Träume lügen nicht

Träume lügen nicht

Es waren einmal ein Königspaar, das hatte eine hübsche Tochter. Eines Tages ritt der König zum Palasttor hinaus und sah dort einen kleinen Mohrenknaben sitzen. Der König war voller Mitleid, und machte ihn zum Diener seiner Tochter. So lebte der Mohr nun im Königspalast und wurde dort auch erzogen.

Eines Nachts träumte die Königin lange und wachte davon auf. Sie rüttelte den König am Arm und sprach: "Höre, mein Gemahl, ich hatte einen schrecklichen Traum. Unsere Tochter wollte sich mit dem Mohren vermählen. " Der König rieb sich die Augen und murmelte: "Seltsam, ich habe das Gleiche geträumt. Das ist ein schlechtes Zeichen. Lass uns in der Frühe den Mohren befragen, was er uns dazu sagen kann."

Am nächsten Morgen ließen sie den Mohren kommen, und dieser sprach: "In der Nacht habe ich den Engel des Herrn im Traume gesehen. Er versprach mir die Prinzessin als Gemahlin." Der König tobte und schrie: "Hinfort mit dir, du schwarzer Geselle! Meine Tochter wirst du niemals kriegen!" Der Mohr ging nun traurig zur Türe hinaus. Er drehte sich aber noch einmal um und sprach: "Wenn es denn sein muss, werde ich bis an das Ende der Welt reisen. Ich werde den Allmächtigen fragen, ob das, was die Träume sagen, von Menschen wieder ausgelöscht werden kann."

Der Mohrenknabe machte sich also auf den Weg und lief Tag für Tag. Da sah er am Wegesrand drei Frauen sitzen, die einen Haufen Goldtaler zählten. Der Knabe grüßte sie freundlich und sprach: "Ich suche den Allmächtigen. Könnt ihr mir nicht sagen, wo ich ihn finde?" Die Frauen schüttelten die Köpfe und zählten weiter. Der Knabe machte sich wieder auf den Weg, hörte aber eine Frau noch rufen: "Wenn du den Allmächtigen siehst, dann frage ihn doch, wie wir uns von diesem verdammten Geld befreien können."

§2

Alle Kinder sind gleich!
Alle Kinder haben die gleichen Rechte. Es ist egal, welche Hautfarbe oder Religion sie haben und welche Sprache sie sprechen. Kein Kind soll deswegen benachteiligt werden.

Am Abend kam der Mohrenknabe dann zu einem Pfahl, der haushoch über der Erde schwebte. Der Knabe schaute ihn sich näher an und hörte plötzlich eine Stimme: "Wohin gehst du?", fragte der Pfahl. "Ich gehe zu Gott, dem Allmächtigen. Ich muss ihn fragen, ob das, was die Träume sagen, von Menschen wieder ausgelöscht werden kann." Der Pfahl erwiderte: "Dann frage ihn auch, was ich tun kann, um endlich auf den Boden zu fallen. Ich schwebe schon hundert Jahre hier."

Einige Tage später kam der Mohrenknabe zu einer blinden Frau. Die Alte wollte gleich wissen, was er in dieser trostlosen Wüste suchte. Er sprach: "Ich will den Allmächtigen finden." "Dafür hast du meinen Segen", rief die Frau, "aber ich habe eine Bitte. Frage den Allmächtigen, wie ich meine Blindheit beenden kann. Ich möchte die Welt noch einmal sehen." Der Mohr versprach es und ging weiter.

Er wanderte noch ein ganzes Jahr, da träumte er von einem geheiligten Orte. In seinem Traum trat er an die große Himmelspforte heran, worauf sich die Türe lautlos öffnete. Dann schwebte der Apostel Petrus heran. Er nahm seine Hand und führte ihn vor den Allmächtigen. Da fiel der Mohrenknabe vor ihm auf die Knie, worauf der Allmächtige fragte: "Warum bist du zu mir gekommen?" Der Knabe wagte nicht in das strahlende Antlitz des Allmächtigen zu sehen und sprach: "Herr, ich bin nur ein armer Mohr. Sage mir, ob das, was die Träume sagen, von Menschen wieder ausgelöscht werden kann." Da sprach Gott: "Das kann nicht geschehen, selbst wenn der Himmel auf die Erde stürzt."

