Toms neue Herrschaft
- Autor: Beecher Stowe, Harriet
Augustin St. Clare, Evas Vater, war der Sohn eines reichen Pflanzers in Louisiana. Ursprünglich stammte seine Familie aus Kanada. St. Clares Vater war ein mächtiger Pflanzer in Louisiana geworden, während sein Bruder sich auf einer Farm in Vermont niedergelassen hatte. Augustins Mutter entstammte einem französischen Hugenottengeschlecht und hatte eine sehr zarte Gesundheit. Diese hatte sie St. Clare vererbt, so dass er seine Kindheit um der Gesundheit Willen zu großen Teilen bei seinem Onkel im rauen Klima von Vermont verbracht hatte.
St. Clare war ein sehr sanfter Mann, dessen rauere Schale sich erst im Laufe der Jahre um den weichen Kern seines Charakters gebildet hatte. Er war gebildet und freundlich. Eines Tages lernte er im Norden ein überaus schönes und kluges Mädchen kennen. Sie verliebten sich ineinander und verlobten sich. St. Clare eilte in den Süden zurück, um die Hochzeit vorzubereiten. Täglich schrieben die Verliebten sich Briefe. Dann - ohne weitere Erklärung - erhielt St. Clare seine Briefe plötzlich ungeöffnet zurück und eine kurze Nachricht des Vormundes des Mädchens klärte St. Clare darüber auf, dass sie einem anderen versprochen worden sei. In dem Moment, in dem er diese Zeile lese, sei sie bereits an den anderen verheiratet. St. Clare war verzweifelt, aber zu stolz und zu verletzt, mit seiner Verlobten zu sprechen oder eine Erklärung einzufordern. Voller Schmerz stürzte er sich in den Trubel rauschender Geselligkeit. Nur vierzehn Tage nach Erhalt des schrecklichen Briefes lernte St. Clare eine andere Frau kennen, eroberte sie im Sturm und heiratete sie.
St. Clares Frau war schön und brachte hunderttausend Dollar mit in die Ehe. Alle jungen Männer beneideten St. Clare. Die Flitterwochen waren gerade vorbei, als St. Clare einen Brief erhielt. Als er die Handschrift erkannte, stockte ihm der Atem. Der Brief war von seiner ehemaligen Verlobten, die ihm berichtete, dass ihr Vormund sie zwingen wollte, einen anderen zu heiraten. Sie berichtete auch, dass sie in Sorge über seine ausbleibenden Briefe sei. Warum er nicht mehr schreibe? Sie beteuerte ihre Liebe und schloss den Brief mit dem Ausdruck der Hoffnung und Dankbarkeit. St. Clare schrieb umgehend zurück. "Verzeih mir, als ich deinen Brief erhielt, war schon alles zu spät. Ich habe alles geglaubt, was mir berichtet wurde. Verzweifelt wie ich war, stürzte ich mich in eine Ehe. Ich bin verheiratet. Alles, was uns bleibt, ist das Vergessen." So endete die Romantik in St. Clares Leben und machte Platz für eine flache, leere Wirklichkeit.
Wäre St. Clares Frau nun eine Frau mit Herz gewesen - sie hätte doch einiges tun können, um St. Clares wundes Herz zu heilen. Aber Marie St. Clare bemerkte nicht einmal, dass ihr Mann litt. Ihre blendende Figur, die glänzenden Augen und die hunderttausend Dollar reichten einfach nicht aus, um St. Clare zu trösten.
Marie St. Clare war ihr ganzes Leben lang verwöhnt worden. Sie besaß nicht viel Gefühl oder Gemüt und das, was sie hatte, wurde von ihrer immensen Selbstsucht aufgefressen. Sie war eine harte Herrin. Und wenn St. Clare die kleinen Aufmerksamkeiten unterließ, kam es zu Tränenströmen und Gefühlsausbrüchen. Marie beklagte und beschwerte sich. Wenn sie schmollte, versuchte St. Clare mit kleinen Geschenken ihre Laune zu heben. Als sie ihm eine Tochter schenkte, empfand er große Zärtlichkeit für das kleine Geschöpf und gab ihm den Namen seiner Mutter. Marie aber sah die tiefe Liebe ihres Mannes zu seiner Tochter mit Argwohn und Abneigung.
