Wie es auf der Alp weitergeht
- Autor: Spyri, Johanna
Eben war die Sonne über den Bergen aufgegangen und schien nun mit ihren goldenen Strahlen über die Hütte und über das Tal. Der Almöhi hatte, wie er es jeden Morgen tat, still und andächtig zugeschaut, wie sich ringsum auf den Höhen und im Tal die leichten Nebel lichteten und das Land aus dem Dämmerschatten herausschaute und zum neuen Tag erwachte.
Heller und heller wurden oben die dünnen Morgenwolken, bis jetzt die Sonne völlig heraustrat und Fels und Wald und Hügel in goldenes Lichte tauchte.
Jetzt trat der Öhi in seine Hütte zurück und ging leise die kleine Leiter hinauf. Klara hatte eben die Augen aufgeschlagen und schaute ganz verwundert auf die hellen Sonnenstrahlen, die durch das runde Loch hereinfielen und auf ihrem Bette tanzten und blitzten. Sie wusste gar nicht, was sie sah und wo sie war. Doch jetzt erblickte sie die schlafende Heidi an ihrer Seite, und nun ertönte auch die freundliche Stimme des Großvaters: "Gut geschlafen? Nicht müde?" Klara versicherte, sie sei nicht müde, und, einmal eingeschlafen, sei sie auch die ganze Nacht nicht mehr erwacht. Das gefiel dem Großvater, und nun fing er gleich an und versorgte Klara so gut und so verständnisvoll, als wäre es sein Beruf, kranke Kinder zu versorgen und es ihnen bequem zu machen.
Heidi hatte jetzt auch ihre Augen aufgeschlagen und sah mit Erstaunen, wie der Großvater die schon fertig angezogene Klara auf den Arm nahm und fort trug. Da musste Heidi doch dabei sein. Blitzschnell zog sie sich an. Dann ging's die Leiter hinunter, und nun war auch Heidi aus der Tür und stand draußen, und beobachtete verwundert, was der Großvater tat.
Er hatte am Abend vorher, als die Kinder schon oben auf ihrem Lager angekommen waren, überlegt, wo der breite Rollstuhl unter Dach gebracht werden könnte. Die Tür der Hütte war ja viel zu schmal, hier konnte er nie hereingefahren werden. Da war ihm ein Gedanke gekommen. Er machte hinten am Schuppen zwei große Holzlatten los, so dass da eine breite Öffnung entstand. Der Stuhl wurde hinein geschoben und die hohen Bretter wieder an ihre Stelle gebracht, wenn auch nicht festgemacht. Heidi kam eben an, nachdem der Großvater Klara drinnen in ihren Stuhl gesetzt, dann die Bretter weggenommen hatte und nun mit ihr aus dem Schuppen in den Morgensonnenschein herausgefahren kam. Mitten auf dem Platz ließ er den Stuhl stehen und ging zum Ziegenstall. Heidi sprang an Klaras Seite.
Der frische Morgenwind wehte um die Gesichter der Kinder, und ein würziger Tannenduft kam mit jedem neuen Windstoß herüber und durchströmte die sonnige Morgenluft. Klara atmete tief durch und fühlte sich so wohl wie noch nie.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie ja auch frische Morgenluft draußen in der freien Natur eingeatmet, und nun wehte die reine Alpenluft um sie so kühl und erfrischend, dass jeder Atemzug ein Genuss war. Dazu der helle Sonnenschein, der hier oben gar nicht heiß war und so angenehm warm auf ihren Händen und Füßen lag. Dass es so auf der Alp sein könnte hatte sich Klara nicht vorstellen können.
"O Heidi, wenn ich nur immer, immer hier oben bei dir bleiben könnte!" sagte sie jetzt, und bewegte sich in ihrem Rollstuhl hin und her, damit von allen Seiten Luft und Sonne an ihren Körper herkommen konnte
"Jetzt siehst du, dass es so ist, wie ich dir gesagt habe", entgegnete Heidi erfreut, "dass es beim Großvater auf der Alm am schönsten auf der ganzen Welt ist." Eben trat dieser aus dem Stalle heraus und kam zu den Kindern. Er brachte zwei Schüsselchen voll schäumender, schneeweißer Milch und reichte eins Klara, das andere Heidi.
