Zum Alm-Öhi hinauf
- Autor: Spyri, Johanna
Vom freundlichen Dorfe Maienfeld führt ein Fußweg durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen. Sie schauen von dieser Seite groß und ernst auf das Tal hernieder. Wo der Fußweg anfängt, beginnt bald Heideland. Mit dem kurzen Gras und den kräftigen Bergkräutern duftet es dem Kommenden entgegen. Der Fußweg geht steil und direkt zu den Alpen hinauf.
Auf diesem schmalen Bergpfad stieg am hellen, sonnigen Junimorgen ein großes, kräftig aussehendes Mädchen, das aus dieser Gegend stammte, hinauf. Es führte ein Kind an der Hand, dessen Wangen so glühten, dass selbst die sonnenverbrannte, völlig braune Haut des Kindes flammend rot leuchtete. Es war auch kein Wunder: Das Kind war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich gegen bitteren Frost zu schützen. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre alt sein. Seine natürliche Gestalt war aber kaum zu erkennen, denn es hatte zwei, wenn nicht drei Kleider übereinander angezogen und darüber ein großes, rotes Baumwolltuch um gebunden. So stellte die kleine Person eine völlig formlose Figur dar. Die Füße in schwere, mit Nägeln beschlagene Bergschuhe gesteckt, arbeitete es sich heiß und mühsam den Berg hinauf. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen. Der liegt auf halber Höhe der Alm und heißt im Dörfli. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster, einmal von einer Haustür und einmal vom Wege her. Denn das Mädchen war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt, sondern erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen. Es blieb nicht stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tür: "Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehst."
Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer Hand los und setzte sich auf den Boden.
"Bist du müde, Heidi?", fragte die Begleiterin.
"Nein, es ist mir heiß", entgegnete das Kind.
"Wir sind jetzt gleich oben. Du musst dich nur noch ein wenig anstrengen und große Schritte machen, dann sind wir in einer Stunde oben", ermunterte die Gefährtin.
Jetzt trat eine breite, gutmütig aussehende Frau aus der Tür und gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her. Die kamen sofort in ein lebhaftes Gespräch über allerlei Bewohner des Dörfli und der Umgebung.
"Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kind, Dete?", fragte jetzt die neu Hinzugekommene. "Es wird wohl das Kind deiner Schwester sein, das hinterlassene."
"Das ist es", erwiderte Dete, "ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es muss dort bleiben."
"Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!"
"Das kann er nicht, er ist der Großvater. Er muss nun etwas tun. Ich habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen, Barbel, dass ich eine Arbeitsstelle wie die, die ich jetzt haben kann, nicht um des Kindes willen ablehne. Jetzt soll der Großvater das Seinige tun."
"Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon", bestätigte die kleine Barbel eifrig. "Aber du kennst ja den. Was wird der mit einem Kind anfangen noch dazu mit einem so kleinen! Das hält's nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?"
"Nach Frankfurt", erklärte Dete, "da bekomm ich eine extragute Stelle. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad, ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie versorgt. Schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht fort gehen. Jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen, und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein."
"Ich möchte nicht das Kind sein!", rief die Barbel mit abwehrender Gebärde aus. "Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben. Jahraus, Jahr ein setzt er keinen Fuß in eine Kirche. Und wenn er mit seinem dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus und muss sich vor ihm fürchten. Mit seinen dicken grauen Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein alter Heide und Indianer. Da ist man froh, wenn man ihm nicht allein begegnet."
"Und wenn auch", sagte Dete trotzig, "er ist der Großvater und muss für das Kind sorgen. Er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er das zu verantworten, nicht ich."
"Ich möchte nur wissen", sagte die Barbel forschend, "was der Alte auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie blicken lässt. Man sagt allerhand von ihm; du weißt doch gewiss auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?"
"Freilich, aber ich rede nicht; wenn er's hörte, so hätte ich nichts zu lachen!"
Aber die Barbel hätte schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem Alm-Öhi verhalte. Warum er so menschenfeindlich aussehe und da oben ganz allein wohne. Und warum die Leute immer so hinter vorgehaltener Hand von ihm redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten doch nicht für ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum der Alte von allen Leuten im Dörfli der Alm-Öhi genannt wurde, Er konnte doch nicht der wirkliche Onkel von sämtlichen Bewohnern sein; da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den Alten nie anders als Öhi. Das steht in der Sprache der Gegend für Onkel. Die Barbel hatte erst vor kurzer Zeit ins Dörfli hinauf geheiratet. Vorher hatte sie unten im Prättigau gewohnt, und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und besonderen Persönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen im Dörfli geboren und hatte da mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr gelebt; da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde von Ragaz hergekommen; bis Maienfeld hatte sie auf einem Heuwagen fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und das Kind mitnahm. - Die Barbel wollte also diesmal die gute Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht ungenutzt vergehen lassen; sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: "Von dir kann man doch vernehmen, was wahr ist und was die Leute darüber hinaus sagen; du weißt, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein wenig, was mit dem Alten ist und ob der immer so gefürchtet und ein solcher Menschenhasser war."
"Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht genau wissen. Ich bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt. So habe ich ihn nicht gesehen, als er jung war, das wirst du nicht erwarten. Wenn ich aber wüsste, dass es nachher nicht im ganzen Prättigau herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand erzählen von ihm; meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch."
"A bah, Dete, was meinst denn?", gab die Barbel ein wenig beleidigt zurück; "es wird nicht so viel getratscht im Prättigau. Und dann kann ich schon etwas für mich behalten, wenn es sein muss. Erzähl mir's jetzt, du wirst es nicht bereuen."
"Ja nu, so will ich, aber halt Wort!", mahnte die Dete. Erst sah sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und alles anhöre, was sie sagen wollte. Aber das Kind war gar nicht zu sehen, es musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt sein. Diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt. Dete stand still und schaute sich überall um. Der Fußweg machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli hinunter übersehen. Es war aber niemand darauf zu sehen.
"Jetzt seh ich's", erklärte die Barbel; "siehst du dort?", und sie wies mit dem Zeigefinger weitab vom Bergpfad. "Es klettert die Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Warum der heut so spät hinaufgeht mit seinen Tieren? Es ist aber gerade recht, er kann nun nach dem Kinde sehen, und du kannst mir umso besser erzählen."
"Mit dem Nach-ihm-Sehen muss sich der Peter nicht anstrengen", bemerkte die Dete; " das Kind ist nicht dumm für seine fünf Jahre, es macht seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon bemerkt an ihm. Das wird ihm einmal zugute kommen, denn der Alte hat nur noch seine zwei Geißen und die Almhütte."
"Hat er denn einmal mehr gehabt?", fragte die Barbel.
"Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat", entgegnete eifrig die Dete; "eins der schönsten Bauerngüter im Domleschg hat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte nichts tun, als den Herrn spielen und im Lande herumfahren und sich mit schlechter Gesellschaft umgeben die niemand kannte. Den ganzen Hof hat er verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater und seine Mutter nacheinander gestorben vor lauter Gram. Und der Bruder, der nun auch am Bettelstab war, ist vor Verdruss in die Welt hinaus, es weiß kein Mensch wohin, und der Öhi selber, als er nichts mehr hatte als einen bösen Namen, ist auch verschwunden. Erst wusste niemand wohin, dann vernahm man, er sei zum Militär gegangen nach Neapel, und dann hörte man nichts mehr von ihm zwölf oder fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er wieder im Domleschg mit einem halb erwachsenen Buben und wollte diesen beider Verwandtschaft unterbringen. Aber es schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte, ins Domleschg setze er keinen Fuß mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da mit dem Buben. Die Frau muss eine Bündnerin gewesen sein, die er dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er musste noch etwas Geld haben, denn er ließ den Buben, den Tobias, ein Handwerk erlernen, Zimmermann. Tobias war ein ordentlicher Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten traute keiner, man sagte auch, er sei von Neapel desertiert, es wäre ihm sonst schlimm gegangen, denn er habe einen erschlagen, natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern bei einer Schlägerei. Wir erkannten aber die Verwandtschaft an, da die Großmutter meiner Mutter und seine Großmutter Schwestern waren. So nannten wir ihn Öhi. Und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hieß er eben nur noch der Alm-Öhi."
"Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?", fragte gespannt die Barbel.
"Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen", erklärte Dete. "Also der Tobias war in der Lehre draußen in Mels, und sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine Schwester zur Frau, die Adelheid, denn sie hatten sich schon immer gern gehabt. Und auch als sie nun verheiratet waren, verstanden sie sich sehr gut miteinander. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, als er an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und erschlug ihn. Und als man den toten Mann nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in ein heftiges Fieber von dem sie sich nicht mehr erholte .Sie war nicht sehr kräftig und hatte manchmal so merkwürdige Zustände gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie oder war sie wach. Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das sei die Strafe, die der Öhi verdient habe für sein gottloses Leben. Auch ihm selbst wurde es gesagt und auch der Herr Pfarrer redete ihm ins Gewissen, er sollte doch jetzt Buße tun; aber er wurde nur immer grimmiger und verstockter und redete mit niemandem mehr, es ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hieß es, der Öhi sei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich; es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und gab es der alten Ursel oben im Pfäfferserdorf in die Kost. Ich konnte auch im Winter im Bad bleiben, es gab allerhand Arbeit, weil ich zu nähen und flicken verstehe, und früh im Frühling kam die Herrschaft aus Frankfurt wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte und die mich mitnehmen will; übermorgen reisen wir ab, und der Dienst ist gut, das kann ich dir sagen."
"Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es wundert mich sehr, was du denkst, Dete", sagte die Barbel vorwurfsvoll.
"Was meinst du denn?", gab Dete zurück. "Ich habe für das Kind alles getan, was ich konnte, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke, ich kann ein Kind, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind ja schon halbwegs auf der Alm?"
"Ich bin auch gleich da, wo ich hin muss", entgegnete die Barbel; "ich habe mit der Geißenpeterin zu reden, sie spinnt Wolle für mich im Winter. So leb wohl, Dete, mit Glück!"
Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während diese auf die kleine, dunkelbraune Almhütte zuging, die einige Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und dass sie in einer kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so baufällig und verfallen aus, dass es auch so noch gefährlich sein musste darin zu wohnen, wenn der Föhnwind so mächtig über die Berge strich. Dann klapperte alles an der Hütte, Türen und Fenster, und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hätte die Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie wäre unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.
Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm hinauf zu treiben, und sie da die kurzen kräftigen Kräuter fressen zu lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit den leichtfüßigen Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine Geiß auf dem Platz. Meistens kamen kleine Buben und Mädchen, denn die friedlichen Geißen waren nicht zu fürchten. Das war denn den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, da der Peter mit seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geißen. Er hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Großmutter; aber da er immer am Morgen sehr früh fort musste und am Abend vom Dörfli spät heimkam, weil er sich da noch so lange als möglich mit den Kindern unterhalten musste, so verbrachte er daheim nur gerade so viel Zeit, um am Morgen seine Milch und Brot und am Abend eben dasselbe hinunterzuschlucken und dann sich aufs Ohr zu legen und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geißenpeter genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Berufe gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt. Seine Mutter, die zwar Brigitte hieß, wurde von jedermann um des Zusammenhangs willen die Geißenpeterin genannt, und die blinde Großmutter kannten weit und breit Alt und Jung nur unter dem Namen Großmutter.
Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geißen noch nirgends zu sehen seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter übersehen konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit Zeichen großer Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen. Unterdessen rückten die Kinder auf einem großen Umwege heran, denn der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern und Gebüschen für seine Geißen zu nagen war; darum machte er mit seiner Herde vielerlei Wendungen auf dem Wege. Erst war das Kind mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Kleidung vor Hitze und Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es sagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit seinen nackten Füßen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin und her sprang, bald auf die Geißen, die mit den dünnen, schlanken Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile Abhänge hinaufkletterten. Auf einmal setzte das Kind sich auf den Boden nieder, zog mit großer Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand wieder auf, zog sein rotes, dickes Halstuch weg, machte sein Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins auszuziehen, denn die Base Dete hatte ihm das Sonntagskleidchen über das Alltagszeug angezogen, damit niemand es tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröckchen weg, und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen, die bloßen Arme aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft hinausstreckend. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und nun sprang und kletterte es mit Leichtigkeit hinter den Geißen und neben dem Peter her. Der Peter hatte nicht Acht gegeben, was das Kind mache, als es zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung nachgesprungen kam, verzog er lustig grinsend das ganze Gesicht und schaute zurück, und wie er unten das Häuflein Kleider liegen sah, wurde sein Gesicht noch ein wenig breiter, und sein Mund reichte fast von einem Ohr bis zum anderen; er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht fühlte, fing es ein Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an zu reden und musste auf vielerlei antworten; denn das Kind wollte wissen: wie viele Geißen er habe und wohin er mit ihnen gehe und was er dort tue, wo er hinkomme. So gelangten endlich die Kinder samt den Geißen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut aufschrie: "Heidi, was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir gekauft für den Berg und dir neue Strümpfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi, was machst du, wo hast du alles?"
Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: "Dort!" Die Base folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas und obenauf war ein roter Punkt, das musste das Halstuch sein.
"Du Unglückstropf!", rief die Base in großer Aufregung. "Was kommt dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll denn das?"
"Ich brauch es nicht", sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus über seine Tat.
"Ach du unglückselige, vernunftlose Heidi, hast du denn auch noch gar keine Begriffe?", jammerte und schalt die Base weiter. "Wer soll nun wieder da hinunter, es ist ja eine halbe Stunde Weg! Komm, Peter, lauf du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell und steh nicht dort und glotze mich an, als wärst du am Boden festgenagelt."
