Tom trifft den Prinzen
- Autor: Twain, Mark
Eines Morgens schlich sich Tom hungrig aus dem Haus. Völlig versunken in seine Träumereien wandelte er durch London. Er merkte gar nicht, wie Vorübergehende ihn schubsten, und hörte auch nicht die Unverschämtheiten, die sie ihm nachriefen. Bald war er weiter von zuhause weg als je zuvor. Erst bei den galanten Häusern nahe des Themseufers vor einem der Stadttore hielt er inne. Er überlegte, was er nun tun sollte; wanderte aber sogleich, in weitere Träume versunken, weiter.
Vorbei an prächtigen Häusern, die entlang des Flusses gebaut waren, schlenderte er die ruhige Straße entlang. Er kam am erhabenen Palast des Kardinals vorbei und blickte danach auf ein wesentlich königlicheres Schloss: Westminster!
Mit seinen Türmen und dem vergoldeten Gittertor, den steinernen Löwen und allen Symbolen, die das englische Königshaus hergab, versetzte der gigantische Anblick Tom in Sprachlosigkeit. Sollte sein größter Herzenswunsch nun endlich in Erfüllung gehen? Tom stand eindeutig vor dem Palast des Königs, was ihn ermutigte, sich seinem Traum, den Prinzen endlich einmal persönlich zu sehen, näher zu fühlen.
Die Wachen am Tor standen reglos da in ihrer schimmernden Rüstung. Eine Schar Landleute drängelte sich in respektvollem Abstand am Tor, um einen Blick auf die zufällig vorbeikommenden Königlichen Hoheiten erhaschen zu können.
Tom schlich sich schüchtern näher. Mit klopfendem Herzen wollte er sich gerade an den Wachposten vorbeischummeln, als er durch die goldenen Gitterstäbe einen hübschen Knaben stehen sah; braun gebrannt, in Samt und Seide gehüllt und mit funkelnden Juwelen geschmückt. Fast wäre ihm ein Freudenschrei entwichen. An der Hüfte des Knaben baumelte ein kleiner edelsteinbesetzter Degen, er trug feine Wildlederschuhe mit roten Absätzen und auf seinem Kopf saß eine vornehme rote Kappe mit wallenden Federn, die von einer glänzenden Perlenbrosche festgehalten wurden. Einige ebenso vornehme Herren standen neben ihm - gewiss seine Diener.
Tom zweifelte keinen Moment daran, dass er einen echten Prinzen vor Augen hatte. Ein leibhaftiger Prinz! Endlich hatte sich sein sehnlichster Wunsch erfüllt. Atemlos blickte Tom mit großen Augen zu dem Prinzen. Er merkte gar nicht, wie er seinen Kopf zwischen die Gitterstäbe des Tors presste. Erst als einer der Wachen ihn unsanft vom Tor wegriss und in die Menge der gaffenden Landleute zurückstieß, wachte er wieder auf.
Der Soldat rief empört: "Was soll denn das, du Betteljunge!"
Die Menschenmenge lachte und empfand das Schauspiel amüsant. Der junge Prinz aber lief mit vor Zorn gerötetem Gesicht zum Tor und rief: "Wie kannst du den armen Jungen nur so behandeln! Und wenn er der kümmerlichste Diener meines Vaters, des Königs wäre! Lass ihn herein!"
Die Leute rissen ihre Hüte vom Kopf und jubelten: "Lang lebe der Prinz von Wales!" Die Wachen salutierten, als der kleine Bettler in seinen Lumpen durch das geöffnete Tor eintrat und vom vornehmen Prinzen empfangen wurde. Edward Tudor empfing Tom mit den Worten: "Du bist schlecht behandelt worden und siehst außerdem müde und hungrig aus. Komm mit."
Die Diener eilten herbei, doch bevor sie Einspruch erheben konnten, scheuchte Prinz Edward sie mit einer wahrhaft edelherzigen Gebärde zurück. Sie standen nun stocksteif und still wie Statuen.
In einem prächtig eingerichteten Raum wurden auf Geheiß des Prinzen allerlei Leckerbissen serviert, wie sie Tom lediglich aus Büchern kannte. Die Diener wies der Prinz an, den Raum zu verlassen, damit sein einfacher Gast ungeniert essen konnte. Nebenbei erfragte Prinz Edward Toms ganze armselige Lebensgeschichte. Am Ende wusste er vom Namen seines Gastes über die Wohnung im Kehrichthof bis hin zu den Schwestern das Meiste von ihm.
