Hänsel und Gretel

Hänsel und Gretel

Es war einmal ein armer Holzhauer, der lebte mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in einer dürftigen Waldhütte. Die Kinder hießen Hänsel und Gretel. Wie sie so heranwuchsen, mangelte es ihnen mehr und mehr an Brot, denn die Zeiten waren schlecht und Nahrung wurde immer teurer. Das machte den beiden Eltern große Sorge.

Eines Abends, als sie ihr hartes Lager aufgesucht hatten, seufzte der Mann: "Ach Frau, wie wollen wir nur die Kinder durchbringen. Der Winter kommt heran, und wir haben nicht einmal für uns selbst genug zu essen!" Da erwiderte die Mutter: "Ich weiß keinen anderen Rat, als die Kinder in den Wald zu führen. Gib jedem noch ein Stücklein Brot. Zünde ihnen ein Feuer an und befiehl sie dem lieben Gott. Dann musst du die Kinder alleine lassen." "Nein", rief der Mann, "das kann ich nicht tun!" Da fuhr die Frau ihn böse an: "Oh, du Narr! Wir werden alle am Hunger sterben, wenn du es nicht tust. Gleich morgen kannst du die Bretter für unsere Särge hobeln." Die beiden Kinder waren noch vor Hunger wach. Sie hörten, was Mutter und Vater miteinander sprachen.

Gretel fing an zu weinen, aber Hänsel tröstete sie und sprach: "Weine nicht, ich werde uns schon helfen." Er wartete, bis die Alten schliefen. Dann schlich er aus der Hütte und suchte weiße Kieselsteinchen, die im Mondlicht leuchteten. Die Steinchen steckte er in seine Taschen und schlich wieder ins Haus zurück.

§27

Alle Kinder haben das Recht, versorgt zu werden!
Kinder großzuziehen, braucht viel Liebe. Diese Liebe ist nicht mit Geld aufzuwiegen. Aber die Ernährung, Kleidung und Ausbildung von Kindern kostet Geld. Manche Eltern verdienen nicht genug Geld, um ihre Kinder aus eigener Kraft zu versorgen. In diesem Fall muss der Staat helfen. In den Zeiten von Hänsel und Gretel war das noch anders. Da gab es keine Sozialämter.

Am nächsten Morgen geschah alles so, wie die Eltern es besprochen hatten. Der Vater reichte jedem Kind ein Stücklein Brot und ging mit der Axt in der Hand voran. Auch die Mutter folgte ihm mit einem Wasserkrug, denn die Kinder sollten sich in Sicherheit wiegen. Dann kamen die beiden Kinder, wobei sich Hänsel ein Stück weit hinter den anderen hielt. Dort ließ er immer wieder ein weißes Steinchen unbemerkt zu Boden fallen. Und er schaute sich oft nach Bäumen um, die er leicht erkennen konnte.

Als sie dann tief im Wald angelangt waren, schickte der Vater die Kinder zum Reisig holen und machte ein kleines Feuerchen. Dann sagte die Mutter zu den Kindern: "Ihr seid wohl müde von dem langen Marsch. Legt euch an das Feuer und schlaft ein wenig. Vater wird jetzt das Holz fällen und ich helfe ihm beim Bündeln. Wenn die Arbeit getan ist, kommen wir zurück und nehmen euch wieder mit heim."

Die Kinder schliefen nun ein wenig. Als sie erwachten, war das Feuer bereits niedergebrannt, und sie spürten den Hunger im Magen. Da verzehrten sie erst einmal ihr Stücklein Brot. Wer aber nicht kam, das waren die Eltern.

Hänsel und Gretel schliefen wieder ein, und es wurde dunkel. Die Eltern waren noch immer nicht gekommen, und Gretel fing sich an zu fürchten. Hänsel aber tröstete sie, und sagte: "Fürchte dich nicht, Schwesterlein, der liebe Gott ist ja bei uns. Und schon bald geht der Mond über uns auf, dann gehen wir heim."

Und wirklich erschien der Mond in voller Pracht, sodass die Kinder jeden Baum im Wald erkennen konnten. Schon bald fanden sie auch die ersten Kieselsteine, die silbrig glänzend am Wege lagen. Hänsel fasste Gretel bei der Hand, und sie machten sich ohne Furcht und mit frohem Mut auf den Weg nach Hause. Als der frühe Morgen graute, sahen sie endlich das Elternhaus durch die Büsche schimmern. Sie liefen geschwind zur Tür und klopften. Die Mutter öffnete und erschrak sich fürchterlich, als sie ihre Kinder sah. Im ersten Moment wusste sie gar nicht, ob sie nun fluchen oder sich freuen sollte, doch der Vater begrüßte die beiden mit einem Lächeln. So wurden Hänsel und Gretel in Gnaden wieder aufgenommen.

