Anne Frank
Wenn du vorhast, ein Tagebuch zu schreiben, musst du mit einer Sache sehr genau sein und als erstes ein gutes Versteck für dein Tagebuch finden. Geschwister und Mütter haben nämlich überhaupt gar keinen Respekt vor deinem Privatleben und würden es vollauf genießen, dein Buch zu finden und es zu lesen. Stell dir vor, dein frecher, kleiner Bruder findet dein Tagebuch und dort steht : "Ich bin wahnsinnig in Robert verliebt". - Auweia! Ich habe vor einigen Tagen auch mit einem Tagebuch angefangen. Ich denke dabei oft an Anne Franks Tagebuch, das sie "Kitty" nannte.
20 Tage bevor sie und ihre Familie aus ihrem Versteck von den Nazis ins Konzentrationslager abtransportiert wurden, schrieb sie in ihr Tagebuch: "Es ist ein Wunder, dass ich all meine Hoffnungen noch nicht aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unerfüllbar. Doch ich halte daran fest, trotz allem, weil ich noch stets an das Gute im Menschen glaube." Hier kommt die traurige Geschichte von Anne Frank und ihrem Tagebuch.
Anne Frank
Anne Frank ist in Deutschland geboren, am 12. Juni 1929 in Frankfurt am Main. Sie war ein fröhliches Mädchen, das in einer glücklichen Familie aufwuchs. Ihre Eltern, Edith und Otto Frank, hatten ein Haus mit Garten gemietet, damit Anne und ihre drei Jahre ältere Schwester Margot gesund aufwachsen konnten. In der Nachbarschaft wohnten viele andere Kinder, mit denen sie spielen konnten. Auch für eine gute Erziehung wollten die Eltern sorgen. Sie hatten viele Bücher, denn Lesen und Lernen fanden sie sehr wichtig. Eigentlich hätte alles so schön sein können! Aber die Franks waren eine jüdische Familie, eine religiöse Minderheit. In ihrem Glauben unterschieden sie sich von den vielen Deutschen, die eine andere Religion hatten.
Sind Juden andere Menschen?
Natürlich nicht! Der Glaube eines Menschen sagt vielleicht etwas über seine Geschichte aus, aber nichts über seinen Charakter oder gar seinen Wert. In jeder Religionsgemeinschaft gibt es gute und schlechte Menschen, egal ob sie nun Juden, Christen, Muslims, Buddhisten, Hinduisten oder Atheisten sind. Als liberale Juden waren die Franks der Tradition ihrer Religion verbunden, aber nicht streng gläubig. Sie lebten schon seit vielen Generationen in Frankfurt. Sie waren Deutsche und fühlten sich als Deutsche. Deutschland war ihre Heimat. Trotzdem war die Familie gezwungen aus ihrer Heimat zu fliehen und Deutschland zu verlassen, als Anne vier Jahre alt war.
Warum flüchtete die Familie Frank?
Zu Beginn der zwanziger Jahre verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation in Deutschland. Arbeitslosigkeit und Armut breiteten sich aus. Die Menschen waren unzufrieden und hilflos. Sie beneideten andere, denen es besser ging. Weil sie ihre Lage selbst nicht ändern konnten, sehnten sie sich nach jemand, der ihre Probleme für sie löst. Für viele waren das die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, die NSDAP, "Nazis" genannt, und deren Vorsitzender Adolf Hitler. Er versprach den Menschen Arbeit und Wohlstand. Das hörten sie gerne. Und sie glaubten ihm auch, wenn er sagte, dass die "echten Deutschen" bessere Menschen seien als andere. Dass sie das Recht hätten, andere Völker zu versklaven und zu beherrschen. Und dass die Juden alle Schuld an der schlechten Wirtschaftslage hätten.
Adolf Hitler machte die jüdischen Menschen zum Sündenbock. Und sehr viele Menschen glaubten ihm, denn es ist ja so bequem, die Schuld für alle Missstände auf andere abzuwälzen. 1933 wählte die Mehrheit der Deutschen Hitler zum Reichskanzler. Damit war der Weg für die Nazis frei. Sie schafften die Demokratie ab und verboten andere Parteien. Sie verhafteten ihre Kritiker und alle Menschen, die ihnen im Wege standen. Und sie begannen mit der grausamen Verfolgung und Vertreibung aller deutschen Juden.
