Wolfsblut

  • Autor: London, Jack

1. Auf der Fährte nach Fleisch
2. Die Wölfin
3. Heulender Hunger
4. Kampf mit den Zähnen
5. Das Lager
6. Das graue Junge
7. Die Wand der Außenwelt
8. Das Recht auf Fleisch
9. Die Feuermacher
10. Die Knechtschaft
11. Der Ausgestoßene
12. Die Fahrt der Götter
13. Der Bund mit dem Menschen
14. Die Hungersnot
15. Der Feind seiner Gattung
16. Der tolle Gott
17. Das Regiment des Hasses
18. Im Rachen des Todes
19. Unzähmbar
20. Der Gebieter
21. Die lange Fahrt
22. Das Südland
23. Des Herrn Besitztum
24. Die Stimme des Blutes
25. Der schlafende Wolf

 

 

1. Auf der Fährte nach Fleisch

Dunkler Tannenwald lag finster zu beiden Seiten des gefrorenen Wasserlaufs. Der Wind hatte kürzlich die weiße Schneedecke von den Bäumen gestreift. Tiefes Schweigen lag über dem Land, das eine Wildnis war, ohne Leben, ohne Bewegung, völlig einsam und kalt. Es war die ungezähmte, kaltherzige Wildnis des Nordens.

Und doch war Leben in dem Land! Den gefrorenen Wasserlauf hinauf zog mühsam eine Reihe wolfsähnlicher Hunde. Ihr dichter Pelz war dick mit Reif bedeckt. Ihr Atem fror in der Luft, so wie er in dichten Dampfwolken aus ihrem Maul emporstieg, und hängte sich als Eiskristalle an die Haare ihres Pelzes.

Sie gingen in ledernen Riemen an einen Schlitten gespannt, der hinten nachschleifte. Auf ihm standen ein langer, schmaler Kasten und noch andere Dinge wie wollene Decken, ein Beil, ein Kaffeetopf und eine Bratpfanne.

Vor den Hunden wanderte ein Mann auf breiten Schneeschuhen und hinter dem Schlitten ein zweiter. Auf dem Schlitten lag in dem Kasten ein dritter, den die Kälte der Wildnis besiegt hatte.

Die Männer vor und hinter dem Schlitten wanderten unerschrocken und unablässig weiter. Ihre Körper waren in dicke Pelze und weich gegerbtes Leder gehüllt. Ihre Augenwimpern, Wangen und Lippen waren so vollständig mit den Eiskristallen ihres gefrorenen Atems bedeckt, dass die Gesichtszüge unkenntlich waren, was ihnen das Aussehen von gespenstischen Masken gab.

Sie wanderten dahin ohne zu sprechen. Ringsumher herrschte lastendes Schweigen, das ihre Seelen bedrückte wie die Wassermassen den Körper des Tauchers auf dem Meeresgrund.

Eine Stunde verstrich und noch eine zweite. Das bleiche Licht des kurzen, sonnenlosen Tages fing an zu erlöschen, als ein ferner, schwacher Laut in die Luft emporstieg. Rasch wurde er höher, bis er zitternd auf der höchsten Note verweilte und dann abbrach. Der Vordermann drehte den Kopf herum, bis seine Augen denen des Gefährten begegneten. Dann nickten sie einander verständnisvoll zu.

Ein zweiter Ruf erklang, der schrill durch das Schweigen fuhr. Beide Männer erkannten, dass die Richtung, aus der er ertönte, die Schneewüste war, die sie soeben durchquert hatten. Ein dritter Schrei, wie eine Antwort aus derselben Richtung, aber links von dem zweiten Ruf.

"Die sind hinter uns her, Bill", sagte der Vordermann. Der Mann hatte mit Anstrengung gesprochen, und seine Stimme klang heiser und geisterhaft.

"Das Fleisch ist knapp", antwortete sein Gefährte. "Ich habe seit Tagen nicht die Spur von einem Kaninchen gesehen."

Weiter sagten sie nichts, doch sie lauschten aufmerksam auf den Jagdschrei der Verfolger, der immer wieder hinter ihnen ertönte.

Bei Einbruch der Dunkelheit lenkten sie die Hunde in ein Tannengebüsch am Rande des Wasserlaufs und schlugen das Lager auf. Der Sarg neben dem Feuer diente als Sitz und Tisch. Die Hunde drängten sich hinter dem Feuer zusammen, knurrten, bissen und wagten sich nicht ins Dunkel.

"Mir scheint, Heinrich, sie bleiben heute merkwürdig dicht beim Lager", bemerkte Bill.

Heinrich, der am Feuer hockte, entgegnete: "Sie wissen, wo ihr Fell am sichersten ist. Sie fressen auch lieber, als dass sie sich fressen lassen. Es sind ganz kluge Hunde."

Bill schüttelte den Kopf: "Ich weiß nicht so recht. Hast du bemerkt, was für einen Spektakel die Hunde machten, als ich sie fütterte?"

"Sie lärmten allerdings mehr als gewöhnlich", bestätigte Heinrich.

"Wie viele Hunde haben wir, Heinrich?"

"Sechs."

"Eigentlich ja …", Bill hielt einen Augenblick inne, um seinen Worten größeren Nachdruck zu geben. "Wie du eben sagtest, haben wir sechs Hunde. Ich nahm auch sechs Stück Fisch aus dem Sack. Ich gab jedem Hund einen Fisch und hatte doch einen zu wenig."

"Du hast falsch gezählt."

"Wir haben sechs Hunde, und ich nahm sechs Stück Fisch heraus. Einohr bekam aber keinen. Ich ging für ihn extra noch einmal zum Sack."

"Wir haben aber nur sechs Hunde", behauptete Heinrich.

"Du, Heinrich", fuhr Bill fort, "ich will nicht sagen, dass es alles Hunde waren, aber sieben haben Fisch bekommen."

Bill erzählte, dass er eines der Tiere über den Schnee weglaufen sah. Nun blickte ihn Heinrich mitleidig an und sagte, dass er Gespenster sieht.

"Daran habe ich selbst gedacht", antwortete Bill ernsthaft. "Deshalb habe ich die Spuren im Schnee untersucht. - Es war einer von denen, die da draußen in der Dunkelheit heulen!"

Ein Geheul nach dem anderen verwandelte die Stille ringsum in den lärmenden Tumult eines Tollhauses. Von allen Seiten kamen die Töne, und die Hunde drängten sich angstvoll aneinander und so dicht um das Feuer herum, dass die Hitze ihnen den Pelz versengte.

Bill meinte zu Heinrich, dass die Leiche, die sie transportieren, viel glücklicher sei als sie. Er wunderte sich, was einen so vornehmen Herrn, der sich nie um Trinken, Essen oder ein Nachtquartier sorgen musste, in diesen gottverlassenen Winkel getrieben hat.

In der Dunkelheit, die sie von allen Seiten umgab, entdeckten sie ein Augenpaar, das wie glühende Kohlen leuchtete - und noch ein zweites und drittes. Ein Kreis glühender Augen schien sich um das Lager zu ziehen. Hin und wieder bewegten sich die glühenden Punkte, verschwanden, um einen Augenblick später wieder aufzutauchen.

Die Ruhelosigkeit der Hunde hatte zugenommen, und sie drängten sich an die Männer heran. Unterdessen hatte sich der Kreis glühender Augen unruhig hin und her bewegt und einen Augenblick sogar ein wenig zurückgezogen, aber dann kehrten die leuchtenden Punkte wieder an ihren Platz zurück.

"Heinrich, es ist ein großes Unglück, dass wir keine Patronen mehr haben."

Bill hatte seine Pfeife ausgeraucht und half dem Gefährten, die wollenen Decken und Pelze auf Tannenzweige zu legen, die sie auf den Schnee gelegt hatten. So entstand ihr Nachtlager. Heinrich brummte zustimmend und machte sich daran, seine Mokassins aufzuschnallen.

"Wie viele Patronen haben wir noch, sagtest du?", fragte er.

"Drei", war die Antwort. "Ich wünschte, es wären dreihundert. Dann wollte ich ihnen schon was zeigen, den verdammten Bestien." Bill schüttelte ärgerlich die Faust nach den glühenden Augen hin und zog sich ebenfalls die Mokassins aus.

"Ich wünschte, die Kälte würde endlich einmal nachlassen", fuhr er fort. "Wir haben nun schon vierzehn Tage lang fünfzig Grad gehabt, und ich wollte, ich hätte mich nie auf diese Fahrt begeben, Heinrich. Mir gefällt sie nicht! Mir ist nicht wohl dabei! Ich möchte, dass diese Fahrt vorbei ist und wir im Fort McGurry um diese Zeit des Tages am Feuer sitzen und Karten spielen. Das möchte ich!"

Heinrich brummte und kroch ins Bett. Beim Einschlafen weckte ihn die Stimme des Gefährten. "Hör mal, Heinrich, den anderen, der dazu kam und den Fisch bekam, warum bissen den die Hunde nicht weg? Das beunruhigt mich!"

"Du machst dir zu viele Gedanken", kam schläfrig die Antwort. "Du warst doch vorher nie so! Nun hör mal auf und schlafe, dann bist du morgen wieder frisch und munter."

Die Männer schliefen unter ihrer Decke schwer atmend. Das Feuer brannte herunter, und der Kreis glühender Augen zog sich immer enger um das Lager. Die Hunde drängten sich angstvoll aneinander und knurrten jedes Mal drohend, wenn ein Augenpaar näher heran kam. Einmal wurde der Lärm so toll, dass Bill erwachte. Er kroch vorsichtig unter der Decke hervor, um den Schlaf seines Kameraden nicht zu stören, und warf mehr Holz auf das Feuer. Als es aufflammte, zog sich der Augenkreis weiter zurück. Dabei blickte er zu ihren Hunden hinüber, rieb sich die Augen und blickte genauer hin. Dann weckte er Heinrich: "Du, Heinrich, es sind jetzt wieder sieben. Ich habe sie eben gezählt." Aber Heinrich hörte es nicht, denn er war schon wieder eingeschlafen.

Als sie am Morgen ihre Sachen packten, stellten sie fest, dass sie nicht sechs Hunde oder sieben, nein, dass sie nur noch fünf Hunde hatten. Fett fehlte. Sie waren beide der Meinung, dass er schon immer ein dämlicher Hund gewesen sei und dass ihre übrigen Hunde sich sicher klüger anstellen würden.

 

 

 

2. Die Wölfin

Als das Frühstück verzehrt und die wenigen Lagergerätschaften auf dem Schlitten verstaut waren, drehten die Männer dem hellen Feuer den Rücken und verschwanden in der Dunkelheit. Sogleich begann wieder das fürchterliche Geheul von verschiedenen Seiten. Die wenigen Stunden mit Tageslicht vergingen schnell.

Als die Dunkelheit erneut hereinbrach, erklang das Geheul oft so nah, dass die Hunde vor Angst zitterten und in der Aufregung durcheinander gerieten.

Nach einem solchen Aufenthalt, als beide das Gespann wieder in Ordnung gebracht hatten, sagte Bill: "Ich wünschte, sie würden irgendwo ein anderes Wild aufspüren und uns in Ruhe lassen."

"Sie fallen einem wirklich grässlich auf die Nerven", stimmte Heinrich bei.

Später beugte sich Heinrich über den Topf, in dem die Bohnen brodelten und tat kleine Stücke Eis hinein. Plötzlich ließen ihn ein lauter Schlag und ein Ausruf von Bill sowie das scharfe Knurren und das Wehgeschrei eines Hundes zusammenfahren. Er sah noch, wie eine dunkle Gestalt über den Schnee lief und in der Finsternis verschwand. Dann erblickte er Bill bei den Hunden. In einer Hand hatte er einen dicken Knüttel, in der anderen das Schwanzende eines gedörrten Lachses. "Die Hälfte hat die Bestie doch gekriegt, aber ich gab ihr dafür auch einen tüchtigen Klaps. Hast du sie schreien gehört?"

Heinrich meinte: "Es muss ein zahmer Wolf gewesen sein."

"Verdammt zahm, wenn er so zur Fütterung kommt und sein Stück Fisch holt", sagte Bill.

Am folgenden Morgen wurde Heinrich durch laute Flüche aus Bills Mund geweckt. "Frosch ist weg!" Heinrich sprang aus den Decken und lief zu den Hunden. Er zählte sie und stimmte dann in die Flüche ein.

"Frosch war der stärkste von allen", bemerkte Bill. "Und er war auch nicht dämlich", fügte er hinzu.

Das Frühstück wurde in düsterer Stimmung eingenommen und die vier übrigen Hunde vor den Schlitten gespannt. Die Männer wanderten den ganzen Tag über die gefrorene Erde, und das Schweigen wurde nur durch das Geheul ihrer Verfolger unterbrochen. Mit dem Einbruch der Dunkelheit kam es wieder näher.

Die Hunde wurden immer aufgeregter und furchtsamer und verwickelten sich in ihrer Angst in den Strängen. "So, das wird die dummen Dinger doch wohl festhalten", sagte Bill am Abend. Heinrich ließ den Kochtopf stehen und kam, um nachzusehen, was der andere gemacht hatte.

Bill hatte nach Art der Indianer die Hunde mit Stöcken angebunden. Um den Hals eines jeden Hundes hatte er einen ledernen Riemen so dicht befestigt, dass der Hund ihn mit den Zähnen nicht fassen konnte. An diesen Riemen hatte er einen vier oder fünf Fuß langen Stock gebunden und das andere Ende des Stockes mit einem zweiten Lederriemen an einem Pfahl im Boden festgemacht. So konnte der Hund wegen des Stockes an keinen der Lederriemen gelangen um ihn durchzunagen.

Heinrich war zufrieden und sagte: "So werden sie morgen alle am Platz sein."

"Darauf kannst du eine Wette eingehen", bekräftigte Bill.

Beim Schlafengehen deutete Heinrich auf den Kreis glühender Punkte und bemerkte: "Die wissen ganz genau, dass wir kein Pulver und kein Blei mehr haben. Wenn wir ihnen nur eins auf den Pelz brennen könnten, dann würden sie mehr Respekt haben. Sie kommen jede Nacht näher heran."

Die Männer beobachteten die undeutlichen Gestalten am Rande des Feuerscheins, als ein Lärm unter den Hunden ihre Aufmerksamkeit anzog. Einohr ließ ein flehendes Gewinsel hören, strebte am Ende seines Stockes ins Dunkel hinein und ließ nur davon ab, um von Zeit zu Zeit mit seinen Zähnen wahnsinnige Angriffe auf den Stock zu machen.

"Sieh doch mal", flüsterte Heinrich.

Im vollen Feuerschein schlich von der Seite verstohlen ein Tier herbei, das einem Hund auffallend ähnlich sah. Es bewegte sich mit einer Mischung aus Argwohn und Kühnheit, beobachtete vorsichtig die Männer, heftete aber seine volle Aufmerksamkeit auf die Hunde. Einohr wollte zu diesem Eindringling hin und winselte kläglich.

"Einohr ist ein Narr! Er scheint sich aber nicht zu fürchten", sagte Bill leise.

"Es ist eine Wölfin", flüsterte Heinrich zurück, "und das erklärt die Flucht des Dicken und von Frosch. Sie ist der Köder für das Rudel. Sie lockt die Hunde heraus, und dann stürzen sie sich alle drauf und fressen sie."

Das Feuer knisterte. Als ein Stück Holz mit lautem Geprassel herausfiel, sprang das fremde Tier ins Dunkel zurück.

"Heinrich, ich glaube, das war die Bestie, der ich eins mit dem Knüppel versetzte. Ich finde die Vertrautheit dieses Tieres mit dem Lagerfeuer verdächtig."

"Es weiß ganz sicher mehr davon als jeder andere Wolf", gab Heinrich zu. "Ein Wolf, der so viel weiß, dass er mit den Hunden zur Fütterung kommt, hat Erfahrungen gesammelt. Ich glaube auch, dass unser Wolf eigentlich ein Hund ist, der schon so manches Stück Fisch aus der Hand eines Menschen gefressen hat."

"Wenn ich könnte, wie ich wollte, so sollte der Wolf, der eigentlich ein Hund ist, am längsten gelebt haben", erklärte Bill. "Wir dürfen nicht noch mehr Hunde verlieren."

"Aber du hast nur noch drei Patronen", warf Heinrich ein.

"Ich will auch auf einen ganz sicheren Schuss warten", war die Antwort.

Am nächsten Morgen war Treiber weg. "Wie ist das nur geschehen?", fragte Bill. Heinrich zuckte die Achseln. "Weiß nicht. Wahrscheinlich hat Einohr ihn losgemacht. Selber hätte er es nicht tun können, das steht fest."

"Ja und wahrscheinlich ist Treiber nun schon verdaut und galoppiert im Bauch von zwanzig Wölfen im Land umher."

"Heute Abend binde ich sie aber weit voneinander entfernt an", sagte Bill, als die Wanderung des Tages begann. Sie waren weniger als hundert Meter gegangen, als Heinrich, welcher der Vordermann war, sich bückte und etwas aufhob, an das er mit dem Schneeschuh gestoßen war. Es war alles, was von Treiber übrig war - der Stock, mit dem ihn Bill angebunden hatte.

"Sie haben ihn mit Haut und Haar aufgefressen", verkündete Bill. "Sogar die Lederriemen an beiden Enden sind weg. Sie müssen verdammt hungrig sein; und ich sehe schon, dass sie uns noch kriegen, bevor die Fahrt vorbei ist."

Heinrich lachte trotzig. "Ich bin zwar noch nie so von Wölfen verfolgt worden, aber ich habe Schlimmeres im Leben durchgemacht. Es braucht mehr als so eine Handvoll vertrackter Bestien, um dir und mir den Garaus zu machen."

"Ich weiß nicht. Daran glaube ich nicht so recht", murmelte Bill voll böser Ahnungen.

Der Tag verging wie die anderen alle. Um neun Uhr wurde es hell, um zwölf erwärmte die unsichtbare Sonne den südlichen Horizont, worauf das kalte Grau des Nachmittages einsetzte, das drei Stunden später in dunkle Nacht versank.

An diesem Tag entfernte sich Bill für eine Weile vom Schlitten, um die Wölfe zu beobachten. Nach seiner Rückkehr berichtete er, dass diese über eine weite Fläche verstreut sind. "Sie folgen uns und schauen zugleich nach Raub aus. Mittlerweile suchen sie alles Essbare, was ihnen in den Weg kommt. Ich habe einige gesehen. Sie sind fürchterlich mager. Seit Wochen, glaube ich, haben sie keinen Bissen gehabt außer Fett, Frosch und Treiber. Aber sie sind so viele, dass das nicht weit gereicht hat. Ja, furchtbar mager sind sie. Die Rippen sehen wie ein Waschbrett aus, und der Bauch ist dicht unter dem Rückgrat. Sie sind verzweifelt und werden noch toll werden, dann pass aber auf."

Ein paar Minuten später ließ Heinrich, der nun hinter dem Schlitten ging, ein leises, warnendes Pfeifen hören. Bill schaute sich um und hielt dann ruhig die Hunde an. Hinter ihnen trabte schleichend eine Gestalt in dickem Pelz. Die Nase hielt das Tier dicht am Boden. Als die Männer stehen blieben, blieb das Tier auch stehen, hob den Kopf, schaute sie fest an und zog durch die Nasenlöcher die Witterung ein.

"Das ist die Wölfin", sagte Bill.

Die Hunde hatten sich im Schnee niedergelegt, und er ging an ihnen vorüber zu seinem Gefährten. Zusammen betrachteten sie das seltsame Tier, das sie seit Tagen verfolgte und sie das halbe Gespann gekostet hatte.

Vorsichtig machte das Tier ein paar Schritte vorwärts, bis es etwa auf hundert Meter herangekommen war. Dann stand es mit erhobenem Kopfe still und studierte mit Auge und Nase die Männer. Einerseits war der Blick wie der eines Hundes, aber ohne die Zuneigung eines solchen. Andererseits lag in dem Blick die Gier des Hungers, grausam wie seine Zähne. Das Tier war für einen Wolf groß.

"Es hat eine Schulterhöhe von gut zwei und einem halben Fuß", bemerkte Heinrich, "und ich wette, es ist nicht weniger als fünf Fuß lang."

"Und was für eine sonderbare Farbe für einen Wolf!", versetzte Bill. "Noch nie habe ich einen roten Wolf gesehen, und dieser sieht ganz zimtfarben aus." Allerdings war die vorherrschende Farbe seines Fells, die eines echten Wolfes, nämlich grau. Aber darüber lag ein rötlicher Schimmer.

"Es sieht wie ein großer Schlittenhund aus", sagte Bill. "Ich würde mich gar nicht wundern, wenn es mit dem Schwanz wedelt. - Holla, du Hund", rief er ihm zu, "komm mal her!"

Das Tier zeigte keine Angst, sondern nur eine erhöhte Spannung. Es betrachtete die Männer mit der mitleidlosen Gier des Hungers. Sie waren Fleisch, und da es hungrig war, hätte es sie gern gefressen.

"Hör mal, Heinrich", sagte Bill, "wir haben zwar nur noch drei Patronen, aber es ist ein sicherer Schuss. Es hat uns drei Hunde entführt, und dem sollten wir Einhalt gebieten. Was sagst du?"

Heinrich nickte zustimmend. Aber als Bill vorsichtig die Flinte nahm, sprang die Wölfin zur Seite und verschwand unter den Tannen. Bill schimpfte ärgerlich und sagte zu Heinrich, dass er die Bestie töten wird, auch wenn sie schlau ist. Er wolle sich in einen Hinterhalt legen und ihr eins auf den Pelz brennen.

"Du darfst dich aber nicht zu weit entfernen", warnte der Gefährte. "Wenn das Rudel dich angreift, so helfen drei Patronen nichts. Die Tiere sind verdammt hungrig und haben sie dich erst einmal umringt, dann bist du verloren."

Sie schlugen an diesem Abend früh das Lager auf, denn die verbliebenen drei Hunde waren von der höheren Anstrengung müde. Bill band sie weit voneinander entfernt an. Aber die Wölfe waren dreister geworden Mehr als einmal wurden die Männer aus dem Schlaf geweckt, wenn sie so nah kamen, dass die Hunde vor Angst und Schreck wild wurden. Dann warfen sie mehr Holz auf das Feuer, um die frechen Angreifer in sicherer Entfernung zu halten.

 

 

 

3. Heulender Hunger

Am folgenden Morgen war kein Hund verschwunden. In besserer Stimmung begaben sich die Männer auf die Fahrt durch das Schweigen, die Dunkelheit und die Kälte.

Als an einer schlechten Wegstelle der Schlitten umkippte, war die Verwirrung fürchterlich. Der Schlitten war zwischen einem Baumstamm und einem Felsblock eingeklemmt, und die Männer mussten die Hunde ausspannen, um ihn wieder aufzurichten. Dabei bemerkte Heinrich, dass Einohr zur Seite schlich. Er rief ihn, aber Einohr lief über den Schnee, denn dort stand die Wölfin und wartete auf ihn. Als er ihr näher kam, wurde er vorsichtig und blieb stehen.

Er betrachtete sie aufmerksam und misstrauisch, doch voller Verlangen. Sie schien ihm zuzulächeln, indem sie ihm die Zähne mehr schmeichelnd als drohend zeigte. Sie machte spielend ein paar Schritte auf ihn zu und blieb dann stehen. Einohr ging näher, mit gespitzten Ohren, erhobenem Schwanz und dem Kopf hoch in der Luft. Er machte den Versuch, sie zu beschnuppern, aber sie sprang scheu, wie spielend, rückwärts und lockte ihn so Schritt für Schritt immer weiter von den Männern weg. Sie riefen ihn, aber nur noch einmal drehte er sich zu ihnen um. Dann gehörte seine Aufmerksamkeit wieder der Wölfin.