"Ich bin schon zu spät", sagte Peter langsam und blieb, ohne sich zu rühren, auf demselben Fleck stehen, von dem aus er, beide Hände in die Taschen gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört hatte.
"Du stehst ja doch nur und reißest deine Augen auf und kommst, denk ich, nicht weit auf die Art!", rief ihm die Base Dete zu. "Komm her, du sollst etwas Schönes haben, siehst du?" Sie hielt ihm ein neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an, packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base loben musste und ihm sogleich sein Fünfrappenstück überreichte. Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht glänzte und lachte in voller Breite, denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft zuteil.
"Du kannst mir das Zeug noch tragen bis zum Öhi hinauf, du gehst ja auch den Weg", sagte die Base Dete jetzt, während sie begann, den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des Geißenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und folgte der Vorangehenden auf dem Fuße nach, den linken Arm um sein Bündel geschlungen, in der Rechten die Geißenrute schwingend. Heidi und die Geißen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die alten, grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen, dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen, steilen Felsen hinauf.
An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine Bank gezimmert. Hier saß er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf seine Knie gelegt, und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geißen und die Base Dete herankletterten, denn die Letztere war nach und nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; sie ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: "Guten Abend, Großvater!"
"So, so, wie ist das gemeint?", fragte der Alte barsch, gab dem Kinde kurz die Hand und schaute mit einem langen, durchdringenden Blick unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern; denn der Großvater war mit seinem langen Bart und den dichten, grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, so verwunderlich anzusehen, dass Heidi ihn genau betrachten musste. Unterdessen war auch die Base herangekommen samt dem Peter, der eine Weile stille stand und zusah, was sich da ereigne.
"Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi", sagte die Dete hinzutretend, "und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr werdet es wohl nicht mehr kennen, denn seit es ein Jahr alt ist, habt Ihr es nicht mehr gesehen."
"So, was soll das Kind bei mir?", fragte der Alte kurz; "und du dort", rief er dem Peter zu, "du kannst gehen mit deinen Geißen, du bist nicht zu früh; nimm meine mit!"
Der Peter gehorchte sofort und verschwand, denn der Öhi hatte ihn so angeschaut, dass er schon genug davon hatte.
"Es muss eben bei Euch bleiben, Öhi", gab die Dete auf seine Frage zurück. "Ich habe, denk ich, meine Aufgabe die vier Jahre durch erfüllt. Jetzt seit Ihr an der Reihe, auch einmal Eure Pflicht zu tun."
"So", sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete. "Und wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln, wie es kleine unvernünftige Kinder tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?"
"Das ist dann Eure Sache", warf die Dete zurück, "ich denke, mir hat auch niemand gesagt, wie ich mit dem Kleinen umzugehen habe, als es in meinem Arm lag, erst ein Jahr alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun hatte. Jetzt muss ich mich um meinen Verdienst kümmern , und Ihr seid der nächste Verwandte des Kindes; wenn Ihr's nicht haben könnt, so macht mit ihm, was Ihr wollt, dann habt Ihr's zu verantworten, wenn es dem Kind schlecht ergeht, und daran wollt Ihr wohl nicht schuld sein."
Die Dete hatte kein so gutes Gewissen bei der Sache, darum war sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden; er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich; dann streckte er den Arm aus und sagte befehlend: "Mach, dass du hinunter kommst, von wo du herauf gekommen bist, und lass dich nicht so bald wieder blicken!" Das ließ sich die Dete nicht zweimal sagen. "So lebt wohl, und du auch, Heidi", sagte sie schnell und lief den Berg hinunter in einem Trab bis ins Dörfli hinab, denn die innere Aufregung trieb sie vorwärts. Im Dörfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen, denn es wunderte die Leute, wo das Kind sei; sie kannten ja alle die Dete genau und wussten, wem das Kind gehörte und alles, was mit ihm vorgegangen war. Als es nun aus allen Türen und Fenstern tönte: "Wo ist das Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?", rief sie immer unwilliger zurück: "Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi, ihr hört's ja!"
Sie wurde aber so unwillig, weil die Frauen von allen Seiten ihr zuriefen: "Wie kannst du so etwas tun!", und: "Das arme Tröpfli!", und: "So ein kleines Hilfloses da droben lassen!", und dann wieder und wieder: "Das arme Tröpfli!" Die Dete lief, so schnell sie konnte, weiter und war froh, als sie nichts mehr hörte, denn es war ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben das Kind noch übergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie könne dann ja eher wieder etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel Geld verdiene, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg- und zu einem schönen Verdienst kommen konnte.