Tom Sawyer

  • Autor: Twain, Mark
Tom Sawyer

1. Tom und der Neue
2. Tom streicht den Zaun
3. Tom und das fremde Mädchen
4. Tom in der Sonntagsschule
5. Tom und sein Kneifkäfer
6. Tom und Becky
7. Tom will sich verloben
8. Tom liebt Abenteuer
9. Tom und Huckleberry auf dem Friedhof
10. Tom wird bestraft
11. Tom und der Mord
12. Tom hat Liebeskummer
13. Tom wird Pirat
14. Tom, Huck und Joe auf der Pirateninsel
15. Tom, der Spion
16. Tom und seine Freunde im Gewitter
17. Tom erlebt seine eigene Totenmesse
18. Tom, der Held
19. Toms geplatzter Traum
20. Tom, der Edelmütige
21. Tom und der vergoldete Schulmeister
22. Tom steht vor Gericht
23. Tom und Huck suchen einen Schatz
24. Tom in Gefahr
25. Tom und Huck schieben Wache
26. Huck holt Hilfe
27. Tom und Becky werden vermisst
28. Tom und Becky in der Höhle
29. Toms Geheimnis
30. Tom, Huck und die Goldmünzen
31. Tom und Huck werden Räuber

 

 

1. Tom und der Neue

"Tom!" - keine Antwort.
"Tom!" - keine Antwort.
"Wo steckt der Junge bloß wieder! Hallo, Tom?"

Tante Polly setzte ihre Brille auf und schaute zuerst über und dann unter dem Rand der Gläser hinweg durchs Zimmer. Selten blickte sie durch ihre Gläser hindurch, wenn sie nach etwas so Unwichtigem wie einem kleinen Jungen suchte. Eigentlich sah die alte Dame noch ganz gut, doch diese Brille war ihr ganzer Stolz.

Überrascht, dass sie ihn nicht entdeckte, sagte sie: "Na warte, wenn ich dich erwische…" Sie beendete den Satz nicht, denn sie hatte sich bereits gebückt und stocherte mit dem Besenstiel unter dem Bett herum. Aber es war nur die Katze, die fauchend das Weite suchte.

"So was wie diesen Bengel habe ich noch nie erlebt!", murmelte sie. Dann ging sie zur offenen Tür und sah über die Tomatenstöcke und wilden Sträucher hinweg in den Garten. Kein Tom. Jetzt erhob sie ihre Stimme und rief so laut, dass es weithin zu hören war: "Tom!"

Hinter ihr knackte etwas. Sie fuhr herum, und gerade noch rechtzeitig erwischte sie den schmalen Jungen am Jackenzipfel.

"Aha! Da steckst du also! Das hätte ich mir ja denken können! Was hast du in der Speisekammer zu suchen?"

"Nichts."

"Nichts? Sieh deine Hände und deinen Mund an! Was ist das?"

"Weiß ich nicht, Tante Polly!"

"Aber ich weiß es. Es ist Marmelade! Mindestens vierzigmal habe ich dir schon gesagt, du sollst die Marmelade in Ruhe lassen. Jetzt hab ich genug! Diesmal werde ich dich bestrafen, dass dir Hören und Sehen vergeht!"

Tom spürte, dass höchste Gefahr in der Luft lag und rief plötzlich: "Da, hinter dir! Schau!"

Die alte Dame fuhr herum und der Junge schoss mit einem Satz zur Tür hinaus, kletterte blitzschnell über den Gartenzaun und verschwand.

Seine Tante stand einen Moment verdutzt da, brach aber dann in lautes Lachen aus. "Zum Kuckuck mit diesem Kerl!" Dass ich es aber auch nie lerne. Wie oft hat er mich schon an der Nase herumgeführt. Jeden Tag spielt er mir einen anderen Streich. Dabei weiß er genau, wie weit er gehen kann, bis mich der Zorn packt

Wenn er mich dann auch nur einen Moment lang verwirrt oder mich zum Lachen bringt, verfliegt meine Wut und ich kann ihm kein Haar mehr krümmen. Bei Gott, ich versäume meine Pflicht an dem Jungen. Wer sein Kind liebt, züchtigt es. So steht es in der Bibel. Er steckt voller Teufelei, der Bengel. Aber er ist der Sohn meiner verstorbenen Schwester und ich bringe es nicht übers Herz, ihn zu verprügeln. Heute Nachmittag wird der Junge sicher wieder die Schule schwänzen und ich bin gezwungen, ihn zur Strafe morgen arbeiten zu lassen. Ausgerechnet am Samstag, wenn alle anderen Jungen freihaben. Aber ich muss meiner Pflicht nachkommen und Arbeit hasst er mehr als alles andere.

Tatsächlich schwänzte Tom an diesem Tag die Schule und verbrachte einen sehr vergnügten Nachmittag. Am Abend kam er so spät nach Hause, dass er Jim, dem kleinen Negerjungen, nicht mehr helfen konnte, das Holz für den nächsten Tag zu hacken. Aber die Zeit reichte noch aus, ihm von seinen Abenteuern zu berichten. Toms Halbbruder Sid war mit dem Aufsammeln der Späne bereits fertig. Er war ein ruhiger Junge und machte seiner Tante keinerlei Schwierigkeiten.

Tom aß sein Abendbrot und stibitzte etwas Zucker. Bei dieser Gelegenheit stellte ihm Tante Polly verfängliche Fragen, um ihn in die Falle zu locken. Sie glaubte immer noch, ihm die dunkelsten Geheimnisse mit besonderem Geschick entlocken zu können. Selbst ihre durchsichtigsten Finten betrachtete sie als meisterhaft schlau und verschlagen.