Bill erinnerte sich wieder an seine Büchse, aber bevor sie diese unter dem umgekippten Schlitten hervorgeholt hatten, waren Einohr und die Wölfin außer Schussweite.

Plötzlich sah Einohr scheinbar seinen Fehler ein, drehte sich um und begann, auf die Männer zuzulaufen. In diesem Augenblick sprangen ein Dutzend hagere, graue Wölfe über den Schnee und schnitten ihm den Rückweg ab. Sofort verschwand die spielerische Laune der Wölfin. Wild knurrend sprang sie auf Einohr los. Er versuchte sich noch zu retten, aber immer mehr Wölfe erschienen und nahmen die Verfolgung auf.

Bill sprang mit der Flinte in der Hand in ein Gebüsch an ihrer Bahn, und Heinrich konnte ihn nicht mehr sehen. Einohr rannte um sein Leben genau in diese Richtung, verfolgt von den Wölfen.

Dann hörte Heinrich einen Schuss und wusste, dass Bill mit den Tieren zusammengetroffen war. Noch zwei Schüsse ertönten rasch hintereinander, und er wusste, dass Bills Munition aufgebraucht war. Es erhob sich ein fürchterlicher Lärm, ein wütendes Knurren und Kläffen. Heinrich erkannte Einohrs gellendes Todesgeschrei, er hörte das Wehgeschrei eines sterbenden Wolfes, dann war alles aus. Das wütende Geknurr hörte auf, das wilde Gekläff erstarb, und tiefes Schweigen senkte sich über das einsame Land.

Heinrich blieb noch eine Weile auf dem Schlitten sitzen. Er brauchte nicht hinzugehen, um zu sehen, was sich zugetragen hatte. Er wusste es, als wäre es vor seinen Augen geschehen. Die beiden übrigen Hunde schmiegten sich zitternd an ihn.

Endlich erhob er sich müde. Alle Kraft war aus seinem Körper gewichen. Er spannte die Hunde vor den Schlitten, aber sie wanderten nicht weit. Sobald die Dunkelheit hereinbrach, schlug er schnell das Lager auf und sorgte für einen reichlichen Holzvorrat. Er fütterte die Hunde, kochte das Abendessen und machte das Bett dicht neben dem Feuer zurecht.

Aber er fand keine Ruhe. Die Wölfe kamen sehr nah. Man brauchte sich nicht mehr anzustrengen um sie zu sehen. Sie waren alle in engem Kreise dicht um das Feuer. Er ließ die Flammen hell auflodern, denn er wusste, dies war das einzige Mittel, ihre gierigen Zähne von seinem Leib fernzuhalten.

Die beiden Hunde hielten sich dicht bei ihm, wie um Schutz flehend. Wenn ein Wolf sich zu nah heranwagte, knurrten sie wütend oder winselten erschrocken. Allmählich wurde der Kreis der Wölfe immer enger, und Heinrich konnte sich nur retten, indem er immer wieder brennende Holzscheite zwischen die Wölfe warf.

Am Morgen war er müde und matt. Als um neun Uhr der Tag anbrach, und das Rudel sich zurückzog, machte er sich an die Arbeit, die er in der Nacht geplant hatte. Er hieb junge Tannenbäume um und machte daraus Stangen, die er hoch oben in den Kronen einiger Bäume zu einem festen Gerüst verband. Dann zog er mit Hilfe der Hunde und mit den Schlittenriemen, die er als Seil benutzte, den Sarg auf dieses Gerüst hinauf.

"Sie haben Bill gekriegt, und sie mögen auch mich bekommen, aber, junger Mann, dich sollen sie nicht haben", sagte er zu der Leiche auf dem Baum.

Dann machte er sich auf den Weg. Die Wölfe wurden in ihrer Verfolgung immer dreister. Sie trabten lässig im Rücken und zu beiden Seiten daher, während ihre roten Zungen heraushingen und die Rippen in den mageren Körpern bei jeder Bewegung zu sehen waren. Sie waren wirklich nur noch Haut und Knochen, und Heinrich wunderte sich, wie sie sich überhaupt noch auf den Beinen halten konnten.

Er wagte es nicht, bis zum Dunkelwerden zu wandern, sondern begann zeitig mit dem Sammeln von Brennholz. Mit der Nacht kehrten die Schrecken wieder. Heinrich litt unter der Schlaflosigkeit. Mit den Decken um die Schultern, dem Beil zwischen den Knien und den Hunden zu beiden Seiten schlummerte er immer wieder ein. Einmal erwachte er und erblickte vor sich, keine zwölf Schritte entfernt, einen großen grauen Wolf, einen der größten des Rudels. Er zählte noch zwanzig Wölfe, die ihn alle hungrig anstarrten.

Als er ein anderes Mal erwachte, sah er die rötliche Wölfin vor sich. Sie saß nur ein halbes Dutzend Schritte von ihm entfernt im Schnee und blickte ihn unverwandt an. Es lag keine Drohung in ihrem Blick, aber er wusste, dass dieser Ausdruck nur die Folge großen Hungers war. Er war für sie eine Speise. Ihr Maul öffnete sich, der Speichel floss heraus, und sie leckte sich das Maul im angenehmen Gefühl der Vorfreude.

Eine wilde Angst durchzuckte ihn. Er wollte ein brennendes Holzscheit nach ihr werfen, aber bei seiner Bewegung sprang sie schnell zurück. Dabei knurrte sie und entblößte ihre weißen Zähne bis zur Wurzel.

Die ganze Nacht scheuchte er das hungrige Rudel mit Feuerbränden zurück. Wenn er einschlummerte, weckte ihn das Geknurr und Gewinsel der Hunde. Der Morgen kam, aber zum ersten Mal verscheuchte das Licht des Tages die Wölfe nicht mehr. Als er sich auf den Weg machen wollte und den Schutz des Feuers verließ, sprang der kühnste Wolf auf ihn los, doch zu kurz. Heinrich rettete sich dadurch, dass er zurückwich. Nur durch Feuerbrände, die er rechts und links um sich warf, trieb er die Wölfe in eine respektvolle Entfernung zurück.

Selbst am hellen Tag wagte er nicht, das Feuer zu verlassen, um Holz zu hauen. Zum Glück befand sich gleich neben seinem Feuer eine große Tanne.

Die nächste Nacht verlief wie die vorige, nur dass das Bedürfnis nach Schlaf überwältigend wurde. Die Hunde knurrten jetzt stets, aber seine halb erstarrten Sinne nahmen es nicht mehr wahr. Einmal schreckte er empor, als die Wölfin kaum einen Meter von ihm entfernt war. Mechanisch ergriff er ein brennendes Holzscheit und schleuderte es ihr in den offenen Rachen. Sie sprang zurück und heulte gellend vor Schmerz. Zornig knurrend schlenkerte sie ihren Kopf hin und her.

Als er wieder einschlief, träumte er, er wäre in Fort McGurry. Dort war es warm und gemütlich, und er spielte Karten. Dabei schien es ihm, als sei das Fort von Wölfen umzingelt. Plötzlich gab es einen Krach, und die Tür sprang auf. Er konnte sehen, wie die Wölfe in das Wohnzimmer eindrangen. Der Traum war zu Ende, aber das Geheul blieb.

Er wurde vollständig wach und musste erkennen, dass der Lärm Wirklichkeit war. Mit furchtbarem Geheul und Gekläff stürzten die Wölfe über ihn her. Die Zähne des einen hatten sich über seinem Arm geschlossen. Als er instinktiv zum Feuer sprang, fühlte er, wie die Zähne eines anderen ihm ins Bein drangen. Er warf verzweifelt glühende Holzscheite nach allen Seiten, aber bald versengte ihm die Hitze das Gesicht. Die Augenbrauen und Wimpern waren verbrannt, und an den Füßen war die Glut unerträglich. Das Lagerfeuer glich einem Vulkan, und so hatte er die Wölfe vertrieben.

Überall, wohin das Feuer gefallen war, zischte es im Schnee und von Zeit zu Zeit verkündete ein knurrendes Gebrumm und ein wilder Satz, dass ein fliehender Wolf auf eine glühende Kohle getreten war.

Nachdem Heinrich noch ein paar feurige Brände den letzten Feinden nachgeschickt hatte, warf er die rauchenden Pelzhandschuhe in den Schnee und stampfte umher, um sich die Füße abzukühlen. Die beiden letzten Hunde waren fort, und er wusste, dass auch sie gefressen wurden. Wahrscheinlich würde er selbst der letzte Gang dieser Mahlzeit sein. "Aber ihr habt mich noch nicht!", schrie er und ballte die Fäuste gegen die hungrigen Bestien. Bei dem Ton seiner Stimme geriet das ganze Rudel in Aufregung. Die Wölfin schlich wieder heran und betrachtete ihn neugierig.

Jetzt führte er eine neue Idee aus. Er dehnte das Feuer zu einem großen Kreis aus und ließ sich innerhalb desselben auf den Schlafdecken nieder. Die Wölfe legten sich in die Nähe des Feuers und dehnten ihre mageren Glieder in der ungewohnten Wärme.

Dabei richteten sie ihre Nasen zu den Sternen empor und ließen ein lautes Hungergeheul erklingen.

Die Morgendämmerung kam und endlich das Tageslicht. Heinrich machte den Versuch, den Flammenkreis zu verlassen, aber die Wölfe stürzten über ihn her. Er taumelte in den Flammenkreis zurück. Dabei sprang ein Wolf auf ihn los, doch zu kurz. Er fiel mit allen vieren in die Kohlen, schrie erschrocken auf, fletschte die Zähne und hinkte zurück.

Heinrich kauerte sich auf den Decken nieder und schien den Kampf aufgegeben zu haben. Einmal sah er in einer Lücke zwischen den Flammen die Wölfin stehen, die ihn unverwandt anblickte. Dann übermannte ihn wieder der Schlaf.

Als er wiederum erwachte, war eine merkwürdige Veränderung eingetreten. Die Wölfe waren fort, aber der zertretene Schnee ringsum zeigte, wie nah sie ihm gewesen waren.

Plötzlich hörte er Menschenstimmen, das Knirschen des Schnees unter dem Schlitten, das Knarren von Lederriemen und das Bellen von Hunden. Vier Schlitten kamen heran. Ein halbes Dutzend Leute umstanden den Mann, der mitten in dem ersterbenden Feuer hockte. Sie rüttelten ihn und brachten ihn mit Gewalt zu sich. Er blickte sie wie ein Betrunkener an und lallte schlaftrunken: "Rothaarige Wölfin - kam mit den Hunden zum Füttern - fraß zuerst das Hundefutter - dann die Hunde - und hernach Bill."

"Wo ist Lord Alfred?", schrie ihm einer der Männer ins Ohr.

"Den haben sie nicht bekommen. Der ist oben in den Bäumen am letzten Lagerplatz."

"Tot?", fragte der Mann.

"Ja und im Kasten", antwortete Heinrich und fuhr dann fort: "Lass mich in Ruhe, ich bin ganz kaputt." Damit fielen ihm die Augen zu, sein Kinn sank auf die Brust und sein Schnarchen erklang.

Doch ein anderer Ton ließ sich noch vernehmen, schwach und in weiter Ferne - das Geheul der hungrigen Wölfe, die auf anderen Raub ausgingen, da der Mensch ihnen entgangen war.

 

 

 

4. Kampf mit den Zähnen

Die rothaarige Wölfin hatte zuerst den Klang von Menschenstimmen und das Gebell der Schlittenhunde gehört. Sie sprang als erste von dem Mann im Feuerkreis weg. Die anderen hatten nur zögernd die Beute, die sie so lange verfolgt hatten, aufgegeben.

An der Spitze des Rudels lief ein großer grauer Wolf. Die Wölfin lief neben ihm her. Der Führer knurrte sie nicht an, wenn sie zufällig einen Satz ihm voran machte, so wie er es bei den anderen Tieren tat. Im Gegenteil, er behandelte sie freundlich, für ihren Geschmack sogar zu freundlich. Er drängte sich gern an sie heran, und dann zeigte sie ihm knurrend die Zähne. Einmal biss sie ihn sogar in die Schulter. Auch da sprang er nur zur Seite.

Auf ihrer anderen Seite lief ein hagerer alter Wolf, der mit den Narben mancher Schlacht bedeckt war. Er lief ihr immer zur Rechten, denn er hatte nur ein Auge, und zwar das linke. Auch er kam ihr immer so nah, dass seine Schnauze ihre Schulter oder den Hals berührte. Auch ihn wies sie mit ihren Zähnen zurück. Manchmal knurrten sich die beiden Nebenbuhler drohend und zähnefletschend an.

Aber noch ein anderer Wolf drängte sich gern an die Spitze. Er war ein junger, dreijähriger Wolf, der schon völlig ausgewachsen war. Wurde er von den älteren Tieren angegriffen, blieb er eiligst stehen, setzte sich fest auf die Hinterbeine, stemmte die Vorderfüße steif auf den Boden, sträubte das Fell und knurrte drohend. Die anderen Wölfe prallten in diesen Situationen im Lauf von hinten auf den jungen Wolf und drückten ihre Missfallen durch scharfe Bisse in seine Hinterbeine und Flanken aus. So brachte er sich stets in großes Ungemach, wiederholte diese Manöver aber trotzdem immer wieder.

An jedem Tag liefen die Wölfe trotz ihrer abgemagerten Körper viele Meilen weit. Auch die ganze Nacht über und am nächsten Tag trabten sie weiter, an der Spitze die Stärksten und im Nachtrab die Schwachen, die Jungen und die ganz Alten. Sie trabten über die weite Fläche einer gefrorenen, toten Welt. Kein Leben regte sich. Sie allein waren lebendig, und sie suchten andere lebendige Wesen, um sie zu verschlingen.

Sie kamen in eine tiefer gelegene Gegend, wo ihre Suche endlich belohnt wurde. Hier stießen sie auf Elche. Hier war Leben, hier war Fleisch und kein geheimnisvolles Feuer. Der Kampf mit einem Elchbullen war kurz und verzweifelt. Er wurde von allen Seiten angegriffen. Zwar brachte er den Wölfen Wunden bei und tötete mit seinen großen Hufen und seinem Geweih auch einige, aber es gab keine Rettung für ihn. Der Kampf endete damit, dass die Wölfin ihn an der Kehle packte, während die Zähne der anderen überall in sein Fleisch einschlugen. Sie begannen ihn zu verzehren, noch bevor sein letzter Atemzug getan und sein Todeskampf vorüber war.

Nun gab es Speise in Fülle. Obwohl der Elch über achthundert Pfund wog, waren bald ein paar Knochen alles, was von ihm übrig war.

Die Zeit der Not war vorüber. Sie waren nun in einem Land, wo es Wild gab, und sie jagten vorsichtiger, indem sie nur lahme und krüpplige Tiere aus kleinen Elchrudeln aussuchten.

Schließlich kam der Tag, an dem sich das Wolfsrudel teilte. Die Wölfin, der junge Führer an ihrer Linken und der alte Einäugige führten die Hälfte des Rudels zum Mackenziefluss hinunter und in das Land der Seen im Osten.

Von Tag zu Tag verminderte sich dieser Rest des Rudels. Zu zweien, immer ein Wolf und eine Wölfin, machten sie sich aus dem Staube. Zuletzt blieben nur noch vier übrig: die Wölfin, der junge Führer, der Einäugige und der ehrgeizige Dreijährige.

Die Wölfin zeigte jetzt grimmige Laune. Bald trugen alle drei Bewerber die Spuren ihrer Zähne, aber sie verteidigten sich nie ihr gegenüber. Gegeneinander waren sie allerdings wild. Der Dreijährige wurde eines Tages in seinem Ärger gar zu frech. Er zauste den Einäugigen auf der blinden Seite und riss ihm das Ohr in Fetzen. Dieser hatte in seinem Leben so viele Erfahrungen gesammelt und so viele Kämpfe überlebt, dass er nicht einen Augenblick überlegte, was nun zu tun sei. Als der Kampf begann, stellte sich der dritte Wolf auf die Seite des alten, und nun griffen beide den Dreijährigen an, in der Absicht, ihn zu töten. Von beiden Seiten fielen die unbarmherzigen Zähne seiner früheren Kameraden ihn an.

Während des Kampfes setzte sich die Wölfin, die ja die Ursache der Auseinandersetzung war, geduldig hin und wartete. Der Dreijährige musste sein Leben lassen, wahrscheinlich für das erste Liebesabenteuer, das er in seinem Leben hatte. Zu beiden Seiten seines Leichnams standen die Nebenbuhler. Sie blickten die Wölfin an, die zufrieden im Schnee saß. Allein der alte Wolf war klug, in der Liebe sowohl wie im Kampf.

Als der jüngere den Kopf wandte, um eine Wunde an der Schulter zu lecken, schoss der Einäugige auf jenen los und packte ihn an der Gurgel. Er biss tief und scharf zu und zerriss ihm die große Schlagader am Hals. Dann sprang er zurück. Der junge Anführer sprang noch einmal auf ihn los und kämpfte, bis ihm die Glieder versagten und ihn das Leben verließ.

Die ganze Zeit über saß die Wölfin da und schaute zufrieden drein. Sie freute sich über den Kampf, denn er war der Liebesbeweis der Wildnis. Als er beendet war, ging der Einäugige mit großen Schritten auf die Wölfin zu. Seine Haltung war ein Gemisch von Triumph und Vorsicht, aber zum ersten Mal begegnete ihm die Wölfin freundlich.

Nun trabten sie durch die Wälder wie gute Freunde nebeneinander her. Die Tage vergingen und sie jagten zusammen, töteten ihre Beute und verzehrten sie gemeinsam.

Einige Zeit darauf schien die Wölfin ruhelos zu werden. Es war, als suchte sie etwas, das sie nicht finden konnte. Sie verbrachte viel Zeit damit, an Felsen und den steilen Flussufern nach Höhlen herumzustöbern. Einauge hatte kein Interesse daran, aber er folgte ihr gutmütig bei der Suche.

Als sie an einem hellen Mondscheinabend durch die Wälder liefen, blieb der Wolf plötzlich stehen. Seine Schnauze richtete sich empor, und die Nasenlöcher weiteten sich, als er die Witterung einzog. Bei seiner Gefährtin hatte ein gleichgültiges Schnüffeln genügt, und sie trabte ruhig weiter. Er folgte ihr zwar, blieb aber dann und wann stehen.

Die Wölfin glitt vorsichtig bis an den Rand einer großen, von Bäumen umgebenen Lichtung. Als auch Einauge heran kam, standen sie beide dicht nebeneinander, lauernd, horchend, witternd. Hundegekläff drang an ihre Ohren, dann Männerstimmen, schrilles Weiberschimpfen und einmal das Geschrei eines Kindes. In die Nase der Wölfin stiegen die tausendfachen Gerüche eines Indianerlagers, die eine Geschichte erzählten, die Einauge zwar nicht verstand, die aber der Wölfin in allen Einzelheiten bekannt war.

Sie war seltsam aufgeregt und zog die Luft mit wachsendem Interesse ein. Einauge jedoch verriet Besorgnis und machte den Versuch weiter zu gehen. Sie drehte sich zu ihm, berührte wie beruhigend mit der Schnauze seinen Hals und blickte nach dem Lager hinüber. Sie wollte vorwärts gehen, sich am Feuer wärmen, sich mit den Hunden balgen und zwischen den Männern hin und her laufen. Schließlich kehrten sie doch um und liefen in die Wälder zurück.

 

 

 

5. Das Lager

Zwei Tage lang umkreisten die Wölfin und Einauge das Indianerlager. Als eines Morgens jedoch dicht neben ihnen der Knall einer Büchse ertönte und die Kugel nur knapp neben Einauges Kopf in den Stamm eines Baumes einschlug, wanderten sie hinweg, bis viele Meilen sie von der Gefahr trennten.

Die Wölfin war allerdings schwerfälliger geworden und konnte nur langsam laufen. Das Verlangen nach dem, was sie suchte, wurde immer größer. Einmal gab sie die Verfolgung eines Kaninchens auf, das sie sonst mit Leichtigkeit gefangen hätte, und legte sich nieder um zu ruhen. Einauge kam zu ihr, aber als er ihr leise mit der Schnauze den Hals berührte, schnappte sie wild nach ihm. Er wurde immer geduldiger und fürsorglicher, je größer ihre Heftigkeit war.

An einem Nebenflüsschen des Mackenzie fand sie endlich, was sie suchte. Dorthin war sie müde weitergetrabt, der Gefährte stets eine Strecke voraus. Die Frühlingsstürme und die Schneeschmelze hatten das Ufer an einer Stelle unterwaschen und aus einer engen Spalte eine kleine Höhle gemacht.

Vor der Öffnung der Höhle machte sie halt und sah sich die Umgebung genau an. Dann kroch sie durch die enge Öffnung in die Höhle, deren Wände eine kleine, runde Kammer bildeten. Die Decke war dicht über ihrem Kopf, aber der Raum war trocken und behaglich. Einauge stand am Eingang und beobachtete sie geduldig.

Dann legte sich die Wölfin nieder, die Beine ausgestreckt und den Kopf auf den Eingang gerichtet. Die gespitzten Ohren legte sie zurück, öffnete das Maul, so dass die Zunge lang heraushing und zeigte dadurch, wie zufrieden und glücklich sie war. Einohr wedelte gutmütig mit dem Schweif.

Er legte sich am Eingang nieder und spürte, dass der Frühling in der Welt des Nordens erwachte. Die Sonne schien, und die Knospen an den Bäumen brachen den Bann des Winters.

Der Wolf hatte Hunger. Er warf der Gefährtin bittende Blicke zu, aber sie hatte nicht den Wunsch aufzustehen. Er blickte hinaus und sah einige Schneehühner vorüber fliegen, doch legte er sich wieder nieder. Als aber eine Mücke über seiner Nasenspitze summte, konnte er nicht länger widerstehen. Er kroch zur Wölfin und versuchte, sie zum Aufstehen zu bewegen, aber sie knurrte ihn nur an.

So wanderte er allein in den hellen Sonnenschein hinaus. Er wanderte stundenlang, kehrte in der Dämmerung aber noch hungriger zurück, denn er hatte zwar Wild gesehen, allerdings nichts erwischt.

Plötzlich blieb er misstrauisch am Eingang der Höhle stehen. Schwache, seltsame Laute waren von drinnen vernehmbar, die jedoch nicht von der Wölfin kamen. Vorsichtig kroch er hinein und wurde durch ein warnendes Knurren von der Wölfin begrüßt. Trotzdem interessierten ihn die Töne. Die Wölfin ließ wieder das Knurren hören, worauf er sich zusammenrollte und am Eingang der Höhle zur Ruhe legte.

Als der Morgen anbrach, untersuchte er aufs Neue, woher die ihm unbekannten Töne kommen. Er entdeckte zwischen ihren Beinen und dem Körper fünf drollige, lebende Bündelchen, die sehr schwach und hilflos erschienen und leise winselten. Ihre Augen waren noch nicht geöffnet.

Die Wölfin sah ihn ängstlich an. Aus Instinkt, aus der Erfahrung der Wolfsmütter wusste sie, dass Väter ihre neugeborenen Nachfahren zuweilen gefressen hatten. Deshalb versuchte sie zu verhindern, dass Einauge den Jungen zu nahe käme. Aber von Einauge drohte keine Gefahr. Er empfand es als etwas ganz Natürliches, drehte seiner jungen Familie den Rücken und begab sich auf Jagd nach Beute für sich und die Seinen.

Acht bis zehn Kilometer von der Höhle entfernt vernahm sein scharfes Ohr das Geräusch nagender Zähne. Er ging langsam darauf los und fand ein Stachelschwein, das die Rinde eines Baumes mit seinen Zähnen bearbeitete. Einauge näherte sich vorsichtig, aber ohne Hoffnung auf Erfolg. Allerdings konnte man nie wissen, was geschehen würde.

