Louis Braille
Schon wieder eine neue Geheimschrift? - Nein, das ist die Punktschrift, mit der Blinde und Sehbehinderte lesen.
Wenn du dir die Tabelle anschaust, begreifst sofort, um was es hier geht: Es gibt immer nur 6 Punkte. Die weißen sind Hilfspunkte, die stellt man sich nur vor. Aber die schwarzen werden ertastet. Clevere Idee - was? Kannst du dir vorstellen, dass diese Schrift von einem Kind erfunden wurde?
Die Geschichte von Louis Braille
Louis Braille wurde vor nunmehr fast 200 Jahren - im Jahr 1809 - in Coupvray, einer kleinen Stadt nicht weit von Paris, geboren. Louis hatte drei ältere Geschwister. Mit ihnen spielte er die meiste Zeit im Haus und auf der Straße. Oft halfen die Älteren ihrem Vater in der Werkstatt, der als Sattler Pferdegeschirre und andere Lederarbeiten anfertigte, und nahmen den kleinen Louis dorthin mit.
Louis verletzt sich am Auge und erblindet
Louis war gern in der Werkstatt. Hier war immer etwas los, Leute kamen und gingen, lieferten zerschlissene Sattel zum Reparieren, bestellten neue oder brachten ihre Pferde zum Maßnehmen vorbei. So sehr dem kleinen Louis, der ein recht aufgeweckter Junge war, der Trubel gefiel, am meisten interessierten ihn doch die Werkzeuge, mit denen sein Vater und seine Geschwister arbeiteten. Er wusste, dass die Werkzeuge gefährlich waren, denn auch sein Vater hatte sich schon mehrere Male an der Hand oder am Finger verletzt. Eigentlich war Louis immer sehr vorsichtig, wenn er damit spielte, aber eines Tages geschieht dann doch ein Unglück. Der dreijährige Louis verletzt sich mit einer Ahle am Auge. Zuerst glauben alle, die Verletzung sei nicht gravierend, aber nach kurzer Zeit infiziert sich das Auge. Nach wenigen Tagen war seine Sehkraft verloren und die Infektion hatte auch das zweite, unversehrte Auge ergriffen, das ebenfalls völlig erblindete. Die erste Zeit, als Louis und seine Familie sich damit abfinden mussten, dass er nun nicht mehr sehen konnte, war sehr hart. Doch Louis und seine Eltern wollten nicht aufgeben. Sie wandten sich an den Pfarrer und den Lehrer ihrer Gemeinde. Die beiden hatten Verständnis und erlaubten dem kleinen Louis als es so weit war, zusammen mit seinen sehenden Altersgenossen die Schule zu besuchen. Hier, in der Schule von Coupvray, konnte er natürlich nur das lernen, was er hörte, und weil er auch nicht schreiben konnte, musste er sich alles gut merken. Die meisten hatten erwartet, dass Louis eine Menge Probleme in der Schule haben würde, aber es kam ganz anders: Bald war der blinde Louis der Beste seiner Klasse!
