Zwischen den Ufern der Angara
- Autor: Verne, Jules
Die Dunkelheit war für die Flüchtlinge ein großer Vorteil. Selbst, wenn tatsächlich längs der Ufer Posten der Tataren patrouillierten, war davon auszugehen, dass das Floß ungesehen vorbeigleiten würde.
Gefährlich waren die immer größer werdenden Eisschollen. Sollte sich der Fluss an einer Stelle verengen, konnten sie eine natürliche Barriere bilden, durch die keine Weiterfahrt möglich wäre. Vorerst begünstigte die Eisbildung jedoch die Fahrt. Die Schollen schoben sich übereinander und bildeten so einen Sichtschutz zu beiden Ufern hin.
Inzwischen war es empfindlich kalt geworden und die Flüchtlinge drängten sich wie Schafe aneinander. Der schwache Wind stach wie tausend Nadeln. Der sibirische Winter gab seine erste Kostprobe.
So versank jeder in seine Gedanken. Michael Strogoff malte sich das Zusammentreffen mit Iwan Ogareff aus. Nadja das Wiedersehen mit ihrem geliebten Vater und die beiden Reporter spannen im Kopf einen höchst dramatischen Reisebericht für ihre Leser.
Alcide Jolivet vergaß bei all dem nie, seine scharfen Reporteraugen auf die Ufer zu richten. Hin und wieder stand ein Wald in Flammen und erleuchtete den Fluss gespenstisch. Doch von dort drohte momentan keine Gefahr.
Die sollte sich durch etwas völlig Unerwartetes zeigen. Alcide lag am Rand des Floßes und ließ einmal kurz seine Hand ins Wasser gleiten. Doch was da an seinen Fingern klebte, war nicht Wasser. Es war eine schmierige Substanz. Der Franzose roch an seinen Fingern. Er täuschte sich nicht. Auf der Angara schien eine Schicht Erdöl zu treiben.
Das Floß schwamm durch einen Ölfilm, der ungeheuer leicht brennbar war! Woher kam dieses Erdöl? Versuchten die Tataren auf diese Weise Irkutsk in Brand zu stecken? Alcide Jolivet wollte die Flüchtlinge nicht unnötig beunruhigen und erzählte vorerst nur Harry Blount von seiner Entdeckung.
Ein Funke vom Uferrand würde genügen, um den ganzen Fluss zum Brennen zu bringen. Man kann die Angst der Reporter vor dieser neuen Gefahr kaum schildern.
Zwischenzeitlich trieb das Floß schnell weiter und das Treibeis wurde immer dichter. Wenn die Angara sich weiter verschmälerte, wäre die Fahrt hier und jetzt zu Ende. Die Nacht dauerte nur noch wenige Stunden und man musste auf jeden Fall in der Dunkelheit in Irkutsk ankommen.
Gegen halb zwei Uhr lief das Floß trotz aller Anstrengungen auf eine kompakte Barriere aus mächtigen Eisblöcken auf und saß fest. Nur fünfhundert Meter weiter unten wurde der Fluss bereits breiter und die Schollen trieben dort ungehindert weiter.
Aber das wussten die Flüchtlinge nicht und so blieb ihnen nichts übrig, als zu resignieren. Was sollte man auch tun?
In diesem Augenblick krachte die erste Gewehrsalve vom rechten Ufer der Angara herüber und prasselte über das Floß. Die Tataren hatten die Flüchtlinge entdeckt und im Nu wurden sie auch vom linken Flussufer beschossen.
"Komm, Nadja!", flüsterte Michael Strogoff dem jungen Mädchen ins Ohr.
Ohne eine Überlegung nahm sie seine Hand. Sie stiegen vom Floß und rutschten im Schutz der Dunkelheit über die ersten Schollen. Nadja kroch voraus. Die Geschosse schlugen wie Hagel ringsherum ein.
Die raue Eisdecke mit ihren messerscharfen Kanten riss ihnen die Hände auf; aber sie kamen vorwärts. Zehn Minuten später hatten sie die Barriere überwunden - vor ihnen lag wieder freies Wasser. Hier und dort brach eine Scholle ab und trieb der Stadt entgegen.
Nadja wusste, was Michael versuchen wollte, und fand eine große Platte, die nur noch lose an einem Eisberg hing. Beide legten sich darauf und durch das Gewicht, brach sie ab. Der Weg stand offen. Die Strömung trug die Eisplatte schnell den Fluss hinunter.
"Unsere armen Freunde!", seufzte Nadja.
Der Kriegslärm wurde immer leiser. Ungefähr um zwei Uhr morgens tauchte aus dem dunklen Horizont eine Doppelreihe von Lichtern auf. Es waren beide Ufer der Angara. Rechts lag Irkutsk, und links das Lager der Tataren.
"Endlich!", seufzte Michael Strogoff erleichtert auf.
Da stieß Nadja einen fürchterlichen Schrei aus.