"Das wird dir gut tun, Klara", sagte er, Klara zunickend. "Sie ist vom Schwänli, die gibt Kraft. Zum Wohl! Nur zu!" Klara hatte noch nie Milch von einer Ziege getrunken, daher roch sie zuerst zur Sicherheit ein wenig daran. Als sie nun aber sah, mit welcher Begier Heidi ihre Milch trank, ohne ein einziges Mal abzusetzen - so phantastisch gut schmeckte sie ihr -, da setzte Klara auch an und trank und trank, und wahrhaftig, sie war so süß und kräftig, als wäre Zucker und Zimt darin, und Klara trank, bis nichts mehr im Schüsselchen war.
"Morgen nehmen wir zwei", sagte der Großvater, der zufrieden zugesehen hatte, wie Klara Heidis Beispiel gefolgt war.
Jetzt kam Peter mit seiner Schar, und während Heidi durch die stürmischen Morgenbegrüßungen gleich mitten in die Herde hineingedrängt wurde, nahm der Öhi den Peter ein wenig auf die Seite, damit dieser verstehen könne, was er ihm zu sagen hatte, denn die Ziegen meckerten immer, eine lauter als die andere, vor lauter Freude und Freundschaftsbezeugungen, sobald sie Heidi in ihrer Mitte hatten.
"Jetzt hör zu und pass auf", sagte der Öhi. "Von heut an lässt du dem Schwänli seinen Willen. Es spürt, wo die kräftigsten Kräuter sind; also wenn es hinauf will, so gehst du nach, den anderen tut's ja auch gut, und wenn es höher will, als du sonst mit ihnen gehst, so gehst du mit und hältst es nicht zurück, hörst du! Wenn du auch ein wenig klettern musst, macht nichts, du gehst, wohin es will, denn in dieser Sache ist es vernünftiger als du, und es muss nur noch vom Besten bekommen, damit es eine Prachtmilch gibt. Warum guckst du dort hinüber, als wenn Du jemanden fressen wolltest? Es wird dir niemand im Wege sein. So, jetzt vorwärts, und denk daran!"
Der Peter war gewohnt, dem Öhi aufs Wort zu gehorchen. Er trat gleich seinen Marsch an; man konnte aber sehen, dass ihn noch etwas beschäftigte, denn er drehte immer den Kopf um und rollte mit den Augen. Die Ziegen folgten und drängten Heidi noch eine Strecke mit vorwärts. Das war dem Peter eben recht. "Du musst mit", rief er jetzt drohend in die Ziegenherde hinein, "du musst mit, wenn man dem Schwänli nach muss."
"Nein, ich kann nicht", rief Heidi zurück, "und ich kann jetzt lange, lange nicht mitkommen, solange die Klara bei mir ist. Aber einmal kommen wir dann miteinander hinauf, der Großvater hat es uns versprochen."
Bei diesen Worten hatte Heidi sich aus der Ziegenherde herausgewunden und lief nun zu Klara zurück. Jetzt machte Peter mit beiden Fäusten eine so drohende Gebärde in Richtung Rollstuhl, dass die Ziegen auf die Seite sprangen. Er rannte aber auf der Stelle nach und ohne Aufenthalt eine ganze Strecke weit hinauf, bis er außer Sicht war, denn er dachte, der Öhi könnte ihn vielleicht gesehen haben, und er wollte lieber nicht wissen, was für einen Eindruck das "Fausten" beim Großvater gemacht hatte.
Klara und Heidi hatten für heute so viel im Sinn, dass sie gar nicht wussten, wo anfangen. Heidi schlug vor, zuerst den Brief an die Großmama zu schreiben, denn sie hatten ja für jeden Tag einen Brief versprochen. Die Großmama war doch nicht so ganz sicher gewesen, ob es Klara auf Dauer gefallen würde und ob es ihrer Gesundheit gut tun würde, und so hatte sie den Kindern das Versprechen abgenommen, ihr jeden Tag einen Brief zu schreiben und alles zu erzählen, was sie erlebten. So konnte die Großmama sofort reagieren, wenn sie auf der Alp benötigt werden sollte, und bis dahin ruhig unten bleiben.
"Müssen wir in die Hütte hinein zum Schreiben?" fragte Klara, die zwar dafür war, der Großmama Bericht zu geben; aber draußen ging es ihr so gut, dass sie gar nicht weg mochte.