Louis besucht das Blindeninstitut in Paris
Doch Louis wollte mehr. Er wollte etwas lernen, was ihm in der Schule von Coupvray für immer verschlossen bleiben würde, er wollte lesen lernen. Aber wie und mit welchen Büchern? Gibt es überhaupt Bücher für Blinde, fragten sich seine Eltern. Dann hörte sein Vater von einer Schule in Paris, die vor wenigen Jahrzehnten speziell für Blinde erbaut worden war, und schickte den erst zehnjährigen Louis dorthin. Valentin Haüy, der Gründer des Instituts, war ein fortschrittlicher Mann. Er wusste, wie wichtig es auch für Blinde war, lesen zu können. So entwickelte er als erster eine Art Blindenschrift und ließ mehrere Bücher in dieser Schrift herstellen. Diese erste Blindenschrift bestand aus Buchstaben, die mit Kupferdraht in die entsprechende Form gebogen und auf das Papier aufgebracht waren. Sie hoben sich gut von dem Papier ab. Beim Lesen mussten die Schüler jeden Buchstaben einzeln ertasten, Buchstabe für Buchstabe zu einem Wort zusammensetzen, bis die einzelnen Wörter einen Satz ergaben. Leider waren die Bücher sehr unhandlich und schwer. Das lag vor allem an den großen Buchstaben. Dennoch hatte Louis die Schrift schnell erlernt und nach und nach alle vierzehn Bücher, die es in der Schule in dieser Schrift gab, gelesen. Louis erkannte, dass selbst für Geübte das Lesen auf diese Weise sehr mühsam war. Und es war vor allen Dingen sehr teuer, solche Bücher für Blinde herzustellen. Mit dieser Technik, so viel war ihm schnell klar, konnten nur sehr wenige Blinde lesen lernen und hatten auch kaum Bücher zur Verfügung. Er wünschte sich daher eine Blindenschrift, bei der man die Buchstaben viel, viel schneller ertasten könnte, am besten ebenso so schnell wie ein Sehender. Doch bis dahin war es noch weit.
Louis entdeckt die Musik und wird Organist
Das Leben an der Blindenschule genauso war hart und streng wie an jeder anderen Schule. Wer sich schlecht benahm, wurde geschlagen oder eingesperrt. Am Blindeninstitut von Paris versuchte man vor allem, den Kindern praktische Fähigkeiten zu vermitteln, die ihnen helfen sollten, später einmal selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wie z.B. Flechtarbeiten für Stühle anfertigen. Das war auch gut so. Für viele Blinde war eine solche Tätigkeit sehr sinnvoll, denn damals blieb vielen Blinde und stark Sehbehinderten nichts anderes übrig als zu betteln, es sei denn, sie hatten handwerkliches Geschick und konnten trotz ihrer Behinderung arbeiten. Während seiner Schulzeit in Paris hatte Louis die Gelegenheit, sich mit der Musik zu beschäftigen. Er liebte die Musik sehr und lernte, Cello und Orgel zu spielen - dabei konnte er die Noten gar nicht lesen und spielte nur nach Gehör! Bereits nach kurzer Zeit war ein so hervorragender Organist, dass er in den Kirchen von ganz Paris spielen durfte. Louis wurde also Organist und verdiente damit so viel Geld, dass er eigentlich gut davon leben konnte. Doch noch immer wünschte er sich, er könnte lesen und schreiben wie ein Sehender. Von seiner Liebe zur Musik und seiner Arbeit als Organist hatte er gelernt, dass er nur Geduld brauchte und auf die richtige Gelegenheit hoffen musste...
Louis erfährt von dem Code der französischen Armee
Eines Tages im Jahr 1821 war es dann so weit. Charles Barbier, ein Soldat der französischen Armee, besuchte die Blindenschule von Paris, um dort seine Erfindung vorzustellen. Es war eine Schrift, die ursprünglich für Soldaten entwickelt worden war. Die Soldaten sollten mit dieser Schrift nachts, d.h. auch in völliger Dunkelheit und ohne Kerzenlicht, Nachrichten lesen können. Eine solche Schrift musste also auch für Blinde geeignet sein, dachte Barbier, und davon war man auch am Pariser Blindeninstitut überzeugt. Barbiers Schrift beruhte auf einem System von zwölf Punkten und Gedankenstrichen, sich vom glatten Papier abhoben. Durch verschiedene Kombinationen ließen sich alle Buchstaben des Alphabets gut darstellen, man musste die Symbole nur sorgfältig ertasten und in Laute übersetzen. Louis erkannte sofort die Vorteile dieses Codes. Aber auch diese Schrift war der Schrift der Sehenden nicht ebenbürtig, weil sie noch immer zu viel Platz brauchte. Eine Seite enthielt nämlich nur einen oder höchstens zwei Sätze. Louis erkannte aber, dass Barbier mit diesem Code einen großen Fortschritt erzielt hatte. Jetzt ging es nur mehr darum, das System zu verbessern. Er nahm sich vor, in den Ferien zu Hause daran zu arbeiten.