Als Einauge angriff, rollte sich das Stachelschwein zu einem Ball zusammen und streckte die langen, scharfen Stacheln nach allen Richtungen aus, um den Angriff abzuwehren. Einauge duckte sich nieder und wartete geduldig. Vielleicht würde sich das Stachelschwein wieder ausrollen und dann war eine gute Gelegenheit. Nach einer halben Stunde erhob er sich jedoch, knurrte zornig den regungslosen Ball an und trabte weiter.

Die Zeit verging und seine Suche blieb unbelohnt. Der Trieb der erwachten Vaterliebe war mächtig in ihm. Er musste Speise finden! Am Nachmittag stieß er auf ein Schneehuhn, das nicht drei Fuß von ihm entfernt auf einem Baumstamm saß, als er aus dem Dickicht kam. Einauge schlug mit der Pfote nach ihm, warf es zu Boden, sprang darauf los und packte es mit den Zähnen. Als er das zarte Fleisch und die weichen Knochen durchbiss, bekam er Lust, die Beute zu verzehren. Aber er entschied sich anders, kehrte um und lief mit dem Schneehuhn im Maul heim.

Auf dem Rückweg sah er eine große Fußspur, die er schon am Morgen entdeckt, aber nicht verfolgt hatte. Jetzt ging er ihr nach. Als er einmal den Kopf um eine Felsecke streckte, erspähte sein schnelles Auge etwas, das ihn rasch niederducken ließ. Die Spuren rührten von einer großen Luchsin her, die jetzt geduckt vor der zusammengerollten Stachelkugel lag. Er kroch behutsam näher, legte das Schneehuhn neben sich in den Schnee und duckte sich nieder. So kauerte der alte Wolf im Versteck und wartete auf einen glücklichen Zufall, der ihm vielleicht auf der Jagd nach Beute helfen würde.

Eine halbe Stunde verstrich, dann noch eine, und nichts ereignete sich. Dann ging plötzlich etwas vor. Das Stachelschwein hatte endlich angenommen, dass der Feind fort sei. Langsam und vorsichtig rollte es den undurchdringlichen Panzer auf. Einauge lief das Wasser im Munde zusammen, der Speichel tropfte herab.

Die Luchsin schlug mit Blitzesschnelle zu. Ihre Pfote mit den ausgestreckten Krallen schoss nach dem weichen Bauche hin, kratzte und zog sich dann rasch zurück. Doch bevor sie sich ganz zurückziehen konnte, schoss das Stachelschwein durch eine Seitenbewegung des Schwanzes scharfe Stacheln hinein. Der wütende Schmerz der Luchsin ließ sie jede Vorsicht vergessen. Wild sprang sie auf das Geschöpf los, das sie verletzt hatte, und diesem gelang es noch einmal, mit dem Schwanz nach der großen Katze zu schlagen. Prustend zog sie sich zurück, da ihre Nase voller Stacheln steckte. Sie sprang in rasender Angst und im Schmerz umher. Dann legte sie sich ein paar Minuten ruhig hin.

Einohr beobachtet sie, wie sie schließlich, von Schmerzen gequält, aufsprang und in Richtung des Flusses lief.

Vorsichtig wagte er sich aus seinem Versteck heraus. Das Stachelschwein begrüßte ihn mit wütendem Gequiek und schlug drohend die langen Zähne zusammen. Es versuchte sich wieder zusammenzurollen, aber durch die Verletzungen gelang ihm das nicht mehr. Einauge leckte den blutbefleckten Schnee, und sein Hunger wuchs mächtig. Er hatte aber schon zu lange gelebt, um die Vorsicht außer Acht zu lassen.

Er legte sich hin und wartete. Nach einer Weile bemerkte er, dass sich die Stacheln heftig zitternd senkten. Dann klappten die langen Zähne noch einmal zusammen, die Stacheln sanken vollends, der Körper streckte sich und bewegte sich schließlich nicht mehr.

Vorsichtig streckte Einauge das Stachelschwein mit der Pfote der Länge nach aus und drehte es auf den Rücken. Es war wirklich tot. Er packte es mit den Zähnen und trabte los. Plötzlich besann er sich auf etwas, legte die Beute nieder, trabte zu dem Schneehuhn zurück und verzehrte dieses sogleich. Dann machte er sich wieder auf den Weg und brachte die Beute des Tages zur Höhle.

Die Wölfin besah sie sich genau und leckte ihm dann leicht den Nacken. Sie scheuchte ihn zwar wieder von den Jungen weg, aber ihr Knurren klang weniger rau. Die Furcht vor ihm hatte sich wieder gelegt, denn er hatte sich wie ein echter Vater benommen.

 

 

 

6. Das graue Junge

Ein Junges war anders als seine Geschwister. Deren Haarfarbe verriet schon den rötlichen, von der Mutter ererbten Schimmer, während es als das einzige wirklich graue Junge dem Vater glich. Es war ein richtiger Wolf, ein echter Sohn des alten Einauge in seinem Äußeren. Noch als seine Augen geschlossen waren, hatte es gefühlt, geschmeckt, gerochen. Es kannte die beiden Brüder und die beiden Schwestern und hatte schon angefangen, mit ihnen zu tollen und sich mit ihnen zu zanken. Wenn es wütend wurde, erzitterte ein drolliger Ton in seiner Kehle, ein Ton, der später zum Grollen werden sollte.

Auch hatte es, lange bevor seine Augen sich öffneten, gelernt, durch Berührung, Geschmack und Geruch die Mutter zu erkennen, die für ihn eine Quelle von Wärme, von flüssiger Nahrung und Zärtlichkeit war. Sie hatte eine sanfte, liebkosende Zunge, die ihm wohltat, wenn sie sein weiches Körperchen berührte. Bevor das Wolfsjunge einschlief, schmiegte es sich dicht an sie.

Die ersten vier Wochen verbrachte es größtenteils schlafend. Dann blieb es länger wach und lernte die Welt, die es umgab, kennen. Diese Welt war düster und sehr klein. Ihre Grenzen waren die Wände der Höhle. Da es aber die große Welt draußen nicht kannte, bedrückte es die Enge seines Daseins nicht.

Der Eingang der Höhle übte eine große Anziehungskraft auf das Wölflein aus. Von Anfang an krochen es und seine Geschwister zu dieser Stelle hin. Das Licht zog sie immer wieder an, aber die Mutter trieb sie zurück. Dabei entdeckte das graue Junge noch andere Seiten seiner Mutter. Sie hatte eine Nase, die ihm durch einen scharfen Puff einen Verweis erteilte, und auch eine Pfote, die sich ihm auflegte und ihn umkegelte. So lernte es, was wehtat und auch, wie man das vermeiden konnte, indem man seitwärts oder rückwärts auswich.

Es war wie seine Geschwister ein kleines, wildes Tier. Im Alter von vier Wochen, wenige Tage nachdem seine Augen sich geöffnet hatten, fing es an, Fleisch zu fressen, halbverdautes, das die Wölfin für die fünf Jungen ausspie.

Das graue Wölflein war das stärkste und wildeste von allen Jungen. Es konnte lauter grollen und knurren als sie. Seine Wutanfälle waren toller als die ihren. Es lernte zuerst, wie man ein Junges mit einem schlauen Streich der Pfote um und um kehren konnte. Es zerrte und riss ein anderes am Ohr, während es durch die zusammengebissenen Zähne knurrte.

Mit jedem Tag wuchs der Zauber des Lichtes für das graue Junge. Ständig wollte es am Eingang zur Höhle auf Abenteuer ausgehen, aber immer wurde es zurückgetrieben. Allerdings wusste es nicht, dass diese Stelle ein Eingang war, für ihn war es eine besondere, eine leuchtende Wand, die Sonne seiner Welt.

Es war doch etwas höchst Seltsames um diese Wand! Der Vater, der nah an diesem Licht schlief und Nahrung brachte, hatte die sonderbare Gewohnheit, durch diese Wand zu verschwinden. Das konnte das graue Wölflein nicht begreifen. Ihm tat es weh, wenn es mit seiner Nase gegen eine der Wände stieß. Wie konnte der Vater dann durch eine Wand verschwinden?

Wie die meisten Geschöpfe der Wildnis lernte es früh den Hunger kennen. Es kam eine Zeit, wo es an Fleisch mangelte und auch die Milch der Mutter versiegte. Zuerst winselten und schrien die Jungen und dann schlummerten sie meistens. Es gab kein Spiel mehr, keinen Zank, keine Wutanfälle und keinen Versuch zu knurren.

Einauge war der Verzweiflung nah. Er suchte weit und breit, er schlief nur noch wenig in der Höhle. In den ersten Tagen nach der Geburt der Jungen war er mehrmals zum Indianerlager hingewandert und hatte Kaninchen aus den Schlingen gestohlen. Aber als der Schnee schmolz, zogen die Indianer weiter.

Als das graue Junge wieder ins Leben zurückkehrte, war nur noch eins seiner Geschwister übrig, und auch diese letzte Schwester lief bald nicht mehr herum und hob nicht einmal mehr den Kopf. Die Nahrung kam für sie zu spät, und bald schlief sie für immer ein.

Dann kam eine Zeit, in der das graue Wölflein den Vater nicht mehr in der Wand erscheinen und verschwinden sah, wo er sich nicht am Eingang zum Schlafe niederlegte. Dies geschah am Ende einer zweiten Hungersnot. Die Wölfin wusste, warum Einauge nicht zurückgekommen war. Als sie selbst nach Beute ausgegangen war, hatte sie dort, wo die Luchsin wohnte, Einauges einen Tag alte Spur gefunden und an ihrem Ende alles, was von ihm übrig war. Es waren da viele Zeichen eines Kampfes, der ausgefochten worden war.

Danach vermied die Wölfin diese Gegend auf ihren Jagdzügen, denn sie wusste, dass es für einen Wolf allein eine gefährliche Sache war, es mit einer Luchsin aufzunehmen, noch dazu wenn sie Junge hatte wie diese.

Aber Wildnis bleibt Wildnis, und es sollte eine Zeit kommen, wo die Wölfin sich wieder, getrieben durch ihre Mutterliebe, dorthin wagen sollte, zu dem Lager in den Felsen, zu dem Zorn der Luchsin.

 

 

 

7. Die Wand der Außenwelt

Um die Zeit, als die Mutter anfing, zu ihren Jagdzügen die Höhle zu verlassen, hatte das graue Junge sich das Verbot, den Eingang zu meiden, wohl gemerkt. Es hatte die Furcht von allen Generationen Wölfen, die vor ihm gelebt hatten, geerbt.

War die Mutter abwesend, so schlief es die meiste Zeit. In den Zwischenzeiten verhielt es sich ruhig und unterdrückte jeden winselnden Ton.

Als es einmal so wach dalag, hörte es in der hellen Wand einen seltsamen Ton. Es wusste nicht, dass draußen ein Vielfraß stand und vorsichtig den Inhalt der Höhle beschnupperte. Das Wölflein wusste nur, dass der Ton seltsam klang, wie etwas, was es noch nie gehört hatte. Darum war es voller Schrecken, denn das Unbekannte flößte ihm Furcht ein.

Das Haar auf seinem Rücken richtete sich lautlos empor. Das Wölflein war außer sich vor Schreck, aber es blieb regungslos und still, als ob es versteinert oder tot wäre.

Als die Mutter heim kam, knurrte sie, als sie die Spur des Vielfraßes fand. Sie eilte in die Höhle und leckte und liebkoste ihr Junges voll ungewöhnlicher Zärtlichkeit. Dieses fühlte, dass es einer großen, unbekannten Gefahr entgangen war.

Aber die wachsende Lebenskraft und seine zunehmende Stärke ließen sich nicht mehr eindämmen. Sie stiegen mit jedem Bissen, den es aß, mit jedem Atemzug, den es tat. Am Ende wurden die Furcht und der Gehorsam eines Tages weggefegt, und das Wölflein schritt wackelnd und breitbeinig dem Eingang zu. Diese Wand tat ihm nicht weh. Das Material schien, ebenso wie das Licht, zurückzuweichen. Es war höchst seltsam. Das Licht wurde immer heller, und plötzlich befand er sich am Rand der Höhle. Das Licht wurde blendend, und die Ausdehnung des Raumes machte es schwindlig.

Nach und nach gewöhnten sich jedoch seine Augen daran. Seine Umgebung war jetzt bunt, Bäume umgaben einen Fluss, über den Bäumen war ein Berg und über dem Berg der Himmel.

Eine große Furcht überkam es. Das Wölflein kauerte sich am Rande der Höhle nieder und schaute auf die Welt. Es ängstigte sich sehr, denn vor ihm war das Unbekannte, und das war sein Feind. Aber es passierte nichts und so verdrängte nach einer Weile die Neugier seine Furcht. Es sah eine eisfreie Stelle im Fluss, die im Sonnenschein glitzerte und einen vom Blitz zerschmetterten Tannenbaum am Ufer.

Nun schritt es kühn in die Luft hinaus. Aber seine Hinterbeine rutschten noch auf dem Rand der Höhle aus, und es fiel kopfüber den Abhang hinunter. Die Erde gab ihm einen tüchtigen Schlag auf die Nase, und es schrie jämmerlich. Die Furcht verjagte wieder all seine Kraft und Stärke, und es winselte wie ein erschrockenes Hündchen.

Dann leckte es sein graues Körperchen von der Erde, die es verschmutzt hatte, rein. Schließlich setzte es sich aufrecht und schaute umher und vergaß wieder alle Schrecken. Es fühlte nur Neugier. Es besah sich das Gras zu seinen Füßen, die Moosbeerenstaude dicht neben sich, den toten Stamm der vom Blitz getroffenen Tanne am Rande eines freien Platzes. Ein Eichhörnchen kam plötzlich auf das Wölflein zu und jagte ihm große Angst ein. Es duckte sich und knurrte. Das Eichhörnchen war aber ebenso erschrocken und sprang an einem Stamm hinauf.

Dies erhöhte den Mut des Wölfleins. Die nächsten Erfahrungen mit einem Specht und einem Häher waren nicht so gut. Der Häher versetzte ihm einen scharfen Schnabelhieb auf die Nase, dass es sich duckte und schrie.

Er fand lebende und leblose Dinge und begriff, dass man sich vor den lebendigen in Acht nehmen muss. Es kam nur ungeschickt vorwärts. Der Boden war uneben, und es fiel entweder auf seine Nase oder stolperte über seine Füße. Kleine Steine glitten unter seinen Füßen weg und mit der Zeit lernte es, seine Muskelbewegungen zu berechnen.

Es hatte Glück und stieß bei seinem ersten Streifzug durch die Welt auf Fleisch. Als es auf dem umgestürzten Stamm einer Tanne entlang wanderte, gab die vermoderte Rinde unter seinen Füßen nach und mit einem Geheul der Verzweiflung purzelte es durch die Zweige und Blätter eines kleinen Busches mitten unter sieben junge Schneehühnchen. Diese schrien laut und es erschrak. Dann sah es, dass sie klein waren, und das machte es kühner. Das Wölflein legte die Pfote auf eines von ihnen und nahm es in den Mund. Es zappelte und kitzelte ihm die Zunge. Nun verspürte es seinen Hunger. Seine Kinnbacken schlossen sich fester, es hörte, wie zarte Knochen prasselten, es fühlte, wie warmes Blut ihm in den Mund lief, und das schmeckte gut. Das war Fleisch, wie es die Mutter ihm gab, nur ganz frisch und darum besser.

So verzehrte es die ganzen Schneehühnchen, leckte sich das Mäulchen und wollte aus dem Busch kriechen. Da traf das Wolflein ein heftiger Angriff der Schneehuhnmutter. Es steckte den Kopf zwischen die Pfoten und schrie jämmerlich. Die Schneehuhnmutter schlug immer ärger mit den Flügeln. Da wurde es auch böse. Es hob den Kopf, knurrte und schlug mit der Pfote zu. Seine winzigen Zähnchen ergriffen einen Flügel und rissen mit aller Macht daran. Das Schneehuhn wehrte sich, aber das Wölflein war von seinem ersten Kampf begeistert. Es fürchtete sich nicht mehr. Es kämpfte gegen ein lebendiges Wesen, das Fleisch war. Die Lust zu töten regte sich in ihm. Nach einer Weile stellte das Schneehuhn seinen Kampf ein. Beide lagen auf der Erde und schauten einander an. Dann hieb ihm das Schneehuhn mit dem Schnabel auf die Nase. Zuerst hielt es dessen Flügel noch fest, aber schließlich verging ihm die Kampfeslust. Es ließ die Beute fahren, drehte ihr den Rücken und rannte davon.

An der anderen Seite der Lichtung legte es sich nieder. Die Zunge hing ihm aus dem Halse, seine Brust hob und senkte sich keuchend, und es winselte, da die Nase noch immer wehtat.

Wie es so dalag, überkam es plötzlich das Gefühl, als ob etwas Schreckliches hereinbräche. Instinktmäßig kroch es in den Schutz des Gebüsches, als es ein heftiger Luftzug traf. Ein großer Habicht war vom Himmel herabgestoßen und hatte das Wölflein nur knapp verfehlt.

Während es sich im Gebüsch von seinem Schreck erholte, sah es, wie der Habicht abermals vom Himmel stieß und das in dem Moment unachtsame Schneehuhn schnappte. Das war ihm eine Lehre und Warnung für sein Leben.

Als das Wölflein sein Versteck verließ, hatte es viel gelernt. Lebendiges war Beute und schmeckte gut, aber wenn es groß war, konnte es auch Schmerzen verursachen. Darum war es besser, kleine Geschöpfe zu verzehren und die großen in Ruhe zu lassen.

Nun lief es zum Fluss hinunter. Noch nie hatte das Wölflein eine Wasserfläche gesehen. Es trat kühn darauf, aber sogleich ging es unter und schrie vor Angst. Es schnappte nach Luft, aber Wasser füllte ihm die Lungen. Es kam wieder an die Oberfläche, und die sanfte Luft strömte ihm in den geöffneten Mund. Wie aus alter Gewohnheit arbeitete es mit allen vieren und schwamm.

Das Ufer, von dem es gekommen war, befand sich kaum einen Meter weit entfernt, aber es lag hinter ihm. So schwamm es zu dem gegenüberliegenden, das vor ihm lag. Mitten im Wasser ergriff die Strömung das kleine Tier und zog es stromabwärts in eine winzige Stromschnelle. Das Wasser wurde auf einmal ganz toll. Es drehte das Wölflein bald auf den Rücken, bald auf den Bauch und schleuderte es mal gegen einen Stein und mal gegen einen Felsen. Jedes mal schrie es kläglich auf.

Unterhalb der Stromschnelle befand sich ein Becken, wo es vom Wasser ans Ufer getragen wurde. Es kroch in wahnsinniger Angst vom Wasser weg und legte sich nieder. Wieder hatte es etwas gelernt. Das Wasser war zwar nicht lebendig, aber es bewegte sich doch. Es sah fest aus und war es doch nicht. Also waren die Dinge nicht immer das, was sie schienen.

Plötzlich wünschte sich das Wölflein seine Mutter her. Sein Körper war matt, und sein kleines Hirn war müde. Es wollte zur Höhle zurückkehren und schlafen.

Es schritt zwischen den Büschen dahin, als es einen scharfen, drohenden Schrei vernahm. Etwas Gelbliches schoss blitzschnell an seinen Augen vorüber, und es sah ein Wiesel hinweg springen. Da es nur ein kleines Geschöpf war, hatte das Wölflein keine Furcht. Da erblickte es dicht vor seinen Füßen ein noch viel kleineres Wiesel. Es versuchte zu fliehen, aber der kleine Wolf drehte es mit der Pfote um und um. Das Junge stieß schrille Schreie aus, und plötzlich fühlte der Wolf die scharfen Zähne der Wieselmutter in seinem Fleisch.

Er schrie auf und kroch rückwärts. Die Wieselmutter sprang auf ihr Junges zu und verschwand mit ihm im Dickicht.

Der Biss am Hals schmerzte. Das Wölflein musste noch lernen, dass ein Wiesel trotz seiner Kleinheit und seines geringen Gewichtes der blutdürstigste, rachsüchtigste und schrecklichste Mörder der Wildnis ist.

Es winselte noch, als die Wieselmutter wieder erschien. Sie näherte sich ihm vorsichtig, stieß ein drohendes Geschrei aus, machte schließlich einen Satz und hing ihm an der Kehle. Ihre Zähne bohrten sich durch sein Fell ins Fleisch.

Zuerst knurrte das Wölflein und setzte sich zur Wehr, aber es war noch sehr jung und dies war sein erster Tag in der Wildnis. Es wollte flüchten, aber das Wiesel ließ nicht locker. Es hielt fest und wollte mit seinen Zähnen die große Schlagader erreichen.

Damit wäre das Leben des kleinen Wolfes zu Ende gewesen, wenn nicht die Wölfin durch das Gebüsch gesprungen wäre. Da wollte das Wiesel der Wölfin an die Kehle springen, aber diese schnappte es, schlenkerte es hin und her und schließlich zermalmten ihre Zähne den dünnen, gelben Körper.

Nun spielte sich eine Szene voller Zärtlichkeit zwischen der Wölfin und dem grauen Jungen ab. Die Freude der Mutter, ihr Kind wieder zu finden, war riesengroß. Sie liebkoste es mit der Schnauze und leckte ihm die Wunden. Dann verzehrten sie zusammen das Wiesel und gingen zur Höhle, um zu schlafen.

 

 

 

8. Das Recht auf Fleisch

Das Wölflein ruhte sich zwei Tage aus, dann wagte es sich wieder aus der Höhle. Es fand das junge Wiesel wieder und fraß es. Wenn es müde war, ging es zur Höhle zurück. Jeden Tag ging es nun auf Abenteuer aus und wagte sich immer weiter hinaus.

Es fing an, seine Stärke gegen seine Schwäche genau abzuwägen und zu wissen, wann es kühn und wann es vorsichtig sein musste. Dabei erinnerte es sich stets an die Erfahrungen, die es bei seinen bisherigen Ausflügen gemacht hatte. Allmählich nahm es den schleichenden Gang der Mutter an, indem es scheinbar ohne Anstrengung mit unberechenbarer Schnelligkeit dahin glitt.

Lange machte es keine neue Beute, aber mit jedem Tag stieg das Verlangen zu töten. Der junge Wolf hatte großen Respekt vor der Mutter. Ging diese auf Raub aus, so brachte sie ihm stets seinen Anteil daran heim. Sie hatte auch vor nichts Angst. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass diese Furchtlosigkeit auf Erfahrung beruhte, es machte ihm den Eindruck von Macht.

Abermals brach eine Hungersnot aus, und das Wölflein erfuhr diesmal bei klarem Bewusstsein die Pein des nagenden Hungers. Die Wölfin magerte ab. Sie blieb kaum noch in der Höhle. Die meiste Zeit verbrachte sie auf der Suche nach Beute, aber immer ohne Erfolg. Der junge Wolf fand keine Milch mehr in der Mutterbrust, und er bekam auch nicht einen Bissen Fleisch. In seinem Hunger studierte er sorgfältig die Gewohnheiten einiger Tiere, des Eichhörnchens, der Waldmäuse, der Spechte und anderer Vögel.

Aber auch diese Hungersnot ging vorüber, und die Wölfin brachte wieder Fleisch heim. Das erste war ein halbausgewachsener Luchs. Mit vollem Bauch lag das Wölflein in der Höhle dicht neben der Mutter und schlief. Es wachte durch ihr Knurren auf. Nie hatte er sie so fürchterlich knurren hören. Im vollen Licht der Nachmittagssonne lag die Luchsin vor dem Eingang der Höhle. Im Wölflein regte sich die Liebe zum Leben. Es stand auf und stellte sich mit tapferem Knurren neben die Mutter. Sie schob es aber beiseite und stellte sich davor.