Anne Franks Eltern hatten die Entwicklung mit Sorge beobachtet. Weil sie ihre Familie retten wollten, zogen sie 1934 um, nach Amsterdam in die Niederlande. Dort, das hofften sie, würden sie vor den Nazis sicher sein. Und tatsächlich fand die Familie hier zunächst eine neue Heimat. Anne besuchte den Kindergarten, später ging sie zur Montessorischule. Sie fand neue Freunde und lebte sich gut ein. Die Ferien an der See waren besonders schön. Annes Vater machte viele Fotos, vor allem von seinen Kindern, und man konnte sehen, dass sie sich wohl fühlten.
1940 überfielen deutsche Truppen die Niederlande. Sie bombardierten Rotterdam. Es gab viele Tote und Verletzte. Als die Deutschen mit weiteren Bomben drohten, ergaben sich die Niederlande. Nun begann auch hier die Verfolgung jüdischer Menschen. Wieder mussten sich Annes Eltern große Sorgen machen. Ende 1940 verlegte Otto Frank seine Firma in ein großes Haus an der Prinzengracht. Er gab ihr zur Tarnung einen anderen Namen, damit nichts mehr darauf hinwies, dass sie einer jüdischen Familie gehörte.
Das Tagebuch
Anne war inzwischen dreizehn Jahre alt geworden. Zu ihrem Geburtstag hatte sie von ihren Eltern ein Tagebuch geschenkt bekommen. Es hatte einen rot-weiß karierten Einband und ein richtiges, kleines Schloss. Anne war sehr glücklich über das Geschenk. Das Tagebuch wurde für sie zu einer echten Freundin. Sie gab ihm sogar einen Namen: "Kitty". Und sie schrieb auch gleich etwas hinein: "Ich werde, hoffe ich, Dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, Du wirst mir eine große Stütze sein". (Anne Frank, 12. Juni 1942).
Mit großem Eifer führte sie nun ihr Tagebuch, klebte Fotos von sich und ihrer Familie und Postkarten hinein. Wenn sie etwas ergänzen wollte, schrieb sie es auf kleine Zettel und klebte sie dazu. Alles konnte sie ihrem Tagebuch anvertrauen, ihre Sehnsüchte und Hoffnungen ebenso wie Wut oder Traurigkeit. Es hörte ihr immer zu, nahm ihre Sorgen und Ängste auf und bewahrte die kostbarsten Geheimnisse für sie. "Kitty" gab ihr Kraft und half ihr, viele trübe Tage zu überstehen.
Obwohl die Franks immer versucht hatten, die schlimmen Ereignisse der Nazizeit von ihren Kindern fern zu halten, hatten diese natürlich die Bedrohlichkeit ihrer Situation bemerkt, und auch, wie schwer die Sorgen auf ihren Eltern lasteten. Selbstverständlich hätte Anne auch mit ihren Eltern oder ihren Freundinnen über alles sprechen können, was sie bewegte. Aber sie hatte ein feines Gespür dafür, wann Zurückhaltung und Verschwiegenheit angebracht waren. Und daher ist es verständlich, dass Anne sich lieber ihrem Tagebuch anvertraute als irgendeinem Menschen.
Anne schrieb über ihr Leben:
"...unsere Freiheit wurde sehr beschränkt. Juden müssen einen Judenstern tragen; Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nicht mit der Straßenbahn fahren; Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren, auch nicht mit einem privaten; Juden dürfen nur von 3 - 5 Uhr einkaufen; Juden dürfen nur zu einem jüdischen Friseur; Juden dürfen von 8 Uhr abends bis 6 Uhr morgens nicht auf die Straße..."
Die Lage wurde immer gefährlicher. Die Nazis verkündeten, dass sie alle Juden in Arbeitslager nach Deutschland bringen wollten. Die Franks konnten unmöglich länger in ihrem Wohnhaus bleiben. Insgeheim hatte Otto Frank im Hinterhaus an der Prinzengracht ein Versteck für die Familie vorbereitet, das nur wenige eingeweihte Freunde kannten. Dort tauchten die Franks am 6. Juli 1942 unter. Sie teilten ihr Versteck mit vier jüdischen Freunden.