Louis erfindet die moderne Blindenschrift
Und wirklich, bei seinem nächsten Besuch war es dann so weit. Louis hatte schon viel über den Armee-Code nachgedacht und hatte bereits eine Idee, wie er diesen Code entscheidend vereinfachen und damit für alle Blinden leicht lesbar machen könnte. Louis wollte eine Schrift, die mit möglichst einfachen Symbolen auskam; deshalb, so dachte er, sollten nur Punkte und keine weiteren Zeichen wie z.B. der Gedankenstrich verwendet werden. Eines Tages, er saß gerade bei seinem Vater in der Werkstatt, hatte er die entscheidende Idee! Zwölf Jahre nach seinem Unfall nahm er wieder eine Ahle in die Hand und drückte sechs Punkte - wie auf einem Würfel angeordnet - in einen festen Karton. Diese sechs Punkte, so hoffte er, sollten ausreichen, um die benötigten Kombinationen für alle Buchstaben des Alphabets herzustellen. Nachdem Louis die einzelnen Punkt-Kombinationen für die Buchstaben des Alphabets festgelegt hatte, stach er einen ganzen Satz in seiner Blindenschrift. Dieses einfache und ebenso geniale System funktionierte perfekt! Mit dieser Schrift konnten Blinde nicht nur sehr schnell lesen, sondern - und das ist genauso wichtig - auch selbst schreiben! In den späten 20er Jahren erarbeitete Louis noch spezielle Blinden-Codes für die Mathematik und Musik. Bereits im Jahr 1827 wurde das erste Buch in Braille-Schrift veröffentlicht.
Louis´ Erfindung erobert die Welt
Einige Jahre später - Louis hatte längst die Blindenschule abgeschlossen - wurde er selbst Lehrer am Pariser Blindeninstitut. Die Schüler achteten und bewunderten ihn sehr; seine Erfindung, die Blindenschrift nach dem 6-Punkt-System, konnte sich aber nicht so rasch, wie er es sich gewünscht hätte, durchsetzen. Louis begann zu kränkeln und starb mit nur 43 Jahren an Tuberkulose. Fast sah es so aus, als würde auch die neue Blindenschrift mit seinem Tod in Vergessenheit geraten. Glücklicherweise kam es anders. Im Jahr 1868 gründete Dr. Thomas Armitage, ein britischer Arzt und engagierter Förderer der Blindenausbildung in England, eine Gesellschaft zur Förderung der Blindenschrift. Der Freundeskreis um Armitage gewann immer mehr Anhänger und wurde schließlich in das Königlich-Nationale Institut der Blinden (Royal National Institute for the Blind) umbenannt. Heute ist dieses Institut das größte Verlagshaus in Europa für Druckerzeugnisse in der Braille-Schrift und die größte Organisation für Blinde und Sehbehinderte in Großbritannien. Seit den 90er Jahren unseres Jahrhunderts ist die Braille-Blindenschrift die weltweit gültige Standard-Blindenschrift. Die verschiedensten Sprachen - von Albanisch bis Zulu - können mit der Braille-Schrift wiedergegeben werden. In Frankreich, seinem Heimatland, erhielt Louis Braille in seinem hundertsten Todesjahr die höchste Auszeichnung, die sein Land zu vergeben hat. 1952 wurden seine sterblichen Überreste nach Paris ins Pantheon, der letzten Ruhestätte für die Nationalhelden Frankreichs, überführt. Noch heute kann man auch das Elternhaus des Louis Braille und die Sattlerwerkstatt seines Vaters in Coupvray besichtigen. Es ist mit vielen originalen Teilen als Museum eingerichtet und wurde erst vor wenigen Jahren nach einer umfangreichen Renovierung mit einer großen Feier wieder eröffnet.