Aber Heidi wusste sich zu helfen. Augenblicklich rannte sie in die Hütte hinein und kam mit ihren sämtlichen Schulsachen und dem niedrigen Dreibeinstühlchen beladen wieder zurück. Nun legte Heidi ihr Lesebuch und ihr Schreibheft Klara auf den Schoß, sodass sie darauf schreiben konnte, und sie selbst setzte sich neben die Bank auf ihr Stühlchen, und nun begannen sie beide der Großmama zu erzählen.
Aber nach jedem Satze, den Klara geschrieben hatte, legte sie ihren Bleistift wieder hin und schaute um sich. Es war gar zu schön. Der Wind war nicht mehr so kühl; nur ganz sacht wehte er um ihr Gesicht, und drüben in den Tannen flüsterte er leise. In der klaren Luft tanzten und summten die kleinen, fröhlichen Mücken, und es lag eine große Stille über der ganzen sonnigen Gegend. Majestätisch ragten die hohen Felsen auf, und das ganze weite Tal lag wie im stillen Frieden. Nur dann und wann schallte das frohe Jauchzen eines Hirtenjungen durch die Luft, und leise gab das Echo die Töne in den Felsen wieder.
Der Morgen war so schnell vorbei, dass die Kinder es kaum bemerkten und schon kam der Großvater mit der dampfenden Schüssel daher, denn er sagte, mit Klara bleibe man nun draußen, solang ein Lichtstrahl am Himmel sei. So wurde der Mittagstisch wie gestern vor der Hütte aufgestellt und das Essen mit Vergnügen eingenommen.
Dann rollte Heidi den Stuhl samt Klara unter die Tannen hinüber, denn die Kinder hatten ausgemacht, den Nachmittag wollten sie dort im Schatten sitzen und einander alles erzählen, was sich ereignet hatte, seit Heidi Frankfurt verlassen hatte. Wenn dort auch alles in gewohnten Bahnen weitergegangen war, so hatte Klara doch allerlei Besonderes zu berichten von den Menschen, die im Hause Sesemann lebten und die Heidi ja so gut bekannt waren.
So saßen die Kinder nebeneinander unter den alten Tannen, und je eifriger sie im Erzählen wurden, desto lauter pfiffen die Vögel oben in den Zweigen, denn das Geplauder da unten freute sie, und sie wollten auch mithalten. So flog die Zeit dahin, und unversehens war es Abend geworden, und schon kam die Ziegenschar heruntergestürmt, der Anführer hintendrein mit Stirnrunzeln und grimmiger Miene.
"Gute Nacht, Peter!" rief ihm Heidi zu, als sie sah, dass er nicht stehen bleiben wollte.
"Gute Nacht, Peter!" rief auch Klara freundlich hinüber.
Er gab keinen Gruß zurück und jagte schnaubend die Ziegen weiter.
Als Klara jetzt sah, wie der Großvater das Schwänli zum Melken zum Stalle führte, da bekam sie auf einmal ein solche Lust auf die würzige Milch, dass sie es fast nicht erwarten konnte, bis der Großvater damit kommen würde. Sie wunderte sich selbst darüber.
"Das ist ja komisch, Heidi", sagte sie. "Solange ich denken kann, habe ich nur gegessen, weil ich musste, und alles, was ich bekam, schmeckte nach Fischtran, und tausendmal habe ich gedacht: Wenn man nur nie essen müsste! Und jetzt kann ich es fast nicht erwarten, bis der Großvater mit der Milch kommt."
"Ja, ich weiß schon, was das ist", entgegnete Heidi ganz verständnisvoll, denn sie dachte an die Tage in Frankfurt, als ihr alles im Halse stecken blieb und nicht hinunter wollte. Klara verstand das damals nicht. Sie hatte aber, solange sie lebte, noch nie einen Tag lang in der freien Luft gesessen wie heute, und schon gar nicht in dieser Höhe in belebender Bergluft.
Als der Großvater mit seinen Schüsselchen kam, griff Klara schnell danach, und in durstigen Zügen trank sie und war diesmal noch vor Heidi fertig.
"Darf ich noch ein wenig haben?" fragte sie, dem Großvater das Schüsselchen hinhaltend.