Die Luchsin konnte des niedrigen Eingangs wegen nicht in die Höhle hineinspringen, aber als sie behände hineinkroch, sprang die Wölfin auf sie los und drückte sie zu Boden. Das Wölflein sah von dem Kampf nur wenig, allerdings hörte es fürchterliches Knurren, Fauchen und Kreischen. Die beiden Tiere hieben aufeinander los. Die Katze, indem sie mit den Krallen riss und kratzte und auch die Zähne gebrauchte, während die Wölfin nur ihre Zähne hatte.

Einmal sprang das Wölflein herzu und biss der Luchsin in eins der Hinterbeine. Es hielt fest und knurrte wütend. Ohne dass es das wusste, lähmte es dadurch die Bewegung des Beines und ersparte so der Mutter manche Wunde. Allerdings ließ es das Bein bei einer heftigen Bewegung fahren.

Einen Augenblick später trennten sich die beiden Feinde und bevor sie von neuem aufeinander losstürzten, versetzte die Luchsin dem Wölflein einen Schlag mit der Vorderpfote, riss ihm die Schulter bis zum Knochen auf und schleuderte es an die Wand. Trotzdem griff es noch einmal mutig in den Kampf ein. Wiederum packte es die Katze bei einem der Hinterbeine und hielt es zornig knurrend fest, bis der Kampf zu Ende war.

Zwar war die Luchsin endlich tot, aber auch die Wölfin war sehr verletzt. Sie liebkoste ihr Junges und leckte ihm die wunde Schulter, aber der große Blutverlust hatte sie sehr schwach gemacht. Einen Tag und eine Nacht lag sie bewegungslos und kaum atmend neben der toten Feindin. Acht Tage verließ sie die Höhle nur um zu trinken. Auch danach waren ihre Bewegungen noch matt und müde. In dieser Zeit fraßen sie die Luchsin.

Die Wunden der Wölfin heilten wieder so weit, dass sie auf Raub ausgehen konnte. Die Schulter des Wölfleins blieb noch eine Weile steif und tat sehr weh. Beim Gehen hinkte es. Aber die Welt hatte sich seit dem Kampf verändert. Es fühlte sich als Held. Es hatte gekämpft, die Zähne ins Fleisch des Feindes geschlagen und war am Leben geblieben. Nun trat es kühner auf, und kleinere Geschöpfe jagten ihm keine Furcht mehr ein.

Fortan begleitete es die Mutter auf ihren Streifzügen. Es sah, wie Beute gemacht wurde und spielte dabei selbst eine Rolle. Es lernte das Recht auf Fleisch kennen. Es gab zwei Arten von Leben: das eigene, das auch die Mutter einschloss, und das der anderen. Dies umfasste all die Geschöpfe, die entweder von ihm und den seinen getötet und gefressen wurden, oder die es töten und fressen würden, wenn sie es könnten. Fleisch war die Grundbedingung des Lebens. "Friss oder werde gefressen", so lautete das Gesetz.

Das Wölflein sah, wie dieses Gesetz ringsumher in Kraft war. Das eigene Leben, das Spiel seiner Muskeln verursachte ihm unendliches Wohlbehagen, die Jagd auf Beute lebendiges Entzücken. Selbst Zorn und Kampf waren Genuss.

Es gab auch Erleichterung und Zufriedenheit. Mit vollem Magen faul in der Sonne zu dösen, das war voller Ersatz für Arbeit und Mühe.

 

 

 

9. Die Feuermacher

Ganz plötzlich machte das Wölflein eine neue Entdeckung. Es war sorglos zum Bach hinunter gelaufen um zu trinken, als es witterte und das Neue entdeckte. Vor ihm auf der Erde saßen fünf lebende Wesen, wie es ähnliche nie im Leben gesehen hatte. Es waren die ersten Menschen, die es erblickte. Die fünf sprangen jedoch bei seiner Annäherung nicht auf und zeigten nicht knurrend die Zähne. Unbeweglich, schweigend, unheimlich saßen sie da.

Auch das Wölflein regte sich nicht. Alle seine Instinkte trieben es an fortzurennen, doch zum ersten Mal regte sich in ihm ein anderer Trieb. Eine Art geheimnisvolle Ehrfurcht überkam es, ein Gefühl der eigenen Schwäche. Es fühlte ganz deutlich, dass hier Herrschaft und Macht waren, etwas viel größeres als es selbst.

Der junge Wolf hatte zwar nie Menschen gesehen, aber dem Instinkt nach kannte er sie. Unklar erkannte er in ihnen das Tier, das über allen anderen herrscht. Wäre er erwachsen gewesen, so wäre er weggelaufen. Er allerdings kauerte in lähmender Furcht nieder.

Einer die Indianer stand auf, ging zu ihm hin und bückte sich zu ihm herab. Das Wölflein duckte sich tiefer. Unwillkürlich richtete sich sein Haar empor, seine Lippen zogen sich zurück und entblößten die kleinen Zähne. Als sich die Hand des Mannes näherte, stritten sich widerstrebende Empfindungen in ihm. Es hatte das Verlangen nachzugeben und den Wunsch, sich zu wehren. Es tat beides. Als es die Hand fast berührte, schnappte es blitzschnell danach. Im nächsten Augenblick bekam es eine Ohrfeige, die es umwarf. Nun war ihm die Streitlust vergangen. Es setzte sich aufrecht und winselte kläglich. Der Mann war ärgerlich und gab ihm noch eine Ohrfeige auf die andere Seite.

Die anderen Indianer lachten laut. Sie standen rings um das Wölflein und lachten, während es in seinem Jammer und in seiner Angst laut winselte. Da hörte es einen wohlbekannten Ton. Auch die Indianer lauschten. Der kleine Wolf wusste, wer das war und wartete auf die Ankunft der Mutter, seiner wilden, unbezwingbaren Mutter, die mit allem kämpfte, was da lebte, und es tötete und Furcht nicht kannte.

Sie kam knurrend herangestürmt. Sie hatte den Ruf ihres Jungen gehört und stürzte herbei, um es zu retten. Sie sprang mitten unter die Männer und ihre mütterliche Angst und ihre wilde Kampfbereitschaft machten sie furchtbar. Das Wölflein stieß einen schwachen Freudenschrei aus und sprang ihr entgegen, während die Männer eiligst ein paar Schritte zurückwichen. Die Wölfin stellte sich mit gesträubtem Haar vor ihr Junges, und ein tiefes, grollendes Knurren stieg aus ihrer Brust empor.

Auf einmal schrie einer der Indianer: "Kische!" Es lag Erstaunen in dem Ruf. Das Wölflein fühlte, wie die Mutter bei dem Ruf zusammenzuckte. "Kische!", rief der Mann noch einmal, diesmal scharf und gebietend. Da duckte sich die Wölfin und bat winselnd und schweifwedelnd um Frieden. Das Wölflein konnte das nicht verstehen und war entsetzt.

Der Mann, der gesprochen hatte, näherte sich ihr, legte ihr die Hand auf den Kopf, und sie duckte sich noch tiefer. Nun kamen auch die anderen heran und streichelten sie, was sie sich geduldig gefallen ließ. Alle waren sehr aufgeregt und machten seltsame Töne mit dem Munde. Das Wölflein kroch zur Mutter heran.

Einer der Indianer erzählte, dass ihr Vater ein Wolf war und ihre Mutter eine Hündin. Vor einem Jahr war sie während einer Hungersnot weggelaufen, in der es kein Fleisch für die Hunde gegeben hatte.

"Sie hat also bei den Wölfen gelebt", sagte einer der Männer.

"So scheint es, Drei Adler", antwortete der Indianer, der Grauer Biber hieß, und legte die Hand auf den jungen Wolf, "und das ist das Resultat davon. Es ist klar, dass Kische seine Mutter ist. Aber der Vater ist ein Wolf. Darum ist wenig vom Hund und viel vom Wolf in ihm. Sein Name soll ‚Wolfsblut' sein. Ich habe gesprochen. Es ist mein Hund, weil Kische meines Bruders Hund war und der tot ist."

Das junge Tier, das so seinen Namen erhalten hatte, lag wartend da. Der Graue Biber band die Wolfsmutter an einer Tanne fest. Wolfsblut folgte ihr und legte sich neben ihr nieder. Lachsblut streckte die Hand aus und rollte ihn auf den Rücken. Zuerst fand er es lächerlich und hässlich, so zu liegen und die Beine in die Luft zu strecken. Aber mit der Zeit empfand er ein unerklärliches Vergnügen daran und hörte auf zu knurren. Wenn die Finger des Mannes ihn am Kopf krauten, so wuchs die angenehme Empfindung immer mehr und als die Finger ihn ein letztes Mal streichelten und dann losließen, war alle Furcht in ihm verschwunden.

Nach einer Weile hörte Wolfsblut den Ton fremder Stimmen. Der Rest des Stammes erschien in langer Marschlinie. Es gab noch mehr Männer, viele Frauen und Kinder, insgesamt etwa vierzig Personen, die alle mit Lager- und Hausgeräten schwer beladen waren. Auch viele Hunde waren dabei, und diese waren, mit Ausnahme der noch nicht erwachsenen, ebenfalls beladen. Sie trugen auf dem Rücken Säcke, die festgeschnallt waren. Das Gewicht der Dinge darin betrug etwa zwanzig bis dreißig Pfund.

Wolfsblut hatte noch nie Hunde gesehen. Sofort erkannte er aber, dass sie zu seiner Gattung gehören. Allerdings stürzten sie sofort auf Wolfsblut und seine Mutter los. Sein Haar richtete sich empor, er knurrte und schnappte zu, aber die Hunde warfen ihn um, und er fühlte ihre scharfen Zähne an seinem Körper, während er selbst ihnen in den Bauch und in die Beine biss. Er hörte Kisches Knurren und sah, wie sie für ihn kämpfte.

Kurze Zeit später verjagten die Menschen die Hunde mit Knütteln und Steinwürfen. So fühlte er deren Gerechtigkeitssinn und lernte sie als das kennen, was sie allein waren, nämlich Gesetzgeber und Wächter des Gesetzes. Er lernte ihre Macht kennen, obwohl sie die ersten Geschöpfe waren, die er bisher kennen gelernt hatte, die nicht bissen und kratzten. Aber sie hatten leblose Dinge, die ihnen halfen: ihre Stöcke und Steine sprangen wie lebendige Dinge durch die Luft und brachten den Hunden Schmerz und Pein.

Als der letzte Hund zurück getrieben war, leckte sich Wolfsblut die Wunden und dachte über seine erste Bekanntschaft mit der Grausamkeit des Rudels nach. Er hatte sich nie träumen lassen, dass seine eigene Gattung aus mehr als Einauge, der Mutter und ihm selbst bestehen könne. Nun hatte er noch viele ähnliche Geschöpfe erblickt, und diese Verwandten waren noch dazu über ihn hergestürzt und hatten versucht, ihn zu vernichten

Es gefiel ihm auch nicht, dass seine Mutter angebunden war, und als sich die Menschen erhoben um den Marsch fortzusetzen, führte ein winziges Menschlein seine Mutter als Gefangene hinter sich her. Wolfsblut folgte ihr verstört und verängstigt.

Sie gingen das Flusstal viel weiter entlang, als er sich je gewagt hatte und kamen an die Stelle, wo das Flüsschen in den großen Mackenziefluss mündet. Hier waren Boote befestigt und Vorrichtungen zum Trocknen der Fische aufgestellt. Das Lager wurde aufgeschlagen, und Wolfsblut schaute mit verwunderten Augen zu. Seine Ehrfurcht vor ihnen wurde immer größer. Als sich Gerüste mit Fellen und Gewebe in Zelte verwandelten, kannte Wolfsbluts Erstaunen keine Grenzen.

Er machte sich auf, um seine neue Umgebung zu erkunden. Vorsichtig näherte er sich einem Zelt, roch an dem seltsamen Gewebe, biss hinein und riss immer heftiger daran, bis der ganze Bau in Bewegung geriet und ihn die Stimme einer Indianerin zurück trieb.

Einige Minuten später wanderte er wieder von der Mutter weg. Sie konnte ihm nicht folgen, da sie noch immer festgebunden war. Ein junger Hund, etwas größer und älter als er, kam langsam und mit sichtlich feindseligen Absichten auf ihn zu. Sein Name war Liplip. Er war in Kämpfen mit jungen Hunden schon erfahren und hatte etwas von einem Raufbold an sich. Zuerst wollte ihm Wolfsblut freundlich begegnen, aber als dieser mit steifen Beinen auf ihn zu kam und die Zähne zeigte, da wurde auch sein Gang steif, und die Lippen kräuselten sich. Als Liplip plötzlich auf ihn sprang, traf ihn sein Biss in die Schulter, die von der Luchsin bis auf den Knochen verletzt worden war. Er stieß ein gellendes Geheul aus, sprang ärgerlich auf Liplip und biss ihn tüchtig. Dessen Zähne trafen aber Wolfsblut wohl noch ein halbes dutzend Mal, bis dieser heulend zur Mutter floh.

Kische leckte Wolfsblut beruhigend mit der Zunge und versuchte, ihn bei sich zu behalten. Aber die Neugier trieb ihn fort, und schon bald wagte er sich an ein neues Abenteuer. Er traf den Grauen Biber, der auf dem Boden mit Reisig und getrocknetem Moos herumhantierte. Die Frauen und Kinder trugen immer mehr Stöckchen und Zweige für ihn herbei. Plötzlich sah Wolfsblut unter den Händen des Grauen Biber etwas Sonderbares emporsteigen, das wie Nebel aussah. Dann erschien zwischen den Holzstückchen etwas Lebendiges, das sich wendete und drehte und eine Farbe wie die Sonne am Himmel hatte. Wolfsblut kannte kein Feuer und kroch ganz nah heran, bis er mit der Nase und dem Zünglein die Flamme berührte.

Einen Augenblick war er wie gelähmt. Das Unbekannte hatte ihn in die Nase gezwickt. Er krabbelte zurück und brach in ein klägliches Geheul aus. Es war der ärgste Schmerz, den er je gefühlt hatte. Grauer Biber erzählte allen, was geschehen war, und sie lachten über ihn und schlugen sich auf die Schenkel. Wolfsblut schämte sich, dass die Menschen sich über ihn lustig machten. Darum machte er kehrt und floh zu Kische, dem einzigen Wesen auf der Welt, das Mitleid mit ihm fühlte.

Die Dämmerung brach herein und dann die Nacht, und Wolfsblut lag dicht neben der Mutter. Seine Nase und Zunge taten ihm weh, aber ein noch größerer Kummer peinigte ihn. Er hatte Heimweh. Ihm fehlte die Ruhe seines bisherigen Lebens. Die Menschen waren für ihn mächtige Wesen, die unbekannte, geheimnisvolle Kräfte besaßen. Sie zündeten Feuer an und waren deshalb für ihn Götter.

 

 

 

10. Die Knechtschaft

Die Tage waren für Wolfsblut reich an neuen Erfahrungen. Während Kische angebunden blieb, rannte er neugierig lernend umher. Er beobachtete die Menschen und lernte, ihnen Gehorsam zu leisten. Kamen sie, so ging er ihnen aus dem Weg; riefen sie, so eilte er zu ihnen; drohten sie, so duckte er sich und hießen sie ihn gehen, so entfernte er sich schleunigst. Er wusste, dass hinter jedem ihrer Wünsche Macht lauerte, die ihm sehr weh tun konnte.

Rasch lernte er die Gewohnheiten des Lagers kennen. Er begriff, wie gierig und ungerecht die älteren Hunde waren, wenn ihnen Fleisch oder Fisch hingeworfen wurde. Er erkannte, dass bei den Menschen die Männer meist gerecht, die Kinder grausam und die Frauen gutmütig waren.

Aber der Fluch seines Lebens wurde Liplip. Älter, größer und stärker als Wolfsblut hatte er ihn zum Gegenstand seiner Verfolgung ausersehen. Sobald er sich von seiner Mutter wegbewegte, erschien Liplip und heftete sich an seine Fersen, knurrte ihn an, schnappte nach ihm und wenn niemand in der Nähe war, stürzte er auf Wolfsblut los und zwang ihn zum Kampf. Daraus ging Liplip stets als Sieger hervor, was ihn sehr amüsierte, aber was für Wolfsblut zur Qual wurde.

Sein Mut war zwar dadurch ungebrochen, aber sein Charakter veränderte sich. Er wurde verdrossen und bissig, und die Verfolgungen machten ihn noch wilder als er ohnehin schon war. Die freundliche, spielerische Zeit der Jugend war für ihn schon vorüber, da es sein Feind nie erlaubte, dass er mit den anderen jungen Hunden im Lager umhertollte.

Endlich kam der Tag, wo Grauer Biber nicht mehr befürchten musste, dass Kische weglaufen würde. Nun durfte auch sie wieder frei herumlaufen, was Wolfsblut entzückte. Er begleitete sie munter durch das Lager und brauchte dabei endlich keine Angst mehr vor seinem Peiniger zu haben.

Später an diesem Tag wanderten Mutter und Sohn eine Strecke in den Wald hinein. Wolfsblut lockte Kische vorwärts, denn der Fluss, die Höhle und der stille Wald riefen ihn. Er wünschte, dass sie mitkäme, winselte flehend und rannte spielerisch ins Gebüsch. Die Mutter hörte, was ihn im Wald rief, aber sie hörte auch den Ruf des Lagers. Endlich kehrte sie um und trabte langsam zurück. Traurig trottete Wolfsblut hinterher.

In der Wildnis ist die Zeit, in der eine Mutter für ihre Kinder sorgt, nur kurz und unter der Herrschaft der Menschen wird sie noch kürzer. Eines Tages sah er, wie die Mutter in Drei Adlers Boot gebracht wurde. Er versuchte ihr zu folgen, allerdings warf ihn ein Schlag des Indianers an Land zurück. Als das Boot vom Land abstieß, wurde seine Angst, die Mutter zu verlieren, so groß, dass er ins Wasser sprang und hinterher schwamm. Grauer Biber rief ihn zurück, aber Wolfsblut schien taub. Wütend bestieg sein Herr ein Boot und hob ihn beim Nacken aus dem Wasser und verabreichte ihm eine derbe Tracht Prügel. Wolfsblut wimmerte vor Schmerzen und Angst. Als Grauer Biber schließlich von ihm ließ, versetzte er ihm noch einen Stoß mit dem Fuß. Da blitzte in dem jungen Wolf seine Natur auf, und er schlug die Zähne in den Mokassin seines Herrn.

Nichts waren die Prügel, die er vorher erhalten hatte, im Vergleich zu denen, die er jetzt bekam. Der Zorn des Grauen Biber war schrecklich. Er gebrauchte nicht nur seine Hand, sondern auch das harte, hölzerne Ruder. Als sie ans Ufer kamen, schleuderte ihn der Graue Biber an Land, wo er schwer zu Boden fiel. Liplip, der alles gesehen hatte, stürzte auf ihn los, warf ihn um und bearbeitete ihn mit seinen Zähnen. Wolfsblut war zu hilflos, um sich zu verteidigen. In dieser Situation sah er, was menschliche Gerechtigkeit bedeutet, denn Grauer Biber kam zurück und schleuderte Liplip durch die Luft.

Nachts dachte Wolfsblut traurig an seine Mutter. Zu gern wäre er in die freie Natur gelaufen. Aber mit der Zeit lernte er, wie er sich gegenüber Grauer Biber zu verhalten hat und bekam keine Schläge mehr. Dieser verlangte von ihm streng unbedingten Gehorsam, beschützte ihn dafür aber gegenüber den anderen Hunden, wenn er ihm ein zusätzliches Stück Fleisch gab. Das Leben im Lager war oft ein Elend für ihn, aber andererseits wurde es ihm immer lieber.

 

 

 

11. Der Ausgestoßene

Liplips Verfolgungen verdüsterten Wolfsbluts Leben auch weiterhin und machten ihn immer wilder und bösartiger. Bald besaß er sogar bei den Menschen einen schlimmen Ruf. Wo es im Lager Lärm oder Aufruhr gab, wo man sich zankte oder stritt, war er die Ursache oder zumindest daran beteiligt. Man machte sich nicht die Mühe, nach den Gründen für sein Verhalten zu forschen, man sah nur, dass er schlecht ist, ein Dieb und Unruhestifter.

Mitten in dem dicht bevölkerten Lager wurde er so ein Ausgestoßener. Die anderen Hunde schlossen sich mit Liplip zusammen, wenn es gegen ihn ging. Durch diese Verfolgungen lernte er, sich im Massenkampf zu behaupten und den anderen in kürzestem Zeitraum so viel Schaden wie möglich zuzufügen. Er stürzte zu, schnappte und biss, noch bevor der Feind zur Gegenwehr ansetzen konnte. War ein Hund nicht auf der Hut, so wurde ihm die Schulter aufgeschlitzt oder das Ohr zerrissen.

Da Wolfsblut noch nicht ausgewachsen war, waren seine Kinnladen nicht stark genug, den Angriff auf den Hals eines Hundes tödlich enden zu lassen. Eines Tages traf er aber einen Feind allein am Waldrand, den er mehrmals umwarf. Dadurch glückte es ihm, dass er jenem die große Ader am Hals durchbeißen und ihn damit töten konnte. Wolfsblut war dabei gesehen worden, und es gab großen Lärm im Lager, denn man hatte es dem Besitzer des Hundes erzählt.

So wurde Wolfsblut sowohl von den Menschen als auch von den Hunden gehasst. Keinen Augenblick war er seines Lebens sicher, denn der Zahn eines jeden Hundes und die Hand eines jeden Menschen waren gegen ihn. In ihm erblühten durch die ständigen Verfolgungen und Kämpfe keine freundlichen Gefühle wie Zuneigung und Liebe. Von solchen hatte er keine Ahnung. Was er gelernt hatte, war, dem Starken zu gehorchen und den Schwachen zu bedrücken. Der Graue Biber war sein Gott, dem er gehorchte, aber kleine, schwächere Hunde konnte er vernichten. Seine Entwicklung strebte nach Stärke und Macht. Er wurde immer flinker, ausdauernder, schlauer und blutdürstiger. Diese Eigenschaften musste er besitzen, sonst hätte er sich in der feindseligen Umgebung, in der er aufwuchs, keinesfalls behaupten können.

 

 

 

12. Die Fahrt der Götter

Als die Tage im Herbst immer kürzer und kühler wurden, machte Wolfsblut einen Versuch, seine Freiheit wiederzuerlangen. Im Dorf herrschte reges Treiben, denn das Sommerlager wurde abgebrochen. Die Boote am Ufer wurden beladen, und Wolfsblut beschloss zurückzubleiben. Er schlich aus dem Lager in den Wald und verbarg seine Spur im Wasser, das schon zu frieren begann. Der Graue Biber und seine Familie riefen nach ihm, aber er widerstand dem Verlangen, sich zu zeigen. Als die Stimmen schwächer wurden, kroch er ins Freie. Die Dunkelheit brach herein, und er spielte eine Weile unter den Bäumen und freute sich an seiner Freiheit.

Dann wurde ihm plötzlich seine Einsamkeit klar. Er setzte sich nieder, lauschte auf das Schweigen im Wald und ihm wurde unheimlich. Hier gab es keine warme Wand eines Wigwams, seine Füße froren, und es gab nichts zu fressen.

Das Leben im Lager hatte ihn verweichlicht. Die Töne der Natur waren ihm unheimlich und ihn überfiel ein überwältigendes Verlangen nach der Gesellschaft der Menschen. Er lief aus dem Wald in Richtung des Dorfes, das es ja nicht mehr gab.