Anne beschreibt die Flucht in ihrem Tagebuch: "Wir zogen uns alle so dick an, als müssten wir in einem Eisschrank übernachten, und das nur, um noch ein paar Kleidungsstücke mehr mitzunehmen. Kein Jude in unserer Lage hätte gewagt, mit einem Koffer voller Kleider aus dem Haus zu gehen. Ich hatte zwei Hemden, drei Hosen, zwei paar Strümpfe und ein Kleid an, darüber Rock, Mantel, Sommermantel, feste Schuhe, Mütze, Schal und noch viel mehr. Ich erstickte zu Hause schon fast, aber danach fragte niemand. Weg wollten wir, nur weg und sicher ankommen, sonst nichts."
Im Versteck
Zwei Jahre lang waren sie im Hinterhaus eingeschlossen, immer in der Angst vor Entdeckung. Tagsüber mussten sie ganz leise sein, damit man sie im Vorderhaus nicht hörte. Und sie mussten sich entsetzlich einschränken, denn alles, was sie zum Leben brauchten, konnte nur heimlich durch gute Freunde ins Hinterhaus geschmuggelt werden. Das wurde durch den Krieg und die Not der Menschen immer schwieriger. Anne schrieb: "Es beklemmt mich doch mehr, als ich sagen kann, dass wir niemals hinaus dürfen, und ich habe große Angst, dass wir entdeckt und dann erschossen werden."
Weil sie ja schon lange nicht mehr zur Schule gehen konnten, unterrichtete Otto Frank die Kinder. Anne hatte großen Spaß am Schreiben, und ihr Lieblingsfach war Geschichte. Im Radio hörte sie, wie ein niederländischer Minister sagte, dass nach dem Krieg Tagebücher und Briefe aus der Kriegszeit gesammelt werden sollten. Der Gedanke fesselte sie: "...werde ich jemals Journalistin und Schriftstellerin werden? Ich hoffe es, ich hoffe es so sehr! Mit Schreiben kann ich alles ausdrücken, meine Gedanken, meine Ideale und meine Phantasien."
Sie bemühte sich nun, so viel wie möglich aus ihrem Leben im Tagebuch festzuhalten, denn einmal aufgeschrieben, das wusste sie, würde nichts davon verloren gehen. In der langweiligen Einsamkeit des Verstecks war "Kitty" eine treue und geduldige Zuhörerin, der sie alles anvertrauen konnte - ihre Gefühle und Träume, ihre Beobachtungen und Erinnerungen, einfach alles. Sorgfältig und mit viel Liebe beschreibt sie fast jeden Tag ihres heimlichen Lebens. 1944 waren sie bereits anderthalb Jahre im Versteck, und Anne, die inzwischen 14 Jahre alt und schon ziemlich erwachsen war, verliebte sich zum ersten Mal: "Mir wurde ganz seltsam zumute, als ich seine dunkelblauen Augen schaute..."
Tod und Wiedersehen
Als am 6. Juni 1944 im Radio die Nachricht kommt, dass amerikanische Truppen in der Normandie gelandet sind, jubelt Anne in ihrem Tagebuch: "Sollte denn nun wirklich die lang ersehnte Befreiung nahen, die Befreiung, über die so viel gesprochen wurde, die aber zu schön, zu märchenhaft ist, um je wirklich werden zu können?"
Doch am 4. August 1944 werden alle ihre Hoffnungen zunichte gemacht. Sie sind verraten worden! Die Menschen im Hinterhaus werden von den Deutschen verhaftet. Anne muss ihre "Kitty" zurücklassen. Sie werden zunächst in das Lager Westerbork, dann mit dem Zug in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau gebracht. Die Familie Frank wird getrennt, Anne und Margot kommen in das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Dort sterben sie im März 1945.
Otto Frank überlebte als einziger das Konzentrationslager und den Krieg. Als er endlich nach Amsterdam zurückkehrt, nehmen ihn die Freunde auf, die so lange Zeit seine Familie im Hinterhaus versorgt hatten. In der Hoffnung auf eine glücklichere Rückkehr haben sie für ihn kostbare Erinnerungsstücke aufbewahrt: die Fotoalben der Familie und das Tagebuch der Anne Frank. Hierin findet Annes Vater Trost und auch eine Aufgabe, denn er veröffentlicht das Tagebuch. So wird Annes innigster Wunsch, eine Schriftstellerin zu sein, Wirklichkeit - lange nachdem sie ihn ihrer "Kitty" anvertraut hatte.
Das Tagebuch der Anne Frank ist inzwischen weltberühmt geworden. Es wurde in fünfundfünfzig Sprachen übersetzt, mehr als zwanzig Millionen mal verkauft und ist damit das erfolgreichste Buch zum Nationalsozialismus.