Marie litt immer häufiger unter Migräne, die sie manchmal zwei oder drei Tage in der Woche an das Zimmer fesselte. Die Lenkung des Haushaltes fiel so den Dienstboten zu. St. Clare empfand die häusliche Atmosphäre alles andere als gemütlich. Da seine Tochter wie er von zarter Gesundheit war und sich im Hause sowieso niemand um das Kind kümmerte, nahm St. Clare Eva auf eine Reise nach Vermont mit. In Vermont hatte er seine Kusine, Miss Ophelia überredet, ihn auf seiner Reise zurück in den Süden zu begleiten. Die drei befanden sich auf eben dieser Rückreise, als wir sie an Bord des Dampfers kennen lernten.
St. Clares Kusine, Miss Ophelia, war ungefähr fünfundvierzig Jahre alt. Der Vorschlag von St. Clare, sie nach Orleans zu begleiten, war ein Ereignis. Miss Ophelia war eine Person mit festen Grundsätzen und lebhaften Augen. Sie redete nicht viel, aber ihre Worte waren klug und trafen immer das Ziel. Sie war die personifizierte Ordnung und Pünktlichkeit. Die Schlimmste aller Sünden war in ihren Augen die "Liederlichkeit". Menschen, die nicht genau wussten, was sie wollten oder die nichts taten, die also nicht auf direktem Wege einem Ziel zustrebten, waren in ihren Augen liederliche Leute. Sie hatte einen hohen Rechtsbegriff und verfolgte ein Ziel mit steter Beständigkeit. Und sie liebte St. Clare. Sie hatte ihn als Kind unterrichtet, ihm die Haare gebürstet und seine Kleider ausgebessert. Er hatte sich in ihrem Herzen eingenistet und auch wenn er unbekümmert, unpünktlich, unpraktisch und skeptisch war, so hing Miss Ophelia mit großer Zärtlichkeit an ihm. Es war ein Leichtes für ihn gewesen, sie zu dieser Reise zu überreden.
Die Reise neigte sich dem Ende zu. Miss Ophelia und Eva ordneten ihre Gepäckstücke. Als der Dampfer anlegte, ließen sie den üblichen Landungstrubel über sich hinweg branden, dann kam St. Clare und brachte die Damen samt des Gepäcks zu der wartenden Kutsche. Tom saß auf dem Bock der Kutsche.
Die Kutsche hielt schließlich vor einem großen Gebäude, das halb spanisch, halb französisch anmutete. Nach maurischer Art gebaut, umschlossen die Seitenflügel einen Hof, in den die Kutsche nun durch einen gewölbten Torbogen einfuhr. In der Mitte des Hofes befand sich ein Springbrunnen, während breite Galerien ihn auf allen vier Seiten begrenzten. Zwei Orangenbäume spendeten Schatten und der Rasen wirkte wie grüner Samt. Die gesamte Anlage machte einen Eindruck von Romantik und Luxus und Eva rief, als sie in den Hof einbogen: "Ist das nicht ein herrliches Zuhause?" Miss Ophelia antwortete: "Es ist ganz hübsch. Aber ist es nicht etwas heidnisch und alt?" Sie stieg aus der Kutsche aus und sah sich um.
Auch Tom sah sich um. Er empfand Freude und Dankbarkeit. Mit Bewunderung sah er sich um. "Na, Tom? Gefällt es dir?", fragte St. Clare. Tom nickte. Nun wurden die Koffer ausgeladen und der Kutscher bezahlt. Ein ganzer Schwarm von Sklaven erschien, um die Herrschaften zu begrüßen. Ein junger Mulatte, der exquisit gekleidet war und weithin nach Parfüm duftete, übernahm dabei das Kommando. "Na, Adolfo. Wie geht es dir, mein Junge?", richtete St. Clare das Wort an den jungen Sklaven. Adolfo antwortete höchst gewandt und ausführlich, so dass St. Clares schließlich abwinkte. "Schon gut, schon gut. Sieh' bitte zu, dass das Gepäck hinein gebracht wird. Ich werde nachher die Leute begrüßen."