Wohin sollte er nun fliehen? Er schlich über den Lagerplatz und beschnupperte alles. Er kam zu der Stelle, wo der Wigwam des Grauen Biber gestanden hatte. Mitten auf dem Platz setzte er sich nieder, hob den Kopf zum Mond und stieß ein herzzerreißendes Geheul aus, in dem seine Verlassenheit, seine Furcht, seine Sehnsucht nach Kische, sein Elend der Vergangenheit und seine Angst vor der Zukunft lagen.

Das Licht des anbrechenden Tages verjagte seine Furcht. Nun wusste er, was er zu tun hat. Er machte sich auf den Weg, rannte den ganzen Tag stromabwärts, lief den ganzen Tag, ohne auszuruhen. Sein eiserner Körper kannte keine Ermüdung, und selbst als diese kam, machte seine ererbte Ausdauer ihn zu endloser Anstrengung fähig, die den schmerzenden Körper rastlos vorwärts trieb.

Er kletterte über Anhöhen, schwamm durch Bäche und Flüsse, lief auf Eis, brach ein und kämpfte um sein Leben. Und immer wieder suchte er nach der Spur seines Gottes.

Schließlich hatte er vierzig Stunden nichts gefressen. Die Sohlen seiner Füße waren zerrissen und er hinkte. Schnee begann zu fallen, und das Gehen wurde immer schwerer und schmerzhafter.

An jenem Abend hatte die Frau des Grauen Biber einen Elch am Fluss gesehen, den der Indianer durch einen Schuss erlegte. Dann übernachteten sie am Ufer des Mackenzieflusses.

Die Nacht brach herein. Der Schnee fiel immer dichter, und leise vor sich hin wimmernd, stolperte und hinkte Wolfsblut vorwärts, als er auf eine frische Spur im Schnee traf. Er erkannte sie sofort. Eifrig winselnd verfolgte er sie vom Flussufer bis unter die Bäume. Die Töne des Lagers drangen an sein Ohr, er sah den Schein des Feuers und den Grauen Biber, der auf dem Boden hockte und ein Stück Talg aß.

Auf dem Bauche kriechend kam er dicht an das Feuer. Der Graue Biber sah ihn und hörte auf zu kauen. Langsam kroch Wolfsblut näher, demütig und unterwürfig, geradewegs auf den Grauen Biber zu. Endlich lag er zu den Füßen seines Herrn. Zitternd wartete er auf die Strafe. Schon bewegte sich die Hand über ihn. Unwillkürlich duckte er sich noch tiefer, aber es kam kein Schlag. Verstohlen blickte er empor. Da brach der Graue Biber das Stück Talg entzwei und reichte es ihm hin. Vorsichtig beroch es Wolfsblut, dann fing er an, es zu verzehren. Der Graue Biber ließ Fleisch bringen und wehrte die anderen Hunde ab, solange Wolfsblut fraß. Dankbar und zufrieden legte sich dieser zu Füßen seines Herrn nieder und schaute in das wärmende Feuer.

 

 

 

13. Der Bund mit dem Menschen

Der Dezember war zur Hälfte verstrichen, als der Graue Biber mit seiner Frau Klukutsch und seinem Sohn Mitsah den Mackenzie hinaufzog. Den einen Schlitten kutschierte er selbst, den anderen, kleineren, führte Mitsah. Das Gespann war dessen ganzer Stolz, weil er das Gefühl hatte, damit die Arbeit eines erwachsenen Mannes zu verrichten. Es bestand aus jungen Hunden, und er lernte dabei, diese abzurichten und zu lenken.

Wolfsblut hatte gesehen, wie die Hunde der Indianer im Gespann gingen. Deshalb nahm er es nicht übel, als man ihn zum ersten Mal anspannte. In dem Gespann gingen sieben junge Hunde. Man legte ihnen um den Nacken ein mit Moos wattiertes Halsband, woran ein Riemen befestigt war, der um die Brust und über den Rücken ging. Daran war ein Strick gebunden, der bei allen Hunden eine unterschiedliche Länge hatte. Der Unterschied betrug mindestens die Körperlänge eines Hundes, was verhinderte, dass sich die Hunde anfallen. Wollte doch ein Hund seinen Vordermann anfallen, so musste er schneller laufen, was dazu führte, dass auch der Angegriffene schneller lief. Aber kein Hund konnte den anderen einholen. Wollte ein Hund einen anderen, an einem kürzeren Strick angebundenen, angreifen, so musste er sich umwenden und befand sich sowohl dem Angegriffenen als auch der Peitsche des Menschen ausgeliefert.

Mitsah besaß viel von der Schlauheit seines Vaters. Er hatte früher beobachtet, dass Liplip, der jetzt ihm gehörte, Wolfsbluts Feind war. Nun nahm er Rache an ihm, indem er ihn an den längsten Strick band. Zwar wurde Liplip dadurch zum Führer, was scheinbar eine Ehre war, aber in Wirklichkeit wurde er von den anderen gehasst und verfolgt. Da er an dem längsten Strick zog, kam es den anderen immer so vor, als liefe er vor ihnen weg. Und dieser Anblick eines fliehenden Hundes erzeugte in ihnen das Verlangen, ihm nachzurennen.

Von dem Augenblick an, wo der Schlitten losfuhr, jagte also das Gespann hinter Liplip her. Zuerst versuchte er zornig, sich zu seinen Verfolgern umzuwenden, aber da bekam er Mitsahs Peitsche zu spüren. Daher blieb ihm nichts anderes übrig, als den Strick straff zu halten und die Beine aus dem Bereich der Zähne seiner Verfolger zu bringen.

Die Arbeit gefiel Wolfsblut. Er war treu zu den Menschen, die er inzwischen als seine Herren anerkannt hatte. Er arbeitete fleißig und war gehorsam.

Sein Verhältnis zu den anderen Hunden blieb aber feindselig. Er hatte nie mit ihnen gespielt, er verstand darum nur mit ihnen zu raufen, wobei er hundertfach die Bisse zurückgab, die er früher empfangen hatte. Er zwang die Hunde, ihn zu achten. Unter sich konnten sie tun, was sie wollten, aber sie mussten ihn in seiner Abgesondertheit in Ruhe lassen, ihm aus dem Wege gehen und wenn es ihm einfiel, sich kurz unter sie zu mischen, seine Überlegenheit anerkennen. Wer es sich einfallen ließ, ihm mit steifen Beinen entgegen zu gehen, ihm die Zähne zu zeigen oder das Haar zu sträuben, der konnte darauf gefasst sein, mit unbarmherziger Grausamkeit angegriffen und zur Vernunft gebracht zu werden.

Er war ein fürchterlicher Tyrann und seine Macht unbeugsam wie Stahl. Nicht umsonst war er in der Kindheit dem mitleidlosen Kampf ums Dasein ausgesetzt gewesen, als er und die Mutter allein und ohne Hilfe sich durchschlagen und in der feindseligen Umgebung der Wildnis das Leben fristen mussten.

Die Monate verstrichen. Die Fahrt des Grauen Biber ging immer weiter. Wolfsbluts Kräfte wuchsen durch die unaufhörliche Arbeit vor dem Schlitten.

 

 

 

14. Die Hungersnot

Der Frühling war ganz nah gekommen, als der Graue Biber seine Fahrt beendet hatte. Es war wieder April und Wolfsblut ein Jahr alt, als er in das heimische Dorf einzog. Schon jetzt konnte er sich mit erwachsenen Hunden messen, denn von beiden Eltern hatte er Wuchs und Stärke geerbt, und es fehlte ihm nur noch an Breite. Sein Körper war hager, und sein graues Fell zeigte die echte Wolfsfarbe.

Im Dorf sah er die Personen und Hunde wieder, die er vor der langen Fahrt gekannt hatte. Er hatte jetzt weniger Angst vor den Hunden und schritt mit sorgloser Sicherheit unter ihnen herum. Als ihm einmal ein älterer Hund das ihm zustehende Stück Fleisch wegfressen wollte, schnappte Wolfsblut seiner Gewohnheit gemäß ohne Vorwarnung zu und das Ohr des anderen hing in Fetzen herab. Dieser war durch die Plötzlichkeit des Angriffs so verblüfft, dass er von Wolfsblut umgeworfen werden konnte und am Hals gebissen wurde. Als er endlich wieder auf den Füßen stand, brachte dieser ihm noch zwei tiefe Wunden in der Schulter bei und einen Augenblick später war seine Nase aufgeschlitzt.

Der ältere Hund wagte keinen weiteren Kampf mit einem so blitzschnellen Feind. Dieses Abenteuer erhöhte Wolfsbluts Selbstvertrauen und seinen Stolz. Er suchte keinen Streit, aber er verlangte Achtung.

Um die Sommersonnenwende erlebte er etwas Merkwürdiges. Als er lautlos um einen neuen Wigwam strich, stieß er plötzlich auf Kische. Er blieb stehen und blickte sie an. Er erinnerte sich an sie, wenn auch nur dunkel, doch das war mehr, als man von ihr sagen konnte. Drohend wies sie ihm mit dem wohlbekannten Knurren die Zähne. Damit wurde seine Erinnerung noch deutlicher. Seine vergessene Kindheit kam ihm wieder in den Sinn. Bevor er die Menschen gekannt hatte, war sie für ihn der Mittelpunkt der Welt gewesen. Die alten vertrauten Gefühle jener Zeit stiegen in ihm auf. Er sprang freudig auf sie zu, aber sie empfing ihn mit blitzenden Zähnen und schlitzte ihm die Wange bis auf den Knochen auf. Er verstand das nicht und zog sich verwirrt zurück.

Kische hatte wie jede Wölfin gehandelt, die sich nicht an ihre früheren Kinder erinnern sollte. Wolfsblut war für sie ein Fremder, ein Eindringling und ihre jetzigen Jungen gaben ihr das Recht, seine Zudringlichkeit abzuwehren. Er sah zu, wie Kische ein Junges leckte und erkannte, dass sie ihm nichts mehr war. Was gewesen, war dahin. In seinem Leben hatte sie keine Stelle mehr, noch er in dem ihrigen.

Die Monate vergingen. Wäre Wolfsblut nie zum Feuer der Menschen gekommen, hätte die Wildnis einen echten Wolf aus ihm gemacht. So aber war er zum Hund geworden, der zwar etwas Wölfisches hatte, aber immerhin mehr Hund als Wolf war. Er wurde immer mürrischer, ungeselliger, einsamer, jähzorniger, und die Hunde sahen bald ein, dass es besser wäre, mit ihm in Frieden zu leben. Der Graue Biber aber fing an, ihn von Tag zu Tag mehr zu schätzen.

Im dritten Jahr seines Lebens brach über die Indianer am Mackenzie eine Hungersnot herein. Im Sommer waren die Fische knapp gewesen, und im Winter verließen die Rentiere ihr gewöhnliches Quartier. Die Elche wurden selten, die Kaninchen verschwanden fast ganz, und die Raubtiere starben oder fielen übereinander her. Nur die Starken blieben am Leben.

Die Indianer waren von jeher nur Jäger gewesen. Also starben die Alten und Schwachen vor Hunger. Es war viel Jammer und Wehklagen im Dorfe, denn die Frauen und Kinder hungerten, damit das wenige, das noch da war, den hageren Männern zugute käme, die vergeblich in die Wälder auf Jagd auszogen. So groß war die Not, dass die Menschen das weiche Leder ihrer Mokassins und Handschuhe verzehrten, während die Hunde sich über die Riemen und selbst über Peitschenschnüre hermachten. Auch fraßen die Hunde einander auf, und die Menschen aßen die Hunde. Einige der kühnsten und klügsten von ihnen verließen das Feuer des Lagers und flohen in den Wald, wo sie jedoch entweder verhungerten oder von den Wölfen zerrissen wurden.

Zu dieser Zeit schlich auch Wolfsblut fort in die Wälder. Er war durch seine erste Kindheit besser als die anderen Hunde auf dieses Leben vorbereitet. Er war besonders geschickt, die kleinen Lebewesen zu überfallen. Stundenlang lag er aufmerksam im Verborgenen, um dann wie ein Blitz aus dem Versteck auf die Beute zu springen. Nie verfehlte er sein Ziel.

Wenn der Hunger ihn gar zu sehr quälte, schlich er in die Nähe des Lagers und beraubte die Schlingen und Fallen der Indianer, wenn sich ein Wild darin gefangen hatte. Er stahl sogar dem Grauen Biber ein Kaninchen, als dieser völlig geschwächt sich im Wald hinsetzen musste.

Das Glück stand ihm bei. Immer, wenn er besonders schlimm dran war, fand er eine Beute. Dadurch besaß er noch so viel Kraft, dass er eines Tages einem ganzen Rudel hungriger Wölfe entfliehen konnte.

Am Anfang des Sommers, als die Not zu Ende ging, traf er auf Liplip, der ebenfalls in die Wälder geflohen war und ein elendes Dasein geführt hatte. Plötzlich standen sie sich Angesicht zu Angesicht gegenüber, hielten beide erschrocken inne und blickten sich misstrauisch an. Wolfsblut war in den letzten Tagen sehr erfolgreich gewesen und war wohlgenährt. Liplip versuchte auszuweichen, aber Wolfsblut stieß ihn so kräftig mit der Schulter, dass jener das Gleichgewicht verlor und auf den Rücken rollte. Ein Biss in den mageren Hals, und Liplip rang mit dem Tode, während Wolfsblut mit steifen Beinen und gespanntem Blick rund um den Feind herum ging.

Darauf setzte er seine Wanderung fort. Einige Tage später kam er an den Mackenzie, wo jetzt wieder ein Dorf stand. Der Anblick, die Töne, die Gerüche waren ihm wohlbekannt. Es war sein Dorf, nur an einem anderen Platz! Kein Wehklagen erklang mehr, denn es gab wieder Fische und andere Speisen. Wolfsblut trabte ins Lager gerade auf den Wigwam des Grauen Biber los. Dieser war nicht da, aber Klukutsch begrüßte ihn mit einem Freudenschrei und gab ihm einen ganzen Fisch. Er legte sich nieder, um auf die Rückkehr seines Herrn zu warten.

 

 

 

15. Der Feind seiner Gattung

Wolfsblut wurde Leithund des Gespanns. Von nun an hassten ihn die Hunde noch mehr, hassten ihn wegen des Fleisches, das Mitsah ihm besonders zuteilte, hassten ihn wegen anderer Begünstigungen, aber am meisten dafür, dass er mit wehendem Schwanz und fliehenden Hinterbeinen immer und ewig vor ihren Augen lief. In dem Augenblick, da Mitsah das Signal zur Abfahrt gab, sprang das ganze Gespann mit wildem Gekläff hinter ihm her.

Verteidigen konnte er sich nicht, denn kehrte er sich um, so traf ihn ein schmerzender Peitschenhieb von Mitsah ins Gesicht. Es blieb ihm nichts übrig als zu laufen, womit er seinem Stolz stets Gewalt antun musste. Jeder Trieb seines Wesens drängte ihn, auf die Hunde, die ihm an den Fersen kläfften, loszuspringen, aber der Wille seiner Götter als auch die Peitsche hinderten ihn daran.

Seine Bitterkeit, sein Hass und Groll wuchsen ständig. Er hasste seine eigene Gattung immer mehr. Ständig gab es Kämpfe mit den Hunden, allerdings konnten ihm die anderen nie viel anhaben, denn er war zu flink, zu stark, zu klug für sie.

Wolfsblut war verbittert und unversöhnlich. Er hatte allen Hunden den Krieg bis aufs Messer erklärt und führte das so schrecklich aus, dass selbst der Graue Biber sich über seine Wildheit wunderte. Noch nie hätte es einen solchen Hund gegeben, beteuerte er fluchend. Die Indianer in den fremden Dörfern fluchten auch, wenn sie die Zahl seiner Opfer unter ihren Hunden zusammenzählten.

Es war Sommer, als Wolfsblut mit dem Grauen Biber in Fort Yukon ankam, das der Hudsonbai-Gesellschaft gehörte. Hier hatten sich viele Indianer versammelt, es gab eine Menge Nahrungsmittel, und es herrschte große Aufregung. Es war der Sommer des Jahres 1898, und Tausende von Goldsuchern zogen nach Dawson und Klondike. Viele von ihnen hatten schon Hunderte von Meilen hinter sich.

Hier machte der Graue Biber halt. Er hatte viele Ballen Pelze und einen Haufen Handschuhe und Mokassins aus Fellen mitgebracht, die er mit riesigem Gewinn verkaufte. Er wollte so lange bleiben, bis er alle seine Waren an den Mann gebracht hatte.

In Fort Yukon erblickte Wolfsblut die ersten Weißen. Er hatte den Eindruck, dass diese noch mehr Macht besäßen, als die Menschen, die er bisher gekannt hatte, denn sie hatten Dinge, die er noch nie gesehen hatte. So imponierten ihm die aus mächtigen Blöcken gebauten Häuser des Forts. Sein bisheriger Gott - der Graue Biber - war ein Kind im Vergleich zu den Bleichgesichtern.

Er traute diesen höheren Wesen nicht. Man konnte nie wissen, was für Schrecken hinter ihnen lauerten. Er sah an jedem Tag mehr Menschen mit den Dampfern kommen und wieder abfahren, als er bisher in seinem ganzen Leben gesehen hatte.

Aber so stark und mächtig die weißen Leute auch waren, ihre Hunde taugten nicht viel, keiner verstand richtig zu kämpfen. Wolfsblut spürte nur Verachtung für sie, denn sie waren tölpelhaft und ungeschickt. Passte ein Hund nicht auf, so biss er ihn in die Kehle. Rollte der Besiegte in den Staub, so fielen die Indianerhunde über das Opfer her und rissen es in Stücke. Aber Wolfsblut war schlau. Er wusste, dass die Menschen sich ärgerten, wenn ihre Hunde getötet wurden. Also begnügte er sich damit, den Gegner zu besiegen und überließ es dem großen Haufen, ihm den Rest zu geben. Die Weißen ließen ihren Zorn an den anderen Hunden aus, und Wolfsblut kam ungeschoren davon. Er beobachtete aus sicherer Entfernung, wie gegen die anderen Steine, Knüttel und Waffen gebraucht wurden. Darüber amüsierte er sich.

Da der Graue Biber mit seinem Handel beschäftigt war, hatte Wolfsblut nichts zu tun. Er trieb sich mit der schlimmsten Bande der Indianerhunde am Landungsplatz der Dampfer herum. Die ankommenden Hunde stürzten auf ihn los, denn er war für sie die Verkörperung des Wilden, ein Wolf. Wolfsbluts Beschäftigung wurde es, sie zu töten, denn sein bisheriges Leben war so verlaufen, dass es keine freundlichen Eigenschaften in ihm gab. Er war ein mürrisches, einsames, blutdürstiges Geschöpf.

 

 

 

16. Der tolle Gott

Nur eine kleine Anzahl weißer Leute lebte in Fort Yukon, und sie waren schon seit langer Zeit dort ansässig. Sie blickten hochmütig auf die neuen Ankömmlinge herab und freuten sich, wenn es ihnen übel erging. Deshalb amüsierten sie sich über das Unheil, das Wolfsblut und sein Anhang unter den Hunden anrichtete. Sie kamen extra zu den ankommenden Dampfern, um sich den Spaß anzusehen. Dabei sahen sie auch, wie schlau und mordlustig sich Wolfsblut gebärdete.

Vor allem ergötzte sich ein Mann an dem Schauspiel und blickte mit begehrlichen Augen auf Wolfsblut. Die Leute im Fort nannten ihn den Schönen. Aber er war nicht schön, ganz im Gegenteil. Er war klein und auf dem hageren Körper saß ein winziger Kopf, der nach oben spitz zulief. Das Gesicht war breit, die Augen groß und weit voneinander entfernt. Der Kiefer sprang breit und massig vor, und die beiden Augenzähne ragten wie Stoßzähne zwischen den schmalen Lippen hervor. Weit und breit war er als erbärmlicher Feigling bekannt.

Im Fort musste er die Küche, das Aufwaschen und alle anfallenden Arbeiten besorgen. Dieser Mann war von Wolfsbluts Tapferkeit und Blutdurst so entzückt, dass er wünschte, ihn zu besitzen. Wolfsblut gefiel der Mann nicht, er witterte in ihm Schlimmes und fürchtete seine ausgestreckte Hand und die sanften Worte.

Als der Schöne zum ersten Mal den Grauen Biber besuchte, lag Wolfsblut bequem auf seinem Lager. Rasch stand er auf und entfernte sich. Während Schmitt - so war der Name des Schönen - mit dem Finger auf ihn wies, zeigte er knurrend die Zähne. Allein der Graue Biber hatte keine Lust, den Hund zu verkaufen. Wolfsblut war für ihn ein wertvolles Tier, der stärkste Schlittenhund, den er je gehabt hatte. Nein, Wolfsblut war um keinen Preis zu haben.

Doch Schmitt kannte die Indianer. Er besuchte den Grauen Biber oft und brachte jedes Mal versteckt unter seinem Rock ein paar Flaschen Branntwein mit. Der Graue Biber verlangte immer mehr von der brennenden Flüssigkeit, und sein Gehirn, durch den ungewohnten Alkohol verstört, trieb ihn an, alles zu tun, um noch mehr davon zu bekommen. Das Geld, das er für die Felle, die Handschuhe und die Mokassins eingenommen hatte, fing an zu schwinden, bis es ganz zu Ende war.

Übrig blieb der Durst. Da redete Schmitt wieder mit ihm über Wolfsblut. Bezahlen würde er ihn in Flaschen. Der Graue Biber spitzte die Ohren. "Wenn du den Hund greifen kannst, so magst du ihn haben", war des Grauen Bibers letztes Wort. Die Flaschen wurden übergeben, aber zwei Tage später hatte der Schöne noch keinen Erfolg gehabt und sagte: "Greif du den Hund!"

Wolfsblut wusste nicht, was ihm von dem Mann drohte, aber sein Instinkt befahl ihm, sich von Schmitt fernzuhalten. Seit Tagen war er nicht im Lager gewesen, aber nun legte er sich darin nieder. Da taumelte der Graue Biber auf ihn zu und schlang ihm einen ledernen Riemen um den Hals. Dann setzte er sich nieder; in der einen Hand das Ende des Riemens, in der anderen eine Flasche.

Nach einer Stunde kam Schmitt und blieb vor Wolfsblut stehen. Dieser knurrte und schnappte nach der ausgestreckten Hand. Dafür bekam er vom Grauen Biber ein paar kräftige Ohrfeigen, so dass er sich gehorsam tief zur Erde duckte.

Schmitt nahm den Riemen, aber Wolfsblut widersetzte sich. Er wollte auf den Mann losspringen, aber dieser gebrauchte einen Stock so tüchtig, dass er im Sprung zu Boden geworfen wurde. Der Graue Biber lachte. Da schlich Wolfsblut mit gesenktem Kopf und Schwanz hinterdrein. Wolfsblut war zu klug, um sich noch einmal zu wehren. Verdrossen und leise knurrend folgte er.

Im Fort angekommen, band ihn Schmitt fest an und ging schlafen. Wolfsblut wartete eine Stunde, dann biss er den Riemen in wenigen Sekunden durch und trabte ins Lager des Grauen Biber zurück.

Am folgenden Tag verabreichte ihm Schmitt eine tüchtige Tracht Prügel mit Stock und Peitsche. Da Wolfsblut angebunden war, musste er sich der Strafe unterwerfen. Nie in seinem Leben war er so geschlagen worden. Alles, was ihm bisher angetan wurde, war nichts dagegen, und Schmitt hatte seine Freude daran. Wie alle Feiglinge war er grausam.