Er nickte zustimmend, nahm auch Heidis Gefäß wieder in Empfang und ging zur Hütte zurück. Als er wiederkam, brachte er auf jedem Schüsselchen einen hohen Deckel mit, der war aber von anderem Stoff, als die Deckel gewöhnlich sind.
Der Großvater war am Nachmittag in das Nachbardorf, das grüne Maiensäß hinüber gegangen, zu der Sennhütte, wo die süße, hellgelbe Butter gemacht wird. Von dort hatte er einen schönen runden Ballen mitgebracht. Jetzt hatte er zwei dicke Schnitten Brot genommen und die süße Butter schön dick darauf gestrichen. Diese sollten nun die Kinder zu ihrem Nachtessen haben. Gleich bissen beide herzhaft in die appetitlichen Schnitten hinein, so dass der Großvater stehen blieb und zuschaute, wie das weitergehen würde, denn das gefiel ihm.
Als Klara nachher auf ihrem Lager wieder nach den schimmernden Sternen schauen wollte, ging es ihr wie Heidi an ihrer Seite: Die Augen fielen ihr auf der Stelle zu, und sie schlief so tief und fest, wie sie es noch nie erlebt hatte
In dieser erfreulichen Weise verging auch der folgende Tag und dann noch einer, und dann folgte eine große Überraschung für die Kinder. Es kamen zwei kräftige Träger den Berg heraufgestiegen; jeder trug auf seinem Traggestell ein hohes Bett, mitsamt allem Bettzeug, beide ganz gleich bedeckt mit einer weißen Decke, sauber und nagelneu. Auch hatten die Männer einen Brief von der Großmama abzugeben. Darin stand, dass diese Betten für Klara und Heidi seien, dass das Heu- und Deckenlager nun aufgehoben werden solle und dass von nun an Heidi immer in einem richtigen Bette schlafen müsse, denn im Winter solle das eine der beiden ins Dorf heruntergeschafft werden, das andere aber oben bleiben, damit Klara es immer vorfinde, wenn sie wiederkomme. Dann lobte die Großmama die Kinder wegen ihrer langen Briefe und bat sie, täglich so weiter zu machen, damit sie immer alles miterleben könne, so als ob sie bei ihnen wäre.
Der Großvater war hineingegangen, hatte den Inhalt von Heidis Lager auf den großen Heuhaufen geworfen und die Decken weggelegt. Nun kam er wieder, um mit Hilfe der Männer die beiden Betten dort hinauf zu transportieren. Dann rückte er sie dicht nebeneinander, damit von beiden Kopfkissen aus die Aussicht durch das Loch dieselbe bliebe, denn er kannte die Freude der Kinder an dem Morgen- und Abendschein, der da in die Kammer herein schien.
Unterdessen saß die Großmama unten in Bad Ragaz und war hocherfreut über die guten Nachrichten, die täglich von der Alp zu ihr heruntergelangten.
Die Begeisterung über ihr neues Leben steigerte sich bei Klara noch von Tag zu Tag, und sie konnte gar nicht genug davon erzählen, wie nett der Großvater war und wie vorbildlich er sie pflegte und wie lustig und kurzweilig Heidi sei, noch viel mehr als in Frankfurt, und wie sie jeden Morgen beim Erwachen immer zuerst denke: O gottlob; ich bin noch auf der Alp!
Über diese ausnehmend erfreulichen Berichte war die Großmama jeden Tag aufs Neue froh. Sie fand auch, da alles so gut ging, so könne sie ihren Besuch auf der Alp wohl noch ein wenig verschieben, was ihr nicht unlieb war, denn der Ritt den steilen Berg hinauf und wieder herunter war doch etwas anstrengend gewesen.
Großvater beschäftigte Klaras Schicksal anscheinend ganz besonders, denn es verging kein Tag, an welchem er nicht irgendetwas Neues zu Klaras Kräftigung ausdachte. Er stieg jetzt jeden Nachmittag weit in die Felsen hinauf, immer höher, und jedes mal brachte er ein Bündelchen mit zurück, das duftete schon von weitem wie würzige Nelken und Thymian, und kehrten die Ziegen am Abend heim, so fingen sie alle zu meckern und zu springen an und wollten alle miteinander in den Stall hinein, wo das Bündelchen lag, denn sie kannten den Geruch. Aber der Öhi hatte die Tür gut zugemacht, denn er kletterte den seltenen Kräutern nicht nach, hoch an die Felsen hinauf, damit die Ziegen ohne Mühe zu einer guten Mahlzeit kämen. Die Kräuter waren alle nur für das Schwänli bestimmt, damit es immer noch kräftigere Milch gebe. Man konnte auch gut beobachten, dass ihm die besondere Pflege sehr gut tat, denn es wurde immer kräftiger und lebendiger.