Die Tatsache, dass Tom geschlagen wurde und überhaupt schlecht behandelt wurde, regte den Prinzen ganz arg auf. Und über die Schwestern von Tom konnte er sich nur wundern. Es kam ihm unglaublich vor, dass jemand nur ein Kleid besitzen konnte und weder Hilfe beim Ankleiden noch beim Auskleiden benötigte. Der Gedanke, dass man die Kleider der Mädchen nicht einmal waschen konnte, weil sie nämlich nur ein Einziges besaßen, ließ ihn entsetzt aufschreien.
Tom fand die Fragen des Prinzen eigenartig. "Was sollten sie denn mit mehr als einem Kleid anfangen? Es hat doch jede nur einen Körper", fragte er ungläubig. Dann erzählte er von seinem Unterricht bei Father Andrew.
Der Prinz fragte, ob er Latein könne. Als Tom verneinte, empfahl er ihm dringlich, Latein und griechisch zu lernen. Aber dann wollte er alles vom Kehrichthof wissen. Er bekam glänzende Augen, als Tom von den Puppenspielen erzählte und davon, wie die Jungen manchmal mit Stöcken fochten wie Lehrlinge. "Im Sommer, Herr, da schwimmen und springen wir in den Kanälen und im Fluss "
"Oh, erzähl weiter. Was würde ich nicht alles dafür geben, um nur einmal so etwas erleben zu dürfen!", rief er aus. Das tat Tom dann auch ausgiebig. Er erzählte von den Schlammschlachten, davon, wie sie sich gegenseitig im Sand eingruben und wie der Maibaum im Kaufmannsviertel aufgestellt wird. Prinz Edward staunte nicht schlecht und rief: "Hör auf! Das klingt zu schön. Für nur einen Tag in deinem Leben würde ich meine Krone geben!"
"Und ich, Herr Wenn ich nur einmal in eure Kleider schlüpfen dürfte!"
"Gut!", rief der Prinz, "gib mir deine Lumpen und du ziehst dafür meine prächtigen Kleider an. Das wird fein, auch wenn es nur ein kurzes Glück ist. Doch wir genießen es, solange es uns gefällt und dann tauschen wir unsere Kleider wieder, bevor uns jemand stört."
Einige Minuten später stand der kleine Prinz Edward von England in Toms lumpigen Kleidern da und der Bettelprinz Tom stand herausgeputzt in königlicher Pracht vor dem Spiegel. Da staunten sie nicht schlecht. Prinz Edward sprach es als Erster aus: "Wir haben das gleiche Haar, dieselben Augen, Mund, Stimme, Gesicht, Größe und Haltung wären wir nackt, niemand könnte uns voneinander unterscheiden. Und jetzt, in den Lumpen, kann ich erst fühlen, wie du dich gefühlt haben musst, als dieser gemeine Soldat ! Du bist aber an deiner Hand verletzt, oder?"
"Nur eine kleine Schramme, Herr! Sie erinnern sich, der Soldat ", rief Tom aufgeregt.
Edward befahl: "Bleib hier, bis ich zurück bin."
In Windeseile hatte der Prinz ein Utensil von hochgradigster staatlicher Bedeutung vom Tisch genommen und versteckt. Er flog förmlich zur Tür und lief in den wehenden Lumpen durch den Palast. Sein Antlitz blitzte vor Zorn. Am Tor angelangt rief er im gewohnten Befehlston: "Öffnet das Tor!"
Es war jener Soldat, der Tom zuvor schlecht behandelt hatte, der zur Stelle war. Als Prinz Edward durchs Tor schoss, rief er ihm zu: "Du Bettelstrolch! Hier, das hast du verdient." Und ehe Prinz Edward sich versah, hatte der Soldat ihn ins Gesicht geschlagen, dass er auf die Straße taumelte. "Wir lassen uns doch nicht wegen so eines dahergelaufenen Bettlers schikanieren!"
Die Menge lachte, während der Prinz wie betäubt im Staub der Straße lag. Dann sprang er auf und fiel den Posten an: "Ich bin der Prinz von Wales und damit eine geschützte Person. Für diese Ohrfeige sollst du hängen!"
Der Soldat verspottete ihn bloß und die johlende Menge nahm den verdatterten Prinzen in die Mitte. Sie drängten ihn gnadenlos die Straße entlang und verhöhnten ihn: "Macht Platz für den Prinzen von Wales! Hier kommt seine Königliche Hoheit!"