Wolfsblut wusste wohl, warum er geschlagen worden war, aber seine Treue gehörte dem Grauen Biber. Er wurde wieder ins Fort zurück geschleppt. Diesmal band ihn Schmitt mit einem Stock fest. Aber der Hund gab nicht so leicht auf. Der Graue Biber hatte ihn zwar verraten, aber er war sein Herr. Also machte er sich nachts daran, den Stock durchzunagen. Das Holz war hart und trocken und der Stock fest an seinem Hals angebunden, dennoch gelang es ihm durch unendliche Geduld, sich zu befreien.

Seine Treue zwang ihn, zum Grauen Biber zurückzukehren, der ihn schon zweimal verraten hatte. Wieder ließ er sich den ledernen Riemen um den Hals binden, wieder kam Schmitt ihn zu holen, wieder wurde er schlimmer als je zuvor geprügelt. Der Graue Biber sah unbewegt zu. Der Hund gehörte ihm nicht mehr, also kümmerte er sich nicht um ihn. Ein anderer Hund wäre an den Verletzungen gestorben, aber Wolfsbluts Lebensschule war hart gewesen. Halb blind und taumelnd schleppte er sich hinter Schmitt ins Fort. Diesmal wurde er an eine Kette gebunden.

Ein paar Tage später machte sich der Graue Biber bankrott, aber nüchtern auf die Heimreise zum Mackenzie. Wolfsblut blieb am Yukon, das Eigentum eines Menschen, der halb verrückt und durch und durch grausam war. Aber für ihn war Schmitt nun sein Herr, und er wusste, dass er sich dem Willen dieses neuen Herrn unterwerfen musste.

 

 

 

17. Das Regiment des Hasses

Unter der neuen Herrschaft wurde Wolfsblut zum Teufel. Schmitt hielt ihn im Hundestall an der Kette, neckte und reizte ihn und machte ihn durch Quälereien wild. Früher war Wolfsblut der Feind der Hunde gewesen. Jetzt wurde er jedermanns Feind. Er hasste alles.

Eines Tages versammelte sich eine große Menschenmenge um den Käfig. Schmitt ging mit einem Stock hinein und löste die Kette. Wolfsblut rannte im Stall herum und versuchte, die Leute draußen anzufallen. Er sah furchtbar und doch prächtig aus. Alles war bei ihm Muskeln, Knochen und Sehnen.

Die Tür des Käfigs wurde wieder geöffnet und ein mächtiger Hund wurde hinein geschoben. Seine Größe und sein drohendes Aussehen flößten Wolfsblut keine Furcht ein. Er sah ihn als etwas, woran er seine Wut auslassen konnte. Im Nu sprang er mit blitzenden Zähnen auf ihn los und riss ihm den Hals an der Seite auf. Der andere schüttelte den Kopf, grollte heiser und stürzte sich auf den Angreifer. Aber Wolfsblut war überall und nirgends, wich aus, sprang zu, verwundete ihn mit den Zähnen und sprang wieder weg, um der Rache zu entgehen.

Die Draußenstehenden jubelten und klatschten in die Hände. Der fremde Hund hatte keine Chance. Endlich trieb Schmitt Wolfsblut mit einem Knüttel zurück. Dann klimperte Geld, und die Wetten wurden an Schmitt ausgezahlt.

Von nun an war Wolfsblut zufrieden, wenn sich Leute um den Käfig versammelten. Das bedeutete einen Kampf! Da er als Gefangener gehalten und zum Hass angestachelt wurde, so konnte er diesem nur Luft machen, wenn ihm ein Hund gegenübergestellt wurde. Stets ging er als Sieger aus den Kämpfen hervor.

Eines Tages wurden zwei Hunde zu gleicher Zeit auf ihn gehetzt. Dieser Kampf war der schlimmste. Auch wenn am Ende beide tot auf dem Kampfplatz lagen, war Wolfsblut selbst halb tot nach der Schlacht.

Als im Herbst der erste Schnee fiel, fuhr Schmitt mit Wolfsblut auf einem Dampfer nach Dawson. Wolfsblut befand sich in einem Käfig und wurde ständig von Neugierigen umringt, denn er war weithin als streitbarer Wolf bekannt. Er knurrte diese entweder wütend an oder lag still und beobachtete sie mit stillem Hass.

Früher hatte sich Wolfsblut vor seinem, mit einem Prügel bewaffneten Menschen, geduckt, aber das war nun nicht mehr der Fall. Der bloße Anblick Schmitts konnte ihn in Raserei versetzen. Wurde er mit dem Stock zurückgescheucht, knurrte er zähnefletschend. Nie konnte er zum Schweigen gebracht werden.

Als der Dampfer in Dawson ankam, wurde Wolfsblut im Käfig an Land gebracht, zur Schau gestellt und von Neugierigen umringt. Die Leute zahlten fünfzig Cent in Goldstaub, um ihn zu sehen. Nie hatte er Ruhe. Legte er sich zum Schlafen nieder, wurde er mit einem Stock gestoßen, denn die Leute wollten für ihr Geld etwas sehen.

Schmitt verwendete ihn auch weiterhin als Preiskämpfer. Er kämpfte mit Hunden von jeder Größe und Gattung. In einem wilden Land und unter wilden Leuten endete ein solcher Kampf meist mit dem Tode des einen, aber Wolfsblut blieb stets der Überlebende. Mit der Zeit wurden die Preisgefechte immer seltener, denn die Leute gaben es auf, ihre Hunde zu opfern.

Nun besorgte sich Schmitt Wölfe von den Indianern. Ein Kampf zwischen Wolfsblut und einem solchen zog stets eine große Zuschauermenge an. Einmal wurde ihm eine Luchsin gegenübergestellt. Sie kämpften auf Leben und Tod, denn ihre Schnelligkeit und Wildheit waren der seinen gleich. Allerdings kämpfte sie außer den Zähnen auch noch mit ihren Krallen.

Nach diesem Kampf hatte Wolfsblut Ruhe, denn es gab kein Tier mehr, das sich mit ihm messen konnte. Er wurde nur zur Schau gestellt bis zu dem Tag, als ein gewisser Tim Keenan, der Besitzer einer Spielbank, ins Land kam. Er brachte die erste Bulldogge mit, die man je in Klondike gesehen hatte. Dieser Hund sollte sich mit Wolfsblut messen. Eine Woche lang war der Kampf das Hauptthema der Gespräche.

 

 

 

18. Im Rachen des Todes

Schmitt löste die Kette und trat zurück, aber Wolfsblut zögerte mit dem Angriff. Er stand still, mit gespitzten Ohren, und besah sich neugierig das seltsame Tier, das da vor ihm stand. Tim Keenan schob die Bulldogge vorwärts und murmelte: "Nimm ihn!" Klein, breit und unschön watschelte sie bis in die Mitte des Kreises. Hier blieb sie stehen und blickte hinüber zu Wolfsblut. Aus der Menge ertönten laute Rufe: "Nimm ihn, Cherokee! Drauf, Cherokee!"

Aber Cherokee war nicht begierig auf den Kampf. Er blickte die schreienden Männer an und wedelte gutmütig mit dem Schwanzstumpf. Er hatte keine Furcht, er war nur träge.

Tim Keenan trat zu ihm, strich ihm mit beiden Händen die Schultern entlang gegen das Haar und schob ihn dabei vorwärts. Cherokee begann zu grollen, was nicht ohne Wirkung auf Wolfsblut blieb. Sein Haar sträubte sich im Nacken und an den Schultern. Plötzlich raste Cherokee krummbeinig und geschwind vorwärts. Wolfsblut schnappte zu. Cherokee blutete an einem Ohr und hatte einen Schlitz an dem dicken Hals.

Nach diesem Angriff war Wolfsblut weggesprungen, aber Cherokee verfolgte ihn. Immer wieder sprang Wolfsblut zu, biss und sprang unverletzt zurück. Aber unablässig folgte ihm der seltsame Feind, ohne sich zu beeilen, aber entschlossen. Die Wetten in der Menge stiegen immer höher.

Wolfsblut war verwundert. Nie hatte er einen Hund gesehen, der keinen dichten Pelz hatte, dessen weiches Fleisch bei jedem Biss blutete, aber der nie aufschrie, wie er es von anderen Hunden gewohnt war. An die weiche Stelle unten an der Kehle konnte er nicht kommen, dazu war die Dogge zu niedrig.

Cherokee blutete aus vielen Wunden, denn Kopf und Hals waren ihm an beiden Seiten zerschlitzt und zerrissen, doch zeigte er keine Spur von Mutlosigkeit. Der Kampf dauerte an. Wolfsblut teilte weiter Wunden aus und mit immer gleicher grimmiger Beharrlichkeit rannte der andere hinter ihm her. Von Zeit zu Zeit versuchte Wolfsblut, Cherokee umzuwerfen, was ihm nicht gelang, da sie zu ungleich in der Höhe waren.

Einmal wollte Wolfsblut an die Schulter der Dogge stoßen, aber da er diese weit überragte und sein Stoß kräftig gewesen war, verlor er das Gleichgewicht und purzelte über den Gegner hin. Er verlor den Boden unter den Füßen und überschlug sich in der Luft. Er fiel schwer auf die Seite, stand jedoch im nächsten Augenblick auf den Füßen. Diesen Augenblick hatte Cherokee aber genutzt und ihn an der Kehle gepackt. Allein sein Griff war zu niedrig gewesen und so hielt er Wolfsblut an der Brust fest. Dieser wollte ihn abschütteln, denn das Gewicht am Hals machte ihn rasend.

So rannte er immer im Kreis herum, wandte sich hin und her und versuchte die Last abzuschütteln. Doch Cherokee hielt fest.

Endlich hielt Wolfsblut inne. Er war müde und konnte nichts tun. Das verstand er nicht. Bei all seinen Kämpfen war ihm noch nie so etwas passiert. Nie hatte ein Hund so gekämpft! Er legte sich nieder und rang keuchend nach Atem. Cherokee hielt ihn weiter fest, und bei einer Aktion gelang es ihm, Wolfsblut auf den Rücken zu wälzen. Ohne seine Kehle loszulassen, stand er nun über ihm. Die Zähne der Dogge bewegten sich immer weiter auf die große Ader am Hals zu. Wolfsblut konnte nur noch mit Schwierigkeiten atmen.

Es hatte den Anschein, als ob der Kampf vorüber wäre. Da trat Schmitt in den Kreis, zeigte mit dem Finger auf Wolfsblut und begann höhnisch zu lachen. Dies brachte die gewünschte Wirkung hervor. Wolfsblut wurde wild vor Wut. Er raffte die letzten Kräfte zusammen und sprang empor. Sein Wille zu leben gewann die Oberhand. Allein seine Kräfte reichten nicht mehr aus. Zuletzt fiel er hintenüber, und schnell schob die Dogge ihre Zähne weiter empor. Jubelnder Beifall erhob sich für den Sieger; man schrie: "Hoch, Cherokee!"

Plötzlich durchlief eine Bewegung die Zuschauer. Der Ton von Schlittenglocken ließ sich vernehmen, auch die Rufe eines Hundetreibers. Zwei Männer kamen mit einem mit Hunden bespannten Schlitten der erregten Menschenmenge näher.

Der Hundetreiber trug einen Schnurrbart. Der andere, größere und jüngere Mann, war glatt rasiert, und sein Gesicht sah von der kalten Luft ganz rosig aus.

Unterdessen sah Schmitt, wie Wolfsbluts Augen starr wurden, und er wusste, dass der Kampf verloren war. In seinem Ärger sprang er auf Wolfsblut los und stieß ihn heftig mit den Füßen. Da drängte sich der große Mann durch die Leute. Als er in den Kreis trat, war Schmitt gerade dabei, zu einem neuen Fußtritt auszuholen. Der Ankömmling versetzte ihm einen derben Schlag ins Gesicht. Schmitts Fuß verließ den Boden, sein Körper flog durch die Luft und fiel der Länge nach in den Schnee.

Der junge Mann wandte sich an die Zuschauer. "Ihr Feiglinge!", schrie er. "Bestien, die ihr seid!" Er war wütend und seine grauen Augen blitzten wie Stahl, als sie über die Menge glitten.

Beide Männer beugten sich über die Hunde. Matt, der Hundetreiber, ergriff Wolfsblut, der andere, Scott, versuchte, Cherokees Kinnladen zu öffnen, die immer kräftiger zudrückten. Sie schlugen ihm auf den Kopf, schoben den Lauf eines Revolvers zwischen die Kinnladen, aber es nütze nichts. Keiner der Umstehenden half ihnen, die Hunde zu trennen.

Schließlich trat Tim Keenan in den Kreis. Er herrschte die Männer an, seinem Hund ja nicht die Zähne entzwei zu brechen, konnte ihnen aber auch nicht helfen, seinen Hund zum Öffnen der Zähne zu bewegen. Die Männer nahmen keine Notiz mehr von ihm. Scott war es gelungen, das Rohr des Revolvers auf der einen Seite zwischen die Kinnladen der Docke zu schieben. Nun versuchte er, es auf der anderen Seite heraus zu bekommen. Als dies endlich geglückt war, bewegte er es vorsichtig wie einen Hebel, so dass er allmählich die Kinnladen lockerte. Matt zog vorsichtig Wolfsbluts zerfleischten Hals hervor.

Die Hunde waren getrennt, aber die Dogge strebte mit aller Macht vorwärts. "Nehmen Sie den Hund weg!", gebot Scott, und Tim Keenan zog Cherokee in den Kreis der Zuschauer zurück.

Wolfsblut machte einige Versuche, sich auf die Füße zu stellen, aber die Beine waren zu schwach, ihn zu tragen, und er sank langsam auf den Schnee zurück. Seine Augen waren halb geschlossen und glasig, das Maul stand offen, und die Zunge hing schlaff aus dem Hals heraus. Matt untersuchte ihn.

"Matt, wie viel ist ein guter Schlittenhund wert?", fragte Scott.

Der Hundetreiber rechnete einen Augenblick. "Dreihundert Dollar", antwortete er dann.

"Und wie viel einer, der so zerrissen und zerfleischt ist, wie der da?", fragte Scott, indem er Wolfsblut mit der Fußspitze berührte.

"Die Hälfte", lautete die Antwort des Hundetreibers.

Scott wandte sich an Schmitt. "Haben Sie gehört, Sie Bestie? Ich nehme ihnen den Hund ab und gebe Ihnen hundertfünfzig Dollar dafür." Dabei öffnete er seine Brieftasche und zählte die Scheine ab.

Schmitt entgegnete: "Ich verkaufe ihn aber nicht."

"Doch! Weil ich ihn kaufe! Sie haben kein Recht mehr auf diesen Hund. Hier ist das Geld. Der Hund gehört mir." Als Schmitt noch immer protestieren wollte, holte Scott wieder zum Schlag aus. Da lenkte er ein.

Tim Keenan fragte einige Männer, wer das Großmaul sei, das sich in ihre Angelegenheiten eingemischt hatte. "Weedon Scott, einer von den allerersten Minenexperten. Er steht sich mit all den großen Tieren gut da. Wenn Sie nicht in Ungelegenheiten kommen wollen, so geraten Sie ihm nicht in die Quere, das rate ich Ihnen. Er hat alle Beamten in der Tasche. Der Gouverneur ist ein Duzfreund von ihm."

 

 

 

19. Unzähmbar

Scott und der Hundetreiber saßen hoffnungslos auf den Treppen des Blockhauses. Beide blickten zu Wolfsblut, der mit gesträubtem Haar und zähnefletschend wild an der Kette zerrte.

"Er ist ein Wolf, und da hilft kein Zähmen", erklärte Scott.

"Das weiß ich nicht genau", warf Matt ein. "Mir scheint, dass doch ein guter Teil vom Hunde in ihm ist. Aber eines weiß ich ganz sicher: Gezähmt ist er schon, und er ist auch schon angespannt worden. Schauen Sie ihn sich nur genauer an. Sehen Sie nicht die Spuren auf der Brust?"

"Sie haben recht, Matt. Er ist ein Schlittenhund gewesen, bevor der schöne Schmitt ihn in die Klauen bekam."

"Und warum sollte er nicht wieder ein Schlittenhund werden?"

"Meinen Sie? Wir haben ihn nun schon vierzehn Tage, und er ist noch ebenso wild, wenn nicht gar noch wilder als am ersten Tag." Scott schüttelte zweifelnd den Kopf.

"Haben Sie nur Geduld", beschwichtigte Matt. "Lassen Sie ihn einmal eine Weile los. Ich weiß, dass Sie es versucht haben. Aber damals nahmen Sie auch keinen Stock mit."

Der Hundetreiber ergriff einen Knüttel und ging zu Wolfsblut hin. Als die Hand des Mannes dem Hals des Hundes näher kam, wies Wolfsblut knurrend die Zähne und duckte sich. Dabei ließ er den Knüttel nicht aus den Augen.

Als Matt die Kette gelöst hatte, trat er zurück. Wolfsblut konnte es nicht glauben, dass er frei sei. Seit Monaten hatte er keinen Augenblick in Freiheit verbracht, außer wenn er kämpfen musste. Er wusste nicht, wie er sich diese Freiheit erklären sollte. War es eine neue Teufelei der Menschen? Er hielt sich misstrauisch von den beiden Männern fern und schritt bis zur Ecke des Blockhauses. Als nichts geschah, kehrte er wieder zurück.

Scott fragte: "Wird er weglaufen, der arme Teufel? Was ihm fehlt, ist ein bisschen freundliche Behandlung." Er ging ins Haus und kam mit einem Stück Fleisch heraus, das er Wolfsblut hinwarf. Der betrachtete es voller Argwohn, aber einer der Schlittenhunde stürzte sofort darauf los. Doch Wolfsblut war schneller als er, stieß ihn zu Boden und biss ihn in den Hals.

Matt wollte Wolfsblut dafür einen Tritt mit dem Fuß versetzen. Dann ging alles ganz schnell: ein Sprung, ein Aufblitzen der Zähne, ein Schmerzensschrei und Wolfsblut zog sich, fürchterlich knurrend, zurück. Matt bückte sich und untersuchte das gebissene Bein.

"Ich sagte ja, es ist hoffnungslos, Matt", seufzte Scott. "Ich habe mir die Sache immer wieder überlegt, aber nun ist es soweit. Es ist das Einzige, was man tun kann." Damit zog er den Revolver heraus.

"Sehen Sie, Herr Scott", entgegnete Matt, "der Hund hat ein Leben wie in der Hölle geführt. Da können Sie doch nicht erwarten, dass er plötzlich wie ein Engel sein soll. Geben Sie ihm doch nur Zeit! Versuchen Sie es noch einmal mit ihm, und wenn er wieder nichts taugt, dann will ich selbst ihn töten."

"Gott weiß, dass ich seinen Tod nicht will", erwiderte Scott, indem er den Revolver einsteckte. "Wir wollen ihn frei herumlaufen lassen und sehen, was Güte bei ihm tun kann. Ich fange gleich damit an." Er ging zu Wolfsblut hin und sprach leise und freundlich zu ihm.

"Nehmen Sie einen Stock mit!", riet Matt.

Scott schüttelte den Kopf, aber Wolfsblut traute dem Frieden nicht. Ihm drohte bestimmt eine Strafe, denn er hatte den Hund des Herrn getötet. Sein Haar sträubte sich. Mit gespanntem Auge und kampfbereitem Körper ließ er den Mann nahe kommen. Und da kam auch schon die Hand näher. Er wusste, wie weh ihm die Hände der Menschen tun konnten.

Weedon Scott hatte geglaubt, dass er dem Biss rasch genug ausweichen könnte, doch er lernte die erstaunliche Schnelligkeit Wolfsbluts kennen. Scott schrie überrascht auf, und Matt stieß einen derben Fluch aus. Wolfsblut schritt geduckt rückwärts, zähnefletschend und mit bösem, drohendem Blick, denn ihn würden fürchterliche Prügel erwarten.

"Matt, was machen Sie da?", schrie Scott plötzlich. Matt war ins Haus gestürzt und kam mit einer Büchse heraus.

"Ich will nur das ausführen, womit ich vorhin gedroht habe. Ich denke, ich schieße ihn tot."

"Nein, das sollen Sie nicht. Sie haben doch selber gesagt, wir müssten ihm Zeit lassen, und das müssen wir tun. Wir haben doch erst einen Anfang gemacht und können nicht gleich die Geduld verlieren. Aber sehen Sie sich das an!"

Wolfsblut knurrte Matt an, und in dem Augenblick, als der Mann die Waffe wegstellte, beruhigte er sich. "Ich bin Ihrer Meinung, Herr Scott. Der Hund ist viel zu klug, um totgemacht zu werden."

 

 

 

20. Der Gebieter

Vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit Wolfsblut in die Hand des Herrn gebissen hatte. Nun wartete er auf die Strafe, und sein Haar stäubte sich, als er sah, dass sich Weedon Scott ihm näherte.

Der Mann setzte sich einige Fuß weit von ihm entfernt nieder, was allerdings nicht gefährlich aussah. Er würde abwarten. Dann fing der Mann an zu sprechen, und Wolfsblut fing an zu knurren. Der Mann redete ohne Aufhören und so, wie noch nie jemand mit Wolfsblut gesprochen hatte. Es klang sanft und so freundlich, dass er in seinem Inneren irgendwie angenehm berührt wurde. Unwillkürlich fing er an, zu diesem Menschen Vertrauen zu fassen.

Das währte eine lange Weile, dann stand Scott auf und ging ins Haus hinein. Wolfsblut betrachtete ihn genau, als er wieder heraus kam, aber er konnte keinen Knüttel, keine Waffe oder etwas Ähnliches entdecken. Scott setzte sich wieder wenige Schritte von Wolfsblut entfernt nieder und hielt ihm ein Stückchen Fleisch hin. Wolfsblut spitzte die Ohren und betrachtete es misstrauisch, indem er Scott nicht aus den Augen ließ. Er dachte an seine früheren schrecklichen Erfahrungen und war vorsichtig.

Endlich warf Scott das Fleisch dicht vor Wolfsbluts Füßen auf den Schnee hin. Dieser beroch es sorgfältig, ohne ein Auge von dem Mann zu wenden. Da ihm nichts passierte, verschlang er den Bissen. Noch mehrmals wurden ihm Fleischstücke hingeworfen, die er fraß, ohne dass etwas geschah.

Dann kam der Augenblick, wo Scott sich weigerte, ihm das Fleisch hinzuwerfen. Er reichte es ihm mit der Hand. Das Fleisch schmeckte gut, und Wolfsblut war hungrig. Schritt für Schritt, mit unendlicher Vorsicht, näherte er sich der Hand. Er ließ ein leises Grollen als Warnung ertönen. Nun verzehrte er das Fleisch Stück für Stück, ohne dass eine Züchtigung kam.

Er leckte sich das Maul und wartete, während Scott mit ihm redete. Die Stimme war gütig und weckte in ihm Empfindungen, die er noch nicht kannte. Wolfsblut überkam eine seltsame Zufriedenheit.

Als sich die Hand seinem Kopf näherte, wurde er sofort wieder misstrauisch. Aber der Mann redete immer weiter, und die Stimme klang sanft und vertrauenserweckend. Die Hand kam immer näher. Jetzt berührte sie die Spitzen der zu Berge stehenden Haare. Er duckte sich, aber die Hand folgte ihm und presste sich dicht an ihn. Die Berührung war ihm eine Qual, denn sie tat seinem Instinkt Gewalt an. Er konnte nicht an einem Tag all das Böse vergessen, das Menschenhände ihm angetan hatten.

Aber es war der Wille dieses neuen Herrn, und Wolfsblut zwang sich zur Unterwerfung. Dann hob sich die Hand und senkte sich wieder und klopfte ihn liebkosend. Das wiederholte sich eine Weile lang. Dabei grollte Wolfsblut leise als Warnung, dass er zugefügte Schmerzen heimzahlen würde.