Er begleitete Miss Ophelia über die Veranda zu einem großen Wohnzimmer. Eva war längst durch das Wohnzimmer in ein kleineres Schlafzimmer geeilt, das ebenfalls auf die Veranda führt. Dort lag eine große, dunkeläugige, bleiche Dame auf ihrem Ruhelager. Eva schlang die Arme um sie und rief: "Mama!" Sie umarmte sie innig, die Dame setzte sich halb auf und wehrte das Kind schließlich ab: "Na, na. Sieh dich vor. Sonst bekomme ich wieder Kopfweh." Sie küsste das Kind matt und ließ sich dann von St. Clare, der mit Miss Ophelia das Zimmer betreten hatte, vorsichtig umarmen. Als ihr Ehemann ihr Miss Ophelia vorstellte, musterte sie diese mit großer Neugier.
Zahlreiche Diener drängten nun in den Raum, um die Herrschaften erneut zu begrüßen. Eva sprang auf und warf sich einer schwarzen Frau in die Arme. "Mammy! Da bist du!" Die schwarze Frau herzte und küsste Eva. Sie weinte und lachte und war voller Freude. Keine Spur von Kopfweh! Schließlich machte Eva sich lachend los und begrüßte ebenso stürmisch und liebevolle die anderen aus der Schar. St. Clare verteilte Münzen und scheuchte dann alle mit einem freundlichen Lachen fort. Eva lief ihnen nach, denn sie hatte während der Reise eine ganze Tasche mit Äpfeln, Nüssen, Bändern, Spitzen und Spielzeug gefüllt.
Als St. Clare wieder auf die Veranda trat, fiel sein Blick auf Tom, der unsicher im Hof stand und nicht wusste, wohin er sich wenden sollte. Der parfümierte Adolfo stand auf der Veranda und betrachtete Tom durch ein Opernglas. St. Clare trat zu Adolfo und schlug ihm das Glas aus der Hand. "Lass das! So behandelst du also deinesgleichen? Und außerdem... ist das nicht meine Weste?" Adolfo lächelte demütig und erklärte: "Ach, Herr. Die Weste ist voller Flecken. Die könnt ihr nicht mehr tragen. So dachte ich, ich darf sie nehmen." Er fuhr sich mit einer zierlichen Bewegung durch sein parfümiertes Haar. St. Clare schüttelte den Kopf. "Ich führe jetzt Tom seiner neuen Herrin vor. Danach nimmst du ihn mit in die Küche. Aber spiel dich nicht auf."
St. Clare und Tom traten vor Marie hin. Diese musterte Tom mit müden Augen. "Er wird sich auch betrinken." St. Clare lachte: "Er ist mir als nüchtern und überaus treu angepriesen worden." Marie winkte ab. "Er ist der reinste Elefant." Sie sah Tom nach, der mit Adolfo in Richtung Küche verschwand. "Ich habe dir noch etwas mitgebracht.", lächelte St. Clare und zog eine Daguerrotypie aus der Tasche. Das Bild zeigte ihn und Eva. Marie betrachtete es lange und sagte dann: "Warum habt ihr euch unvorteilhaft hingesetzt?" St. Clare biss die Zähne zusammen. "Was hältst du von der Ähnlichkeit?", fragte er. "Ach, immerzu soll ich irgendetwas sagen oder ansehen. Ich habe Migräne. Seit du hier bist, ist es mit der Ruhe vorbei. Du weißt doch, dass ich Migräne habe.", klagte Marie. Miss Ophelia erhob sich aus einem tiefen Sessel, in dem sie bisher unbemerkt gesessen hatte. "Bei Migräne hilft Wachholderbeerentee." St. Clare lächelte sie an. "Nun, dann werde ich die Anweisung geben, die ersten Beeren der Ernte für diesen Tee zu reservieren.". Er zog an einer Klingel. Die Sklavin, die Eva "Mammy" genannt hatte erschien, um Miss Ophelia ihr Zimmer zu zeigen.