in England geboren. Seine Mutter war die Herzogin Eleonore von Aquitanien, die als gebildete, kluge und schöne Frau beschrieben wird. Sie muss auch sehr selbstbewusst und mächtig gewesen sein, denn sie heiratete zweimal, erst den französischen König Ludwig und danach Richards Vater Heinrich, der später englischer König wurde.
Schon Eleonores Vater, Wilhelm der Neunte, hatte die Künste, vor allem Dichtung und Musik, unterstützt und selbst Lieder komponiert und gesungen. Er gilt als der erste Troubadour überhaupt, und Eleonore hatte seine Neigung geerbt. Sie brachte durch ihre Heirat Musiker und Troubadoure an den englischen Hof und förderte auch hier Gesang und Dichtkunst.
Als Richard neun Jahre alt war, trennte sich seine Mutter von König Heinrich und kehrte in ihre Heimat nach Südwestfrankreich zurück. Am Hof in Aquitanien wuchs Richard nun in einer von Künstlern geprägten Gesellschaft auf. Eleonore legte großen Wert darauf, dass Richard in Gesang, Komposition und Dichtung unterrichtet wurde. Es zeigte sich, dass er ebenso wie sein Großvater und seine Mutter Talent dafür besaß und sich mit großer Freude den Künsten widmete. Er lernte berühmte Troubadoure kennen und musizierte gemeinsam mit ihnen. Allerdings brachte man dem Prinzen auch das Kriegshandwerk bei, wie es im Mittelalter für einen Mann von Adel üblich war. Er lernte kämpfen und töten, so wie er dichten und musizieren gelernt hatte. Aber Richard war heißblütiger und draufgängerischer als andere Männer und schlug sich im Kampf besonders mutig. Deshalb gab man ihm den Beinamen 'Löwenherz'.
Ja, so wuchs Richard heran - auf der einen Seite ein empfindsamer Künstler mit viel Feingefühl, auf der anderen Seite ein äußerst kämpferischer, manchmal jähzorniger und unerbittlicher Herrscher." Walther machte eine kleine, nachdenkliche Pause: "Kurz nachdem Richard die Thronfolge als König von England angetreten hatte, begann er mit den Vorbereitungen für einen großen Kreuzzug. Er wollte die christlichen Ritter im Heiligen Land gegen den mächtigen Sultan Saladin unterstützen und Jerusalem für die christliche Welt zurückzuerobern. Saladin war Muslim und galt deshalb in den Augen der Christen als Ungläubiger, der mit allen Mitteln aus den heiligen Stätten vertrieben werden musste. Was hat man den Kreuzrittern dafür nicht alles versprochen: 'êre', 'der werlte lob', 'der sele heil' und 'gotes huld'."
Wir erinnerten uns daran, was Großvater über die Gläubigkeit der Menschen im Mittelalter gesagt hatte. Walther nickte: "Ja, sie waren völlig davon überzeugt, dass sie das Richtige taten. Richard hatte fast seinen ganzen Besitz verkauft, um die Schiffsflotte, Soldaten, Pferde und die nötige Ausrüstung bezahlen zu können. Er ist auch, im Gegensatz zu manch anderem Pilger, im Heiligen Land angekommen und hat dort zusammen mit dem französischen König die Stadt Akkon zurückerobert.
Dummerweise gab es dann ein kleines Problem", Walther grinste, "Richard und der französische König hatten ihre Fahnen zum Zeichen des Sieges auf der Stadtmauer aufgepflanzt. Der Herzog von Österreich, der sich ebenfalls an der Schlacht beteiligt hatte, stellte seine Fahne frech dazu, obwohl er kein König war und auch nur mit wenigen Soldaten zum Sieg beigetragen hatte. Das war ein Skandal! Richards Soldaten rissen die Fahne herunter, woraufhin der Herzog von Österreich sich persönlich beleidigt fühlte. Der französische König hielt sich raus und machte sich auf den Heimweg. Richard aber kümmerte sich nicht um den wütenden Herzog, weil er schon in Gedanken bei der Eroberung Jerusalems war. Fast hätte er sein Ziel auch erreicht, da bekam er die Nachricht, dass sich zu Hause in England eine Verschwörung anbahnte. Sein jüngster Bruder, den man 'Johann ohne Land' nannte, wollte ihm den englischen Thron streitig machen. In der Geschichte von Robin Hood wird das ja ausführlich erzählt.