Die Liebkosung war angenehm, ja, als das Klopfen sich langsam in ein Krauen der Ohren verwandelte, war es ein wirkliches, körperliches Vergnügen. Dennoch blieb er auf der Hut.

"Na, da soll doch gleich das Donnerwetter dreinschlagen!", sprach Matt, der aus dem Blockhaus kam.

Weedon Scott lächelte überlegen, stand auf und trat dicht an Wolfsblut heran. Er sprach sanft mit ihm und legte dann langsam die Hand auf seinen Kopf, indem er ihn wieder streichelnd liebkoste. Wolfsblut ließ es geschehen, heftete jedoch misstrauisch die Augen auf den anderen Mann.

"Sie mögen wohl viel von den Goldgruben verstehen", ließ sich der Hundetreiber vernehmen, "aber eigentlich hätten Sie als Tierbändiger in den Zirkus eintreten sollen."

Das war für Wolfsblut der Anfang vom Ende seines alten Lebens und der Herrschaft des Hasses. Ein neues, unendlich schönes Leben begann. Weedon Scott hatte viel Geduld, denn Wolfsbluts Wesen musste vollständig umgewälzt werden. Dieser Mann weckte in ihm die Kräfte der Liebe.

Diese Liebe kam aber nicht an einem Tag, sondern entwickelte sich allmählich. Wolfsblut lief nicht weg, denn er hatte den neuen Herrn gern. Er zeigte seine Untertänigkeit dadurch, dass er das Eigentum des Herrn bewachte. Wenn die Schlittenhunde schliefen, wanderte er um das Blockhaus herum. Er lernte, Diebe von ehrlichen Leuten zu unterscheiden, indem er ihren Gang und ihre Haltung beurteilte.

Weedon Scott hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Unrecht, das die Menschen Wolfsblut angetan hatten, wieder gut zu machen. Jeden Tag machte er es sich zur Pflicht, gut und freundlich zu Wolfsblut zu sein und ihn lange zu liebkosen und zu streicheln.

So misstrauisch, ja feindselig er dies anfangs hingenommen hatte, so gewann er dieses Streicheln nach und nach lieb. Allerdings grollte er dabei stets vom Anfang bis zum Ende, aber es lag ein neuer Klang darin, was nur Scotts Ohren hören konnten. Für Fremde klang Wolfsbluts Knurren noch immer wild, denn seine Kehle war durch die vielen grimmigen Laute, die er in all den Jahren ausgestoßen hatte, rau geworden.

Die Tage vergingen, und Wolfsbluts Neigung entwickelte sich zur Liebe. Er fühlte sie, ohne dass er wusste, was es ist. Wenn sein neuer Herr nicht da war, empfand er Unruhe und Sehnsucht, aber in seiner Gegenwart ging diese Liebe oft in wilde Freude über. Für ihn nahm er alle Unbequemlichkeiten auf sich. Statt am frühen Morgen, wie er es sonst zu tun pflegte, auf Raub herumzulaufen oder in einem warmen Winkel zu liegen, lag er nun auf den kalten Treppenstufen und wartete auf das Eintreffen des Herrn. Nachts verließ er bei dessen Erscheinen den geschützten Platz, den er sich im Schnee gegraben hatte, nur um eine freundliche Berührung seiner Hand, ein Wort zum Gruß zu empfangen. Selbst sein Futter konnte er stehen lassen, um einen Gang mit dem Herrn in die Stadt zu machen oder eine Liebkosung von ihm zu erhaschen.

Was ihm gegeben wurde, das gab er reichlich wieder. Sein Herr war für ihn wirklich ein Gott, liebevoll, warm und strahlend. In dem Licht seiner Liebe entwickelte sich Wolfsbluts Wesen wie eine Blume in der Sonne. Trotzdem blieb er zurückhaltend und scheu, wofür seine lange Vereinsamung die Schuld trug.

Ihm wurde beigebracht, die Hunde des Herrn in Ruhe zu lassen, und sie gingen ihm aus dem Weg. Nach und nach lernte er Matt als zum Herrn gehörig anzusehen. Er wurde zum Leithund des Schlittengespanns. Trotzdem Wolfsblut den ganzen Tag über vor dem Schlitten arbeitete, gab er nachts die Wache über das Eigentum seines Herrn nicht auf. Stets auf dem Posten, immer wachsam und treu, wurde er bald der wertvollste aller Hunde.

Im späten Frühling brach ein großer Kummer über Wolfsblut herein. Ohne eine Ankündigung verschwand plötzlich der Gebieter. In der ersten Nacht wartete er trotz des kalten Windes voll ängstlicher Sorge auf den kalten Stufen des Hauses vergeblich auf ihn.

Am Morgen erschien Matt, und Wolfsblut blickte ihn fragend an, aber es gab keine Sprache, um sich miteinander zu verständigen. Die Tage kamen und gingen, aber kein Herr erschien. Wolfsblut fing an zu kränkeln, ja, er wurde so schwach, dass Matt ihn ins Blockhaus nehmen musste. Matt schrieb in seiner Not eine Nachricht an Weedon Scott:

"Der verdammte Wolf will nicht arbeiten, frisst auch nicht mehr, hat gar keinen Lebensmut. All die anderen Hunde kriegen ihn unter. Er weiß nicht, was aus Ihnen geworden ist, und ich kann es ihm nicht beibringen. Am Ende stirbt er noch!"

Wolfsblut lag nahe am Ofen, ohne sich um sein Futter, um Matt und alles rings um ihn zu kümmern. Ob Matt freundlich zu ihm sprach oder über ihn fluchte, das war ihm egal. Manchmal wendete er die trüben Augen nach ihm, ließ dann aber den Kopf wieder traurig auf die Vorderpfoten fallen.

Eines Abends jedoch überraschte Matt ein leises Gewinsel von Wolfsblut. Dieser hatte sich aufgerichtet und den Kopf nach der Tür gewandt. Einen Augenblick später öffnete sich diese, und Weedon Scott trat ein. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände und Scott fragte: "Wo ist Wolfsblut?"

Der stand wartend am Ofen und wedelte mit dem Schwanz. Weedon Scott machte ein paar Schritte auf ihn zu und rief ihn. Wolfsblut kam langsam und verlegen näher. Scott hockte auf den Fersen, so dass er Wolfsblut Auge in Auge anblicken konnte. Er liebkoste ihn, indem er ihm die Ohren kraute, ihm Nacken und Schultern streichelte und ihm sanft auf den Rücken klopfte. Da gab auch Wolfsblut seiner großen Liebe einen neuen Ausdruck. Er streckte den Kopf vor und steckte ihn unter den Arm des Herrn, tief, tief hinein, so dass nichts weiter als die Ohren zu sehen waren. Diesmal grollte er auch nicht, sondern schmiegte sich nur immer tiefer hinein.

Die beiden Männer blickten einander an, und in Scotts Augen glitzerten Tränen.

Von dem Augenblick an, da sein Gebieter zurückgekehrt war, erholte sich Wolfsblut rasch. Zwei Nächte und einen Tag blieb er noch drinnen, dann rannte er hinaus. Die Schlittenhunde hatten seinen Mut und seine Stärke vergessen, aber Wolfsblut erinnerte sie schnell daran. Die Hunde traten daraufhin einen schmachvollen Rückzug an und bezeigten demütig ihren Gehorsam.

Wolfsblut liebte es jetzt, seinen Kopf unter den Arm des Herrn zu stecken. Sein Kopf war bisher dasjenige gewesen, was er immer eifersüchtig behütet hatte. Er hatte es nie gemocht, dass dieser berührt wurde. Der Instinkt der Wildnis hatte ihm zugeflüstert, dass der Kopf frei bleiben müsste. Sein jetziges Verbergen des Kopfes unter dem Arm des Gebieters war der Ausdruck vollkommenen Vertrauens, gänzlicher Hingabe.

Eines Abends saßen Scott und Matt beim Kartenspiel, als draußen ein gellender Schrei ertönte, dem ein lautes Knurren folgte. Die beiden Männer blickten sich an und sprangen auf. "Wolf hat einen gepackt!", rief Matt. Ein wilder Schrei, wie der eines Menschen in Todesangst, beschleunigte ihre Schritte.

Im Schein einer Lampe sahen sie einen Menschen im Schnee auf dem Rücken liegen. Er hatte das Gesicht und den Hals mit den Armen bedeckt, um sich vor Wolfsbluts Zähnen zu schützen. Das war auch notwendig, denn dieser versuchte immer wieder, ihm an die Kehle zu kommen. Die Jacke war schon in Fetzen gerissen, und die Arme waren schrecklich zerbissen und blutüberströmt. Scott packte Wolfsblut an der Kehle und zerrte ihn weg. Auf ein Wort seines Herrn hin beruhigte er sich schnell.

Matt half dem Mann auf. Als dieser auf den Beinen stand und die Arme sinken ließ, erkannten sie den schönen Schmitt. Matt bemerkte zwei Gegenstände, die im Schnee lagen, eine stählerne Kette und einen derben Knüttel. Die Männer sprachen kein Wort, aber Schmitt verstand, dass er augenblicklich verschwinden musste.

Der Gebieter streichelte Wolfsblut und sprach zu ihm. "Der wollte versuchen dich zu stehlen, he? Und du wolltest das nicht zulassen? Ja, ja, der hat sich geirrt, nicht wahr?" Wolfsblut grollte noch immer, erregt und mit gesträubtem Haar, aber den liebkosenden Ton der Stimme konnte er immer deutlicher in sich hören.

 

 

 

21. Die lange Fahrt

Es lag etwas in der Luft. Wolfsblut witterte ein nahes Unglück, noch bevor es sichtbar war. "Hören Sie sich das bloß an!", rief Matt eines Abends. Weedon Scott lauschte. Durch die Tür drang ein leises und angstvolles Stöhnen, das wie ein unterdrücktes Schluchzen klang. Dann kam ein lang gezogenes Schnüffeln, als ob Wolfsblut sich überzeugen wollte, dass der Herr noch drinnen sei und nicht wieder allein die Flucht ergriffen hätte.

"Ich glaube wirklich, Wolf hat Verdacht geschöpft", sagte der Hundetreiber.

Weedon Scott blickte seinen Gefährten fast flehend an. "Was, zum Henker, sollte ich wohl in Kalifornien mit einem Wolf anfangen?" Aber er schien selbst nicht zufrieden zu sein. "Die Hunde der weißen Leute können ja gar nicht gegen ihn aufkommen. Er würde sie sofort totmachen, und ich würde entweder durch die Geldstrafen bankrott werden, oder die Behörde würde ihn mir wegnehmen und durch einen elektrischen Schlag töten. Nein, es geht nicht!"

"Es lässt sich allerdings nicht leugnen, dass er höllisch an Ihnen hängt", sagte Matt, als sie von der Tür wieder das schluchzende Stöhnen hörten. "Sie müssten sich jemanden halten, der ihn bewacht."

Scott erwiderte: "Matt, ich weiß nicht, was ich tun soll. Aber wäre es nicht vollkommen lächerlich, den Hund mitzunehmen?"

"Das glaube ich auch", antwortete Matt. "Aber woher weiß er, dass Sie fortreisen? Das geht über meinen Horizont!"

"Über meinen auch", meinte Scott und schüttelte kummervoll den Kopf.

Dann kam der Tag, an dem Wolfsblut den Koffer sah, den sein Herr packte. Er würde wieder auf die Flucht gehen und da er Wolfsblut früher nicht mitgenommen hatte, so würde er auch diesmal zurückgelassen werden. In der folgenden Nacht brach er in ein lang gezogenes Wolfsgeheul aus.

Im Blockhaus waren die beiden Männer eben zur Ruhe gegangen. "Er hat wieder sein Futter stehen lassen", bemerkte Matt. "Wie er es sich damals zu Herzen nahm, als Sie weg waren, sollte es mich gar nicht wundern, wenn er es diesmal nicht überlebt."

"So hören Sie doch endlich auf, mich zu quälen!", schrie Scott.

Am nächsten Tag wurden Wolfsbluts Ruhelosigkeit, seine Angst noch offenkundiger. Er heftete sich an die Fersen des Herrn, wenn dieser das Blockhaus verließ, und wartete draußen auf den Stufen, wenn er drin war. Durch die offene Tür konnte er das Gepäck stehen sehen. Man rollte gerade die Decken und den Schlafsack des Herrn in Wachstuch ein, und Wolfsblut winselte, als er es sah. Zwei Indianer trugen die Sachen weg.

Dann kam der Herr an die Tür und rief Wolfsblut hinein. "Du armer Teufel", sagte er liebevoll, indem er ihn an den Ohren kraute und auf den Rücken klopfte. "Ich muss auf eine weite Reise gehen, mein Alter, wohin du nicht mitkommen kannst. Nun grolle noch einmal zum Lebwohl!"

Aber Wolfsblut wollte nicht. Dafür steckte er den Kopf unter den Arm des Herrn. Vom Yukon ertönte der heulende Ton des Dampfers, und Matt begleitete Weedon Scott zum Fluss. Zuvor verschlossen sie die Türen des Hauses, damit ihnen der Hund nicht folgen konnte.

"Sie müssen gut für ihn sorgen, Matt", sagte Scott, als sie den Hügel hinuntergingen. "Schreiben Sie mir und lassen Sie mich wissen, wie es ihm geht."

"Gewiss", antwortete der Hundetreiber. "Aber hören Sie sich das bloß an!"

Beide blieben stehen. Wolfsblut heulte, wie es Hunde tun, wenn ihre Herrn gestorben sind. Es war eine herzzerreißende Wehklage, sie erhob sich zu lauten Jammertönen und erstarb in zitterndem Weh. Dann brach sie von neuem in ein lautes, kummervolles Geheul aus.

An der Landungsbrücke schüttelte Scott Matt zum Abschied die Hand, als dessen Augen sich plötzlich auf etwas hinter Scotts Rücken hefteten. Dieser drehte sich um und sah Wolfsblut in geringer Entfernung sitzen. Er blickte sie unverwandt an. Schmeichelnd legte er die Ohren zurück. Wie war er aus dem Blockhaus gekommen?

Matt wollte ihn an Land bringen, aber Wolfsblut wich ihm aus und versteckte sich zwischen den Menschenmassen. Als ihn allerdings sein Herr rief, kam er rasch und gehorsam zu ihm. Scott beugte sich über Wolfsblut. Er zeigte Matt einige frische Wunden an der Schnauze und einen Schlitz zwischen den Augen. Dieser fuhr ihm mit der Hand über den Unterleib.

"Wir hatten das Fenster vergessen. Er ist unten ganz zerschnitten und zerrissen. Er muss mit einem Satz durchgesaust sein, zum Donnerwetter!"

Scott hörte nicht auf ihn. Er überlegte rasch, denn die Pfeife der "Aurora" gab das letzte Signal zur Abfahrt.

"Leben Sie wohl, Matt, und was Wolfsblut betrifft, so brauchen Sie nicht über den zu schreiben. Ich werde über ihn an Sie schreiben."

"Was?", schrie der Hundetreiber. "Sie wollen doch nicht …?"

"Ja, ja, ich will!" Das Laufbrett wurde ans Ufer gezogen, und Scott winkte ein letztes Lebwohl hinüber.

Dann drehte er sich um und beugte sich über Wolfsblut, der neben ihm stand. Er streichelte den sich anschmiegenden Kopf und kraute ihm die Ohren.

 

 

 

22. Das Südland

Wolfsblut ging in San Franzisko an Land. Er war starr vor Staunen. Statt der Blockhütten erhoben sich hier himmelhohe Häuser. Gefahren aller Art lauerten in den Straßen: Wagen, Karren, Fuhrwerke mit großen Pferden, Autos und elektrische Wagen, die wie Ungeheuer hin und her schossen. Ihm schwindelte, wie viele Menschen es gab. Um keinen Preis wollte er seinen Herrn aus den Augen verlieren.

Aber der Herr brachte ihn in einen Gepäckwagen der Eisenbahn, wo er angekettet zwischen Koffern und Handtaschen blieb. Erst dachte er, dass der Herr ihn verlassen hätte, aber dann witterte er dessen Gepäck und übernahm sogleich die Wache darüber.

Schließlich kam sein Herr wieder, und Wolfsblut sprang ins Freie. Kein lärmendes Getöse einer Großstadt traf sein Ohr. Vor ihm lag eine lachende Gegend im Sonnenschein.

Draußen wartete ein Wagen. Eine Frau und ein Mann kamen auf den Herrn zu. Die Frau schlang die Arme um den Hals des Herrn, was Wolfsblut gefährlich fand. Weedon Scott packte ihn deshalb schnell, als er sich wie ein Rasender gebärdete.

"Beruhige dich, Mutter", sagte Scott, indem er Wolfsblut festhielt und ihn besänftigte. "Er hat geglaubt, du wolltest mir etwas tun, und das duldet er nicht. Es ist gut. Er wird es bald lernen."

Die Mutter war blass geworden und zitterte vor Schreck. Sie blickte auf Wolfsblut, der mit gesträubtem Haar knurrte und böse dreinschaute. Scott sprach sanft mit ihm, bis er sich beruhigt hatte. Dann gebot er mit fester Stimme: "Kusch dich, sit down!" Er hatte Wolfsblut gelernt, was das bedeutet.

Nun umarmte er seine Mutter und seinen Vater, die Augen aber immer auf Wolfsblut gerichtet. Da seinem Herrn kein Unheil geschah, ließ der es passieren.

Das Gepäck wurde auf den Wagen geladen, und die Menschen stiegen alle ein. Wolfsblut folgte mal wachsam dem Wagen, mal trabte er den Pferden voran.

Eine Viertelstunde später bog der Wagen in einen steinernen Torweg ein. Zu beiden Seiten erstreckten sich Rasenflächen, auf denen einige kräftige Eichen standen. Dahinter sah man große Felder. Am Ende der Rasenflächen, wo der Boden sanft anstieg, befand sich das Haus mit großer Veranda und vielen Fenstern.

Aber Wolfsblut hatte keine Zeit, das alles zu sehen. Er wurde sofort am Tor von einem Schäferhund mit hellen Augen und spitzer Schnauze angefallen. Dieser rannte zwischen ihn und den Herrn und schnitt ihm den Weg ab. Wolfsblut setzte gerade zum tödlichen Angriff auf ihn an, als er plötzlich innehielt, die Vorderbeine steif auf den Boden stemmte, um ja den anderen nicht zu berühren, denn dieser Schäferhund war eine Hündin. Es war gegen seinen Instinkt, sie anzugreifen.

Aber bei dem Schäferhund lag die Sache anders. Gerade wegen ihres Geschlechtes brauchte sie keine Rücksicht zu nehmen, und ein Wolf war für sie etwas Wildes, ein Feind. Als er seinen Angriff aufgab, sprang sie zu ihm und biss ihn in die Schulter. Wolfsblut zog sich steifbeinig und verlegen zurück.

Der fremde Mann im Wagen rief: "Hierher, Collie!" Weedon Scott lachte. "Lass nur, Vater, es ist eine gute Schule. Wolfsblut wird viel zu lernen haben, und es ist gut, dass er gleich damit beginnt."

Der Wagen fuhr weiter, aber noch immer versperrte Collie Wolfsblut den Weg. Er wollte sie überholen, indem er in großem Kreis über den Rasen rannte, aber sie bedrohte ihn stets mit ihren schimmernden Zähnen. Der Wagen mit dem Herrn entfernte sich immer mehr. Wolfsblut wurde verzweifelt. Als die Hündin nicht von ihm ließ, versetzte er ihr doch einen kräftigen Stoß gegen die Schulter, worauf sie sich mehrmals überschlug.

Nun war der Weg für Wolfsblut frei, und das war alles, was er wollte. Die Wölfin lief ihm zwar bellend nach, aber auf gerader Strecke war er ihr an Schnelligkeit weit überlegen. Als er fast bei seinem Herrn angekommen war, drohte ein neuer Angriff von der Seite. Ein Jagdhund stürzte auf ihn los. Dieser Angriff kam so überraschend, dass Wolfsblut nicht mehr reagieren konnte. Der Stoß des anderen traf ihn so in die Seite, dass er zu Boden geschleudert wurde und sich überschlug. Als er wieder auf den Beinen stand, bot er einen fürchterlichen Anblick. Die Ohren platt zurückgelegt, die Lippen nach oben gezogen, die Nase kraus, so schnappten die Zähne schon dicht an der Kehle des Jagdhundes zusammen.

Der Herr wollte eingreifen, aber er war noch zu weit entfernt. Aber gerade in dem Augenblick, als Wolfsblut erneut auf den Jagdhund sprang, stürzte Collie herbei und stieß ihn im rechten Winkel. Wiederum verlor er das Gleichgewicht und rollte zu Boden. Da war aber der Herr da und hielt ihn zurück, während der Vater des Gebieters die anderen Hunde zurück rief. Der Herr beruhigte ihn mit seiner liebkosenden Hand.

Fremde Leute kamen aus dem Haus. Manche hielten sich respektvoll zurück, aber zwei Frauen fielen dem Herrn ebenfalls um den Hals. Wolfsblut wusste inzwischen, dass er das dulden musste. Auch Wolfsblut näherte man sich freundlich, aber dieser knurrte warnend, und der Herr warnte die Leute ebenfalls durch Worte. Wolfsblut drückte sich dicht an ihn.

Dick, der Jagdhund, lag nun auf der Veranda und beobachtete ihn mürrisch. Collie war bei einer der Frauen und winselte. Sie konnte nicht verstehen, dass man den Wolf hier duldete.

Scotts Vater wollte, dass Wolfsblut und Dick zusammen draußen bleiben, um sich aneinander zu gewöhnen, aber Scott warnte ihn. "Du würdest Dick in einer oder höchstens zwei Minuten als Leiche sehen." Der Vater schaute Wolfsblut ungläubig an.

So nahmen sie ihn mit ins Haus. Als es dort nichts Bedrohliches gab, legte er sich mit einem zufriedenen Seufzer zu Füßen des Herrn nieder, beobachtete alles und war stets bereit, aufzuspringen und zu kämpfen.

 

 

 

23. Des Herrn Besitztum

Wolfsblut fühlte sich in Sierra Vista, wie der Besitztum des Herrn hieß, bald heimisch. Mit den anderen Hunden hatte er kein ernstliches Problem, denn er wollte von ihnen nur eins - in Ruhe gelassen werden, so wie es sein Lebtag gewesen war. Dick, der gutmütig war, zeigte bald kein Interesse mehr an ihm.

Anders verhielt es sich mit Collie. Wenn sie seine Gegenwart auch duldete, weil ihre Herrn es so haben wollten, so war das kein Grund, ihn in Ruhe zu lassen. Sie machte ihm das Leben schwer, und sein Instinkt erlaubte es ihm nicht, sie anzurühren. Wenn sie mit ihren scharfen Zähnen auf ihn losstürzte, so kehrte er ihr die dick bepelzte Schulter hin und schritt steifbeinig und würdevoll davon. Setzte sie ihm zu sehr zu, so ging er im Kreis um sie herum, Gesicht und Schulter immer ihr zugewandt, wobei ein geduldiger, fast gelangweilter Ausdruck in seine Augen kam. Am liebsten nahm er keine Notiz von ihr und ging ihr aus dem Weg.

Es gab noch so vieles für Wolfsblut zu lernen. Das Leben im Nordland war einfach im Vergleich zu den vielen Regeln in Sierra Vista.

Er wusste jetzt, dass die Familie zum Herrn gehört, aber das waren so viele Menschen; ganz anders als bei der kleinen Familie des Grauen Biber. Aber er lernte, welche Menschen dem Herrn lieb und teuer waren und behandelte sie danach. Was dem Herrn lieb, war es auch ihm, und er wachte darüber sorgsam.