Es dauerte aber gar nicht lange, da schlichen der Hunger und die Sorgen wieder durch das Haus. Und wieder kamen die Eltern zu dem Schluss, dass es besser sei, die Kinder in den Wald zu bringen. Die Kinder hörten es heimlich, und es brach ihnen fast das Herz. Da machte sich der kluge Hänsel wieder vom seinem Lager auf, um blanke Steine zu suchen. Doch dieses Mal war die Türe des Hauses fest verschlossen. Die Mutter hatte sie zugesperrt und den Schlüssel unter ihr Kopfkissen geschoben. Hänsel schlich zurück in sein Bettchen und tröstete abermals das weinende Schwesterlein. Leise sagte er: "Weine nicht, Gretel, der liebe Gott ist bei uns. Er wird uns schon den rechten Weg weisen."

Am anderen Morgen mussten alle miteinander aufstehen, sollte es doch wieder in den Wald gehen. Die Kinder bekamen noch ein Stücklein Brot, aber kleiner als beim letzten Mal. Hänsel zerbröselte sein Brot heimlich in der Tasche, um es statt der weißen Steine auf den Weg zu streuen. Der Weg führte noch tiefer in den Wald hinein, doch Hänsel glaubte die Brotkrumen finden zu können.

Nun geschah alles, wie Hänsel und Gretel es schon kannten. Ein Feuer wurde entzündet, und die Kinder legten sich zum Schlafen. Als sie dann erwachten, waren sie allein. Und weil Hänsel sein Brot auf dem Weg ausgestreut hatte, musste Gretel ihr kleines Stückchen mit dem Bruder teilen. Dann schliefen sie wieder ein und erwachten erst spät am Abend. Von den Eltern war weit und breit keine Spur zu sehen. Gretel fing an zu weinen, aber Hänsel glaubte fest daran, den Weg wohl finden zu können. Er wartete, bis der Mond aufgegangen war, nahm Gretel bei der Hand und sprach: "Komm, Schwester, wir gehen heim."

Doch als Hänsel die Brotkrumen suchte, waren sie nicht mehr vorhanden. Die Waldvögel hatten alles aufgepickt, und es sich wohl schmecken lassen. Da wanderten die Kinder die ganze Nacht im Wald umher, und wussten nicht mehr ein noch aus. Erschöpft schliefen sie am Fuße eines alten Baumes ein und erwachten erst im Morgengrauen. Ihren Durst und ihren Hunger konnten sie nur mit kleinen Waldbeeren stillen, die da und dort standen.

Wie sie so durch den Wald irrten, kam plötzlich ein schneeweißes Vöglein geflattert. Es flog immer vor ihnen her und sang so schön, als wenn es den Kindern den Weg zeigen wollte. Das weckte Hoffnung bei den Kindern und sie gingen dem Vöglein nach.

Mit einem Male sahen sie ein kleines Häuschen, und das Vöglein setzte sich oben auf das Dach. Die Kinder liefen ganz nahe heran und trauten ihren Augen nicht. Das Häuschen war von oben bis unten aus Brot gemacht. Das Dach war mit allerlei Kuchen gedeckt, und die Zuckerfenster schimmerten so schön wie Glas. Hungrig aßen Hänsel und Gretel vom Kuchendach und von einer zerbrochenen Fensterscheibe, da hörten sie plötzlich eine Stimme:

"Knusper knusper, knäußchen!
Wer knuspert da am Häuschen?"

Die Kinder antworteten überrascht:

"Der Wind, der Wind,
das himmlische Kind!"

Dann aßen sie schnell weiter, denn es schmeckte ihnen so gut wie noch nie. Plötzlich ging die Tür auf, und ein steinaltes, krummbeiniges Mütterlein trat heraus. Ihr Gesicht war voller Runzeln, aber ihre schmalen Augen blitzten grasgrün. Die Kinder erschraken nicht wenig, doch die Alte tat ganz freundlich und sagte: "Ei, ihr Kindlein, kommt doch herein in mein Häuschen. Ich habe noch viel besseren Kuchen!"

Die Kinder folgten der Alten gerne. Drinnen gab es Biskuit und Marzipan, Zucker und Milch, Äpfel und Nüsse, und gar köstlichen Kuchen. Während die Kinder noch fröhlich aßen, richtete die Alte zwei Bettchen mit feinen Daunenkissen und weichen Laken her. Dann brachte sie die Kinder zu Bett. Hänsel und Gretel meinten im Himmel zu sein, beteten einen frommen Abendsegen und schliefen ein.