Nun, was sollte Richard tun? Jerusalem erobern konnte er nicht mehr, weil er dringend nach England zurückkehren musste. Also schloss er einen Waffenstillstand mit dem Sultan Saladin. Dann zog Richard, als einfacher Pilger verkleidet, mit nur wenigen Getreuen heimwärts. Sein Weg führte auch durch Österreich, wo er trotz Verkleidung sofort erkannt wurde. Der Herzog, der den Fahnenfrevel vor Akkon nicht vergessen hatte, sah jetzt seine Chance, Rache zu nehmen und ließ Richard auf Burg Dürnstein festsetzen."
"Moment mal", Hanna-Zebra legte die Stirne kraus, "ich denke, er war auf Burg Trifels eingesperrt?" "Ja, aber so weit sind wir noch nicht!" Walther dachte einen Moment nach: "Es gibt eine hübsche Legende, wonach Richards Freund, der Troubadour Blondel, ihn gesucht haben soll, indem er von Burg zu Burg wanderte. Vor der Burgmauer sang er dann immer die erste Strophe eines gemeinsam komponierten Liedes. Die Legende erzählt, dass Blondel Richard Löwenherz gefunden hat, als dieser mit der zweiten Strophe aus dem Kerker antwortete.
In Wirklichkeit aber wurde Richard Löwenherz vom österreichischen Herzog nach einiger Zeit an den deutschen Kaiser Heinrich den Sechsten ausgeliefert. Dieser verlangte für Richards Freilassung ein riesiges Lösegeld. In England begann man nun fieberhaft, über Steuern, Abgaben und Spenden das Lösegeld zu beschaffen. Richards Mutter Eleonore überwachte die Sammlung. Aber es dauerte lange, bis man die Summe - immerhin mit dem Wert von 34.000 Kilogramm Silber - zusammengetragen hatte. Eleonore selbst hat dann mit großem Gefolge das Lösegeld nach Deutschland gebracht und ihren Sohn damit freigekauft. Fast zwei Jahre musste Richard auf diesen Moment warten."
Walther griff wieder zu seiner Harfe. "Genug Zeit, um viele schöne Lieder und Gedichte zu schreiben." "Er ist also doch noch befreit worden?" "Ja", antwortete Walther, "er ist nach England zurückgekehrt. Dort hat man ihn mit großer Freude empfangen und ein zweites Mal gekrönt. Richard lebte und regierte noch fünf Jahre, dann ist er im Alter von 41 Jahren gestorben. Und es ist überliefert, dass er durch den Pfeil einer Armbrust an der Schulter verwundet wurde und an dieser Verletzung starb."
"Tja", sagte ich, "dann hat er wohl zu große Ringe im Kettenhemd gehabt?" Hanna-Zebra nickte: "Wieder mal am falschen Ende gespart!" Walther sah uns verdutzt an: "So viel ich weiß, hat er sein Kettenhemd überhaupt nicht getragen. Er wurde wahrscheinlich nur durch einen Schildträger gedeckt. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht. "Dann verabschiedete er sich: "Adieu, Kinder, mich ruft nun die Pflicht - das Turnier beginnt gleich, und ich muss die Helden mit Huldigungen begrüßen!" Er nahm seine Harfe, winkte uns noch kurz zu und verschwand dann in der Menschenmenge.
Auf der Rückfahrt erzählten wir Großvater von der Begegnung mit dem Troubadour, von Richard Löwenherz und den Kreuzzügen. "Ach ja, Kreuzzüge", sagte Großvater nachdenklich, "das waren abenteuerliche Reisen, welche die Menschen im Mittelalter wagten. Da kann unser kleiner Ausflug leider nicht mithalten." Wir müssen wohl ziemlich verdattert geguckt haben, denn er meinte: "Es sei denn, wir setzen noch einen drauf." Großvater lächelte uns an: "Wenn ich an die Eisdiele vor dem Bahnhof denke, dann fällt mir ein, dass die Kreuzzügler etwas ganz Besonderes aus dem Osten mitbrachten, nämlich den Zucker! Und gegen ein leckeres Eis werdet ihr beiden Naschkatzen doch nichts einzuwenden haben - oder?" Damit hatte er natürlich recht.