Selbst die beiden Kinder Scott und Maud duldete er, obwohl er die Hände von Kindern nie gemocht hatte, denn bei den Indianern waren sie zu oft grausam zu ihm gewesen. Aber diese beiden liebte der Herr, deshalb durften sie ihn streicheln. Allerdings begrüßte Wolfsblut die Kinder nicht gerade freundlich, aber er war auch nicht tückisch und nahm ihre Neckereien hin. Konnte er sie nicht mehr ertragen, so stand er auf und ging festen Schrittes weg.

Nach einiger Zeit fing er aber an, die Kinder gern zu haben. Er wartete auf sie, und ein freundlicher Glanz trat in seine Augen, wenn er sie erblickte.

Ähnlich hoch wie die Kinder stand nach einiger Zeit Richter Scott in seiner Gunst. Er drängte sich ihm nicht auf, und Wolfsblut lag auf der Veranda gern zu seinen Füßen, wenn er die Zeitung las.

Aber am meisten liebte er den Herrn! Keine Liebkosung der anderen konnte seiner Kehle den kosenden Ton entlocken, und keiner konnte ihn dazu bewegen, den Kopf zu verstecken. Diesen Ausdruck völliger Hingabe, völligen Vertrauens hatte er nur für den Gebieter übrig.

Auch außerhalb des Hauses gab es viel für ihn zu lernen. Das Besitztum des Herrn war groß, aber es hatte seine Grenzen. Straßen und Wege gehörten allen und hinter Hecken und Zäunen lagen die Besitze anderer Leute. Verstieß er gegen ein dort geltendes Gesetz, so machte ihm dies der Herr durch einen Puff mit der Hand oder durch tadelnde Worte deutlich. Jeder Ausdruck des Missfallens von ihm gab Wolfsblut einen Stich ins Herz, und so richtete er sein Leben nach den geltenden Regeln ein.

Im Land des Nordens war der Hund das einzige Haustier gewesen. Alle anderen Tiere hatten in der Wildnis gelebt, und man konnte sie verfolgen und verzehren. Wolfsblut kam es nicht in den Sinn, dass das im Süden anders sein sollte.

Eines Morgens begegnete ihm ein Hühnchen, das aus dem Hühnerhof entwischt war. Wolfsblut machte ein paar Sätze, ließ seine Zähne blitzen, und das erschrockene Hühnchen war gepackt. Es war gut gemästet, fett und zart. Wolfsblut leckte sich das Maul, so vortrefflich hatte es geschmeckt.

Später am Tag entdeckte er noch ein verirrtes Hühnchen, aber der Stallknecht eilte zu dessen Rettung herbei. Mit einer Peitsche schlug er nach Wolfsblut, der sofort von dem Hühnchen ließ, aber sich gegen den Mann wandte. Ohne einen Laut fuhr er dem Mann an die Kehle. Der schrie laut auf und taumelte zurück, ließ die Peitsche fallen und schütze das Gesicht mit dem Arm, der bis zum Knochen aufgerissen wurde.

Das Leben des Stallknechtes rettete Collie. Voller Wut stürzte sie auf Wolfsblut, der vor ihren scharfen Zähnen zurückwich. Aber Collie wurde immer erregter und grimmiger, bis Wolfsblut seine Würde vergaß und floh.

Scott sagte, dass er es seinem Hund auch noch beibringen werde, dass er die Hühner in Ruhe zu lassen habe. Zwei Tage später hatte er dazu Gelegenheit.

Als sich nachts alle zur Ruhe gelegt hatten, kletterte Wolfsblut auf einen Holzhaufen, erreichte von dort aus das Dach des Hühnerstalls, kroch darüber hinweg und sprang auf der anderen Seite in den Hof. Einen Augenblick später war er im Stall und dann begann das Gemetzel.

Am Morgen präsentierte der Stallknecht Scott fünfzig weiße gerissene Hühnchen. Dieser pfiff leise vor sich hin, halb aus Überraschung, halb aus Bewunderung. Dann begrüßte ihn Wolfsblut stolz, als hätte er ein lobenswertes Werk vollbracht. Der Herr sprach streng mit dem Missetäter, und Wolfsblut plünderte von da an nie wieder einen Hühnerhof.

Aber es gab auch noch so viele andere Tiere, die er nicht anrühren durfte, wie Katzen, Kaninchen und Puten. Eines Tages sah er allerdings, wie Dick auf der Wiese ein wildes Kaninchen aufscheuchte und jagte. Der Herr forderte Wolfsblut auf, an der Verfolgung teilzunehmen. So lernte er, dass die wilden Kaninchen vogelfrei waren, genau wie Eichhörnchen, Wachteln und andere wildlebende Tiere. Sie waren für einen Hund rechtmäßige Beute. Die zahmen Tiere aber schützte der Mensch.

War Wolfsblut mit dem Herrn in der Stadt, so musste er ebenfalls oft seinen natürlichen Trieben zuwiderhandeln. Da gab es Fleischerläden, wo das Fleisch im Bereich seiner Zähne hing; dennoch durfte er es nicht anrühren. Vor den Häusern gab es Katzen, die er in Ruhe lassen musste und Hunde, die ihn anknurrten, an denen er sich aber nicht vergreifen durfte. Am schlimmsten für ihn waren die Hände fremder Menschen, die ihn streichelten.

Manche Dinge fielen ihm sehr schwer. Manchmal gab es kleine Jungen, die mit Steinen nach ihm warfen. Er durfte sie nicht verfolgen, aber er war damit nicht einverstanden. Sein Gerechtigkeitsgefühl meldete sich, und es empörte ihn, dass er sich gegen sie nicht verteidigen durfte. Eines Tages sprang der Herr bei einer solchen Begebenheit hinzu und verabreichte den Knaben eine tüchtige Tracht Prügel. Wolfsblut war zufrieden, dass dieser ihn beschützte und verteidigte. Von nun an hörten die Steinwürfe auf.

Es gab aber auch ein Erlebnis ganz anderer Art. Auf dem Weg zur Stadt waren vor einem Wirtshaus stets drei Hunde, die sich jedes Mal ein Vergnügen daraus machten, über Wolfsblut herzufallen. Der hatte aber von seinem Herrn gelernt, dass er nicht kämpfen durfte, denn Scott kannte ja seine tödliche Kampfweise. Die Leute in der Wirtschaft machten sich bald ein Vergnügen daraus, die Hunde auf Wolfsblut zu hetzen; und eines Tages taten sie das ganz offen.

Da hielt der Herr den Wagen an und rief ihm zu: "Nimm sie!" Wolfsblut wollte es nicht glauben. Er blickte den Herrn an, dann die Hunde und schaute wieder fragend zu Scott zurück. "Nimm sie, mein Alter!", sagte der und nickte mit dem Kopf. "Friss sie auf mit Haut und Haar!"

Da zögerte Wolfsblut nicht länger. Er kehrte um und sprang ohne einen Laut unter die Feinde. Alle drei griffen ihn an. Ein furchtbares Knurren und Grollen ließ sich hören, die Zähne blitzten, die Leiber drehten sich wild durcheinander. Der Staub auf der Straße erhob sich in dichten Wolken und verhüllte den Kampf.

Nach wenigen Minuten lagen zwei Hunde in den letzten Zügen am Boden, und der dritte hatte eilig die Flucht ergriffen. Wolfsblut folgte ihm nach Wolfsart eilig und lautlos über einen Graben.

 

 

 

24. Die Stimme des Blutes

Die Monate kamen und gingen. Im Lande des Südens gab es reichlich Futter und wenig Arbeit. Wolfsblut lebte im Überfluss und war zufrieden. Die menschliche Güte tat ihm wohl.

Dennoch war und blieb er anders als andere Hunde. Er beachtete die Regeln des zivilisierten Lebens sehr streng, aber es lauerte noch etwas Wildes in seinem Wesen, so, als schliefe nur der Wolf in ihm. Nie befreundete er sich mit anderen Hunden, sondern blieb einsam wie die ganze Zeit seines bisherigen Lebens.

Einen dunklen Punkt gab es in Wolfsbluts Leben aber doch, und das war Collie. Sie ließ ihn keinen Augenblick in Frieden. Ihr scharfes Knurren verfolgte ihn überall. Sie hielt hartnäckig an dem Glauben fest, dass er schlimme Absichten habe. Sie wurde ihm zur Qual. Manchmal half es ihm dann nur, sich schlafend zu stellen.

Mit Ausnahme von Collie aber ging es Wolfsblut gut. Sein Leben floss glatt dahin, keine Angst vor Feinden beunruhigte ihn. Aber es geschah doch, dass er in unklarer, unbestimmter Weise den Schnee vermisste.

Er lernte, mit dem Herrn zu tollen, ließ sich zur Erde werfen und herumkollern. Dann stellte er sich zornig, sträubte das Haar, knurrte grimmig und schnappte mit den Zähnen, als ob es ihm völlig Ernst sei. Aber er vergaß sich nie und schnappte stets nur in die leere Luft. Niemals jedoch gestattete Wolfsblut, dass ein anderer mit ihm tollte.

Der Herr ritt sehr viel aus, und Wolfsbluts Hauptbeschäftigung war es, ihn auf seinen Ritten zu begleiten. Auch lange Strecken ermüdeten ihn nie. Mit dem echten Wolfsschritt, leicht, mühelos gleitend, trabte er dem Pferd voran.

Als sie eines Tages über ein Feld ritten, tauchte plötzlich ein Kaninchen kurz vor dem Pferd auf. Dieses sprang zur Seite, stolperte, fiel, und ein Beinbruch des Herrn war die Folge. Wolfsblut sprang wütend dem Pferd an die Kehle, aber ein Wort des Herrn rief ihn zurück.

"Geh nach Hause! Nach Hause!", gebot er ihm, als er erkannte, was für eine Verletzung er hatte. Aber Wolfsblut wollte ihn nicht verlassen. Der Herr wollte einen Zettel schreiben, hatte aber weder Papier noch Stift dabei. Wieder gebot er Wolfsblut, nach Hause zu gehen. Dieser sah ihn nachdenklich an, machte ein paar Schritte vorwärts, kehrte wieder um und winselte leise. Der Herr sprach sanft, aber in ernstem Ton zu ihm, und Wolfsblut spitzte die Ohren und lauschte gespannt.

"Komm her, mein Alter, und höre mir zu! Renne schnell nach Hause, hörst du?", gebot Scott. "Nach Hause! Und da erzähle, was mir passiert ist. - Nach Hause, Wolfsblut! Vorwärts nach Hause!"

Wolfsblut erkannte die Bedeutung des Befehls "Nach Hause!" Wenn er auch das Übrige nicht verstand, so wusste er doch, dass es der Wille des Herrn war, dass er heimgehen sollte. Er kehrte um und trabte widerstrebend weg. Nach einigen Schritten blieb er wieder unentschlossen stehen und blickte über die Schulter zurück. Abermals kam der Befehl "Nach Hause!", diesmal viel schärfer, und jetzt gehorchte Wolfsblut.

Die Familie war in der Kühle des Nachmittages auf der Veranda versammelt, als Wolfsblut keuchend und staubbedeckt ankam.

"Weedon ist zurück", verkündete die Mutter. Die Kinder begrüßten Wolfsblut mit Jubel und rannten ihm entgegen. Er grollte und wollte an ihnen vorbei. "Ich gestehe, ich ängstige mich immer um die Kinder", bemerkte die Mutter. "Ich habe stets Furcht, dass sich eines Tages Wolfsblut gegen sie wenden könnte." Die Familie vertrat die Meinung, dass Wolf Wolf bleibt. Nur Scotts Schwester Betty ergriff für ihn Partei, indem sie sagte: "Er ist nicht ganz ein Wolf."

Wolfsblut stellte sich vor den Richter und grollte ingrimmig. "Geh fort und leg dich nieder!", gebot Richter Scott.

Nun wandte sich Wolfsblut der Gattin des Herrn zu. Die aber schrie vor Schreck auf, als er ihr Kleid mit den Zähnen ergriff und so daran zerrte, dass das dünne Gewebe zerriss. Jetzt wurde er der Mittelpunkt des Interesses. Er strengte sich mit dem ganzen Körper an, sein Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Weedons Mutter hatte Angst.

"Ich glaube, er möchte uns etwas sagen", verkündete Betty. In diesem Augenblick fand Wolfsblut wirklich seine Sprache und machte sich in lautem Bellen Luft.

"Weedon ist ein Unglück passiert", entschied seine Frau. Alle sprangen auf, während Wolfsblut die Stufen hinab lief und sich umblickte, ob man ihm auch folgte.

Nach diesem Ereignis trat er den Herzen der Bewohner von Sierra Vista noch näher. Selbst der Stallknecht, dem er den Arm aufgerissen hatte, gab zu, dass er, wenn auch ein Wolf, doch ein kluges Tier sei.

Die Tage kamen und gingen. Als Wolfsbluts zweiter Winter im Süden kam, machte er eine seltsame Entdeckung. Collies Zähne erschienen weniger scharf. Wenn sie ihn zauste, so geschah es mehr aus Neckerei und zum Scherz, ohne ihm wirklich weh zu tun. Er vergaß, dass sie ihm das Leben einst zur Last gemacht hatte und ging auf ihre Spiele ein.

Eines Tages jagte sie lange auf den Wiesen, ja bis in den Wald hinein, mit ihm herum. Wolfsblut wusste, dass der Herr ausreiten wollte und dass das Pferd schon bereit stand. Er zögerte, aber ein völlig neues Gefühl in ihm war stärker als die Liebe zum Herrn. Als Collie ihn in diesem Augenblick des Zögerns zauste und vor ihm her lief, kehrte er um und rannte ihr nach. Im Wald trabte er neben Collie her, wie einst vor vielen Jahren Kische und Einauge im stillen Walde des Nordens gelaufen waren.

 

 

 

25. Der schlafende Wolf

Um diese Zeit waren die Zeitungen voll von den Taten eines Sträflings, der tollkühn aus dem Gefängnis von San Quentin entflohen war. Er war ein wilder, mordlustiger Geselle, der furchtbar wie ein gewaltiges Raubtier war.

Eines Tages hatte dieser Jim Hall einen Wärter überfallen und ihn übel zugerichtet. Darauf sperrte man ihn in die Zelle für unverbesserliche Verbrecher ein. Dort blieb er drei Jahre. Diese Zelle war ganz aus Eisen - die Wände, die Decke und der Fußboden. Nie verließ er sie, nie sah er Himmel und Sonnenschein. Lebendig war er in der eisernen Gruft begraben. Er sah keinen Menschen, und niemand sprach mit ihm. Sein Essen wurde ihm hinein geschoben. Manchmal brüllte er und schrie ganze Tage und Nächte. Manchmal verharrte er ganze Wochen und Monate in Schweigen.

Man hatte stets behauptet, dass man aus dieser Zelle nicht entfliehen könne, aber eines Morgens war die Zelle leer, nur der Leichnam eines Gefangenenwärters lag darin. Noch zwei Leichen bezeichneten den Weg, den er bis zur Außenmauer eingeschlagen hatte. Die Waffen der Erschlagenen hatte er an sich genommen und war in die Berge geflohen.

Ein hoher Preis wurde auf seinen Kopf ausgesetzt, und habsüchtige Farmer verfolgten ihn mit Flinten. Manchmal traf jemand auf ihn, und dann gab es einen verzweifelten Kampf, über den man am nächsten Morgen in der Zeitung lesen konnte. Die Toten und Verwundeten wurden in die nächste Stadt gebracht.

Plötzlich verschwand Jim Hall. Man hatte seine Spur verloren.

Auch in Sierra Vista las man aufmerksam die Zeitung. Besonders die Frauen taten das voller Angst. Richter Scott lachte sie zwar aus, aber er war es gewesen, der Hall im letzten Jahr seines Richteramtes verurteilt hatte. Im Gerichtshof hatte dieser laut vor den Versammelten geschworen, dass er sich an dem Richter rächen werde.

Wolfsblut wusste von alldem nichts. Aber zwischen ihm und der Gattin des Herrn gab es ein Geheimnis. In jeder Nacht, wenn alle schon schliefen, stand sie auf und ließ Wolfsblut ins Haus ein. Morgens ließ sie ihn hinaus, ehe die Familie wach war.

In einer Nacht, als das ganze Haus schlief, erwachte Wolfsblut, lag aber ganz still. Er sog die Luft ein, die ihm sagte, dass da ein Fremder war. Auch an sein Ohr drangen Laute, die ihm dessen Anwesenheit verrieten. Lautlos folgte er jenem. In der Wildnis hatte er unsäglich scheues Wild gejagt und kannte die Vorteile des Überfalls.

Der Fremde blieb am Fuß der großen Treppe stehen und lauschte. Ebenso regungslos und still stand Wolfsblut und wartete auch. Da hob der Fremde den Fuß und setzte ihn auf die erste Stufe. Wolfsblut wusste, dass oben der Herr und alle seine Liebsten waren. Da sprang er hoch. Ohne einen warnenden Laut, ohne Knurren, schoss er durch die Luft auf die Schultern des Fremden herab und senkte die Zähne in dessen Nacken. Es dauerte nur einen Augenblick, dann hatte er den Mann hintenüber zu Boden gerissen. Als dieser sich aufraffen wollte, griff er ihn wiederum an.

Ganz Sierra Vista erwachte von dem Lärm. Unten war das fürchterliche Getöse eines Kampfes; dazwischen ertönten die Schüsse eines Revolvers und die Stimme eines Menschen, der in Todesnöten schrie. Begleitet wurde das von einem lauten, ununterbrochenen Knurren und Grollen, das sich in das Poltern zerschmetterter Möbel und in das Geklirr zerbrechenden Glases mischte.

Aber ebenso schnell, wie der Lärm begonnen hatte, erstarb er auch. Der Kampf hatte nicht länger als drei Minuten gedauert. Die erschrockene Familie versammelte sich oben an der Treppe.

Von unten kam ein gurgelnder Laut herauf, der sich in ein zischendes Pfeifen verwandelte, das immer leiser wurde und bald ganz aufhörte. Dann ertönte in der Finsternis nur noch ein schweres Keuchen, wie wenn ein Erstickender nach Luft ränge.

Weedon Scott machte Licht und stieg mit dem Richter, den Revolver in der Hand, die Treppe hinunter. Aber diese Vorsicht war nicht nötig. Wolfsblut hatte ganze Arbeit geleistet. Unter den umgeworfenen Möbeln lag ein Mensch, den Richter Scott sofort als Jim Hall erkannte. Eine klaffende Wunde am Hals zeigte, wie er den Tod gefunden hatte.

Dann sahen sie Wolfsblut. Er lag auf der Seite, und seine Augen waren geschlossen. Als die beiden Männer sich über ihn beugten, hob er die Augenlider ein wenig, und sein Schwanz bewegte sich zu einem Wedeln. Scott streichelte ihn und aus seinem Hals stieg als Antwort ein Grollen empor, doch nur leise und schwach. Danach schlossen sich die Augenlider wieder, und der Körper streckte sich steif auf dem Boden aus.

"Es ist aus mit ihm, dem armen Teufel", murmelte sein Herr.

"Das wollen wir doch sehen", entgegnete der Richter und ging zum Telefon. Bald darauf kam der Doktor und arbeitete anderthalb Stunden an Wolfsblut herum.

"Wenn er durchkommt, ist es ein Wunder", sagte er. "Von Tausenden käme unter diesen Umständen kaum einer mit dem Leben davon. Ein Hinterbein ist gebrochen sowie drei Rippen, von denen wenigstens eine in die Lunge gedrungen ist. Außerdem hat er fast alles Blut verloren und höchstwahrscheinlich noch innere Verletzungen davongetragen, denn er ist getrampelt worden; gar nicht zu reden von den drei Kugeln, die durch und durch gegangen sind."

Die ganze Familie, mit Ausnahme der Kinder, stand um Wolfsblut und den Doktor herum. Der Richter rief: "Wir werden alles tun, um ihn durchzubringen, koste es, was es wolle. Und Doktor, tun Sie Ihr Möglichstes!"

Der Doktor lächelte mitleidig. "Natürlich, natürlich, ich verstehe das. Er verdient es, dass alles für ihn getan wird. Übrigens muss er wie ein krankes Kind gepflegt werden."

Und wie wurde Wolfsblut gepflegt! Die Töchter des Richters übernahmen diese Aufgabe selbst, und Wolfsblut kam, allen trüben Prophezeiungen des Doktors zum Trotz, mit dem Leben davon. Er war kein Schwächling, sondern kam geradewegs aus der Wildnis, wo die Schwachen früh untergehen. Weder sein Vater noch seine Mutter, noch seine Voreltern hatten Schwäche gekannt. Eine Gesundheit von Eisen und die Lebenszähigkeit der Wildnis waren sein Erbteil geworden.

Wie ein Gefangener gefesselt und jeder Bewegung durch Binden und Gipsverbände beraubt, brachte Wolfsblut viele Monate zu. Er schlief viele Stunden lang und träumte viel. Das Leben im Norden und seine ganze Vergangenheit zogen an ihm vorüber. Viele schreckliche Ereignisse wurden noch einmal wach.

Endlich kam der Tag, wo der letzte Verband abgenommen wurde. Es war ein großer Festtag für ganz Sierra Vista, deren Bewohner sich um Wolfsblut versammelt hatten. Der Herr kraute ihm die Ohren und Wolfsblut grollte sein Lieblingslied. Die Frauen nannten ihn "den lieben, guten Wolf".

Wolfsblut versuchte sich auf die Füße zu stellen, aber er fiel immer wieder wegen zu großer Schwäche zurück. Er hatte so lange gelegen, dass seine Muskeln alle Spannkraft verloren hatten und alle Kraft daraus verschwunden war. Er fühlte sich über seine Schwäche ein wenig beschämt und vergrößerte seine Anstrengungen noch mehr. Endlich stand er schwankend und taumelnd auf allen vieren.

Alle jubelten und lobten Wolfsblut. "Er wird wieder gehen lernen müssen", bemerkte der Doktor. "Er soll gleich damit beginnen. Es wird ihm nicht schaden. Wir wollen ihn hinausbringen."

Wolfsblut war sehr schwach, und als er den Rasen erreichte, legte er sich nieder und ruhte eine Weile aus. Später setzte sich Wolfsblut mit der ganzen Familie im Gefolge wieder in Bewegung. Als sie die Ställe erreichten, lag dort Collie, und ein halbes Dutzend Hündchen spielte in der Sonne um sie herum. Wolfsblut blickte sie mit verwunderten Augen an. Collie knurrte warnend und er hielt sich vorsichtig zurück. Der Herr schob ein Junges näher zu ihm. Misstrauisch sträubte er das Haar, aber der Herr sprach ihm freundlich zu, dass alles richtig und in Ordnung sei.

Doch Collie, die von einer der Frauen gehalten wurde, knurrte ihn argwöhnisch und unfreundlich an. Das Hündchen stand breitbeinig vor ihm. Wolfsblut spitzte die Ohren und betrachtete es neugierig. Dann näherte er seine Nase der des Jungen und fühlte das warme Zünglein an seiner Schnauze. Auch er streckte die Zunge aus und leckte dem Hündchen das Gesicht. Lauter Jubel und Händeklatschen begrüßten sein Tun. Er war überrascht und sah sich verwundert um.

Dann überkam ihn von neuem die Schwäche, er legte sich nieder, spitzte die Ohren, drehte den Kopf zur Seite und blickte das Hündchen an. Auch die anderen Kleinen kamen zu Collies Entsetzen herbeigewackelt, und er ließ es geschehen, dass sie auf ihm herumkletterten und Purzelbäume schossen. Mit geduldigen, halb geschlossenen Augen lag er in der Sonne.