Die Alte war aber eine böse Hexe, die besonders gerne Kinder fraß. Sie liebte es, wenn diese gut genährt waren, darum fütterte sie die Kinder solange, bis sie fett waren.

Das wollte sie auch mit Hänsel und Gretel machen. Schon früh am Morgen stand die Alte vor den Bettchen der schlafenden Kinder und freute sich über den guten Fang. Mit einem Ruck riss sie Hänsel aus dem Bettchen, stieß ihn in einen kleinen Stall und sperrte diesen zu. Jetzt packte sie auch die arme Gretel und schrie mit rauer Stimme: "Mach schon, du Faulenzerin! Dein Bruder steckt jetzt im Stall. Wir müssen ein gutes Essen kochen, damit er fett wird und einen guten Braten für mich abgibt!" Gretel erschreckte sich fast zu Tode. Sie wehrte sich und schrie, aber am Ende musste sie gehorchen.

Es vergingen viele Tage und die Alte schlich immer öfters zum Stall. Jedes Mal sagte sie: "Los Hänsel, streck einen Finger heraus. Ich will fühlen, ob du fett genug bist." Die Alte hatte nämlich trübe Augen und konnte nicht mehr alles sehen. Hänsel streckte ihr immer nur ein altes Knöchelchen heraus. Die Alte glaubte, es wäre der Finger von Hänsel, und sie wunderte sich nur, dass der Finger gar nicht fetter werden wollte. Nach vier Wochen war die Geduld der Alten aber am Ende. Zornig sprach sie zu Gretel: "Hänsel mag fett oder mager sein, das ist mir egal. Morgen werde ich ihn schlachten und kochen."

Früh am Morgen musste Gretel aufstehen, einen Kessel mit Wasser aufhängen und Feuer anzünden. "Erst wollen wir aber backen", sprach die Alte." Ich habe den Ofen schon eingeheizt und Teig geknetet." Sie stieß die arme Gretel hinaus zum Backofen, wo das Feuer schon loderte. "Kriech hinein", befahl die Alte, "und schau, ob wir das Brot hineinschieben können." Gretel merkte, dass die böse Hexe etwas im Schilde führte, und sprach: "Ich weiß nicht, wie ich es machen soll. Wie komme ich denn da hinein?" "Dumme Gans!", rief die Hexe. "Die Öffnung ist doch wohl groß genug. Schau her!" Die Hexe krabbelte heran und steckte den Kopf in den Backofen. Da gab Gretel ihr einen festen Stoß und machte geschwind die große Klappe zu. Nun war es um die böse Hexe geschehen, und sie musste selber im Ofen schmoren.

Gretel lief schnurstracks zu Hänsel, öffnete den Stall und rief: "Hänsel, wir sind erlöst! Die böse Hexe ist tot." Die beiden Kinder umarmten sich mit Freudentränen. Und weil sie nichts mehr fürchten mussten, gingen sie auch in das Haus der Hexe. Überall standen Kästen mit Perlen und Edelsteinen herum. "Die sind noch besser als Kieselsteine", sagte Hänsel und steckte sich zwei volle Hände in seine Taschen. Gretel sagte: "Ich will auch etwas mit nach Hause bringen", und tat sich zwei Hände voll in ihre Schürze. "Jetzt wollen wir aber endlich fortgehen", sprach Hänsel.

Sie liefen viele Stunden lang und kamen an ein großes Wasser. "Hier ist keine Brücke und keinen Steg", rief Hänsel, "hier geht es nicht weiter. " Doch da erschien ein großer Schwan und Gretel rief:

"Oh schöner Schwan, sei unser Kahn!"

Der Schwan kam auch heran, und Hänsel setzte sich auf seinen Rücken. Dann bat er sein Schwesterchen, sich zu ihm zu setzen. "Nein", sprach Gretel, "zusammen kann der Schwan uns nicht tragen. Er kann uns nacheinander hinüberbringen." Und so geschah es auch.

Als sie glücklich drüben waren und eine gute Strecke hinter sich hatten, kam ihnen der Wald immer bekannter vor. Und endlich erblickten sie das Elternhaus. Sie fingen an zu laufen, stürzten in die Stube hinein und fielen dem Vater um den Hals. Der Mann hatte keine frohe Stunde gehabt, und auch die Mutter war ihm gestorben. Da schütteten Hänsel und Gretel die Taschen und das Schürzchen aus, worauf Perlen und Edelsteine lustig durch die Stube sprangen. Jetzt gab es keinen Hunger und keine Sorgen mehr, und sie lebten glücklich beisammen.