Jetzt erzählte der Mohrenknabe auch, was die drei Frauen, der Pfahl und die Blinde ihm aufgetragen hatten. Der Allmächtige sprach: "Ich weiß, ich weiß, deine lange Wanderung ist mir nicht entgangen. Sage der Blinden, sie soll den Holzblock umdrehen, auf dem sie tagsüber sitzt. Dort wird sie eine Quelle finden, um ihre Augen mit Wasser rein zu waschen. Du aber, Mohrenknabe, sollst dich überall waschen, wo keine Kleider den Körper bedecken."

Der Allmächtige gönnte sich eine kleine Pause zum Verschnaufen, doch dann sprach er weiter: "Kleiner Mohr, wenn du wieder den Pfahl siehst, dann sage folgendes. Er soll warten, bis jemand staunend unter ihm steht. Dann kann er fallen und den Leichtsinnigen zermalmen. Aber achte darauf, dass du es nicht selber bist. Wenn du schließlich zu den drei Frauen kommst, dann sage ihnen, sie sollen das Geld den Armen schenken."

Der Mohrenknabe wachte auf und war schweißgebadet. Endlich hatte er Antwort gefunden. Gleich machte er sich auf den Heimweg und kam auch wieder zu der blinden Frau. Er erzählte ihr, was der Allmächtige offenbart hatte. Die Frau stand auf und drehte den Holzblock um. Da brach die Erde auf, und es sprudelte wirklich eine Quelle hervor. Die Frau warf sich eine Hand voll Wasser ins Gesicht und wusch sich die Augen, worauf sie wieder sehen konnte. Nun hockte sich der Mohrenknabe an die Quelle, schöpfte Wasser und wusch sich Gesicht, Hals, Arme und Beine. Die Frau schaute ihn ungläubig an, denn dort, wo er sich gewaschen hatte, war die Haut jetzt weiß geworden. Darauf verabschiedete sich der Knabe von der Frau und zog weiter.

Schon bald sah er den Pfahl hoch oben in der Luft schweben und erzählte ihm vom Allmächtigen. Da sprach der Pfahl: "Komm doch näher, ich kann dich so schlecht verstehen!" "Nein, nein", antwortete der Knabe, meinen Kopf möchte ich noch ein wenig behalten. Such dir einen Anderen."

Der Knabe machte sich wieder auf den Weg, und fand schließlich auch die drei Frauen. Sie zählten immer noch ihre Goldtaler. Der Knabe sprach: "Der Allmächtige ist mir erschienen und hat gesagt, ihr möget das Gold den Armen geben." "Nun", sprach die Älteste der Frauen, "es gibt hier nur einen Menschen, der arm ist, und das bist du." Da steckte sie das Gold in einen großen Sack und legte diesen auf die Schultern des Knaben.

Bald darauf war er wieder daheim und kaufte sich von dem Gold einen schönen Laden. Dieser stand vor den Toren des Königspalastes und war von oben gut zu sehen. Die Königstochter sah oft aus ihrem Fenster und staunte, wie gut sich die Waren im Laden verkauften. Das merkte auch das Königspaar, und sie sorgten dafür, das ihre Tochter den Jüngling im Laden häufig besuchte.

Es dauerte nicht lange, da war die Hochzeit eine beschlossene Sache. Der Palast wurde mit Fahnen geschmückt und alle Leute liefen aufgeregt durch die Straßen. Als das Brautpaar dann aus der Kirche kam, drehte sich der Bräutigam um und sagte zum König: "Lieber Schwiegervater, ich habe einst den Allmächtigen gesucht. Ich wollte ihn fragen, ob das, was die Träume sagen, von Menschen wieder ausgelöscht werden kann. Der Allmächtige ist mir im Traume erschienen und sagte, es sei nicht möglich. Und das ist wahr."

Der König konnte es nicht recht begreifen und sprach: "Was willst du mir damit sagen?" Der Jüngling antwortete: "Könnt ihr euch noch an den Mohrenknaben erinnern, der einst in eurem Palaste lebte. Ihr habt ihn aus dem Haus getrieben, damit er die Prinzessin nicht heiraten kann. Nun ist es aber doch passiert." Der Jüngling knöpfte seine Hemd ein wenig auf und zeigte dem König seine schwarze Brust. Der König schreckte zurück und sprach: "Ihr seid es, der Mohrenknabe! Da hat mir ja der Allmächtige eine schöne Lektion erteilt. So will ich denn anerkennen, dass die Träume nicht lügen."