So war nun schon die dritte Woche gekommen, seit Klara auf der Alp war. Seit einigen Tagen hatte der Großvater des Morgens, wenn er sie herunter trug, um sie in ihren Stuhl zu setzen, jedes mal gesagt: "Klara, willst du nicht einmal probieren, ein wenig auf dem Boden zu stehen?" Klara hatte dann wohl versucht, ihm den Gefallen zu tun, aber sie hatte immer gleich gesagt: "Oh, es tut zu weh!" und hatte sich an ihn festgeklammert; er ließ sie aber jeden Tag ein wenig länger probieren.
Einen so schönen Sommer hatte es auf der Alp seit Jahren nicht mehr gegeben. Jeden Tag schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, und alle kleinen Blumen machten ihre Kelche weit auf und blühten und dufteten ganz herrlich. Am Abend leuchteten die Berge und das Schneefeld purpurrot und golden in der glänzenden Abendsonne.
Davon erzählte Heidi ihrer Freundin Klara immer wieder, denn nur oben auf der Weide konnte man das alles so richtig sehen. Von der Stelle oben am Abhange erzählte Heidi mit besonderer Begeisterung, davon dass dort jetzt die großen Scharen der glitzernden, goldenen Weideröschen stehen und Blauglöckchen so viele, dass man meine, dort sei das Gras blau geworden, und daneben ganze Büsche von den braunen Kolbenblümchen, die so gut riechen, dass man sich am liebsten einfach auf den Boden zwischen sie setzten würde und gar nicht mehr von dort fort wolle.
Während sie unter den Tannen saßen, hatte Heidi aufs Neue von den Blumen dort oben und der Abendsonne und den leuchtenden Felsen erzählt. Dabei bekam sie solche Lust wieder einmal dorthin zu kommen, dass sie mit einemmal aufsprang und davonrannte, zum Großvater, der im Schuppen auf seinem Schnitzstuhl saß.
"O Großvater", rief Heidi schon von weitem hinüber, "kommst du morgen mit uns auf die Weide? Oh, jetzt ist es so schön dort oben!"
"Es bleibt dabei", sagte der Großvater zustimmend, "aber dann muss mir Klara auch einen Gefallen tun: Sie muss heute Abend das Stehen noch einmal richtig probieren."
Frohlockend kam Heidi mit ihrer Nachricht zu Klara zurück, und diese versprach sooft das Stehen zu versuchen, wie der Großvater es wolle, denn sie freute sich riesig, diesen Ausflug zu der schönen Ziegenweide hinauf zu machen. Heidi war so voller Jubel, dass sie gleich dem Peter entgegen rief, sobald sie ihn am Abend beim Herunterkommen erblickte:
"Peter! Peter! Morgen kommen wir auch mit und bleiben den ganzen Tag dort oben."
Als Antwort brummte der Peter wie ein gereizter Bär und schlug mit Wut nach dem unschuldigen Distelfink, der neben ihm trabte. Aber der flinke Distelfink hatte die Bewegung zur rechten Zeit wahrgenommen. Er machte einen hohen Satz über das Schneehöppli weg, und der Hieb sauste nur in die Luft.
Klara und Heidi gingen heute voller Erwartungen in ihre zwei schönen Betten, und sie waren so mit ihren Plänen für morgen beschäftigt, dass sie beschlossen, die ganze Nacht wach zu bleiben und immerfort davon zu sprechen, bis sie wieder aufstehen durften. Kaum lagen sie aber in ihren weichen Kissen, so hörten die Gespräche plötzlich auf, und Klara sah im Traume ein großes, großes Feld vor sich, das war ganz himmelblau anzusehen, so dicht besät war es von lauter Glockenblumen; und Heidi hörte den Adler oben in den Höhen, wie er herunter schrie: "Kommt! Kommt! Kommt!"