So fragte sie: "Es war doch sicher sehr warm in der Schule, Tom?"

"Ja, Tante Polly."

"Furchtbar warm, was?"

"Ja, sicher."

"Da wärst du gewiss lieber zum Schwimmen gegangen, oder?"

Tom zuckte zusammen. Er forschte im Gesicht seiner Tante nach verdächtigen Spuren, aber es verriet nichts. So sagte er: "Nein, eigentlich nicht…"

Die alte Dame befühlte mit ihrer Hand Toms Hemd. "Aber nun ist dir nicht mehr warm?", fragte sie lauernd.

Endlich wusste Tom, woher der Wind wehte und kam der nächsten Frage zuvor. "Einige von uns haben den Kopf unter die Wasserpumpe gehalten. Schau, meine Haare sind immer noch ein wenig feucht."

Tante Polly ärgerte sich. Das hatte sie völlig übersehen. "Musstest du nicht deinen Hemdkragen abmachen, den ich dir angenäht habe? Zeig mal her!"

Toms Gesichtszüge entspannten sich. Er knöpfte die Jacke auf. Sein Hemdkragen war wieder angenäht.

"Tatsächlich! Ich hätte geschworen, dass du die Schule geschwänzt hast und schwimmen gegangen bist. Na, lassen wir es gut sein." Insgeheim tat es ihr Leid, dass ihr Scharfsinn versagt hatte. Gleichzeitig freute sie sich, dass Tom wenigstens diesmal gehorsam gewesen war.

Da sagte Sid: "Hattest du den Kragen nicht mit weißem Garn angenäht, Tante Polly? Der hier ist schwarz!"

"Wie - natürlich habe ich… Tom!" Ihre Stimme klang scharf, deshalb wartete Tom das Weitere nicht ab. In der Tür rief er Sid zu: "Das sollst du mir büßen!"

An einem sicheren Ort holte Tom die beiden Nadeln hervor, die er unter den Aufschlag seiner Jacke gesteckt hatte. Die eine mit weißem Faden umwickelt, die andere mit schwarzem. Wütend murmelte er: "Sie hätte es nie gemerkt, wenn Sid mich nicht verraten hätte. Da soll sich einer auskennen! Manchmal näht sie's mit Schwarz an und manchmal mit Weiß. Weshalb kann sie bloß nicht bei einer Sorte bleiben? Das wird er mir büßen, der Verräter… der kann was erleben!"

Zwei Minuten später hatte er all seine Sorgen vergessen. Fröhlich begann er wie ein Vogel zu trillern; das hatte er kürzlich gelernt. Plötzlich stand vor ihm ein fremder Junge, etwas größer als er selbst. Jeder Neuankömmling stellte für die Bewohner des kleinen Ortes St. Petersburg eine Sensation dar. Dieser fremde Junge war noch dazu gut gekleidet. Und das an einem Wochentag! Tom war schlicht überwältigt. Er hielt mitten im Pfeifen inne.

Der Fremde trug eine Kappe auf dem Kopf, eine blaue Jacke, die er fest zugeknöpft hatte, und eine tadellos saubere Hose. Seine Füße steckten in Schuhen, obwohl erst Freitag war. Es lag etwas Städtisches in seinem Aussehen, was Tom bis ins Innerste reizte. Je länger Tom dieses elegante Wunder anstarrte, desto schäbiger kam er sich selbst vor. Sie sprachen kein Wort miteinander, aber sie ließen sich nicht aus den Augen. Sobald sich der eine bewegte, bewegte sich auch der andere, jedoch nur seitlich immer im Kreis herum.

Tom brach als Erster das Schweigen: "Ich kann dich verprügeln!", sagte er.

"Versuch es doch!", erwiderte der Fremde.

"Ich kann es!"

"Nein, kannst du nicht!"

"Und ob!"

Eine unbehagliche Pause entstand. Darum fragte Tom: "Wie heißt du?"

"Das geht dich gar nichts an!"

"Du hältst dich wohl für besonders schlau, was? Ich könnte dich sogar mit einer Hand verdreschen, wenn ich wollte!"

"Dann tu es endlich und rede nicht immer davon!"

"Angeber! Und dein komischer Hut…"

"Wirst dich schon an ihn gewöhnen. Versuch doch mal, ihn mir herunterzuschlagen. Aber ich warne dich! Du kannst jetzt schon deine Knochen nummerieren."

"Nimm dein Maul nicht so voll, du Feigling!"

Die beiden Gegner umkreisten sich schweigend. Auf einmal standen sie Schulter an Schulter.

"Verzieh dich endlich!" sagte Tom.

"Verzieh dich doch selber!"

Mit rot erhitzten Gesichtern standen sie da und versuchten sich gegenseitig wegzudrücken. Sie starrten sich hasserfüllt an. Aber keiner gab nach. Wachsam und vorsichtig zogen sie sich zurück und Tom sagte: "Du bist ein Feigling. Und ein eitler Fatzke noch dazu! Mein großer Bruder wird dich wie eine lästige Fliege zerquetschen, wenn ich's ihm sage!"

"Was geht mich dein großer Bruder an! Wenn erst mein großer Bruder kommt, dann haut der deinen mit einem Fußtritt über den Zaun."

Natürlich existierten die beiden Brüder nur in ihrer Fantasie. Mit seinem großen Zeh zog Tom einen Strich in den Straßenstaub. "Einen Schritt drüber und ich verhaue dich, dass du nicht mehr stehen kannst!", sagte er.

Der Fremde trat über den Strich und sagte höhnisch: "So, jetzt zeig was du kannst!"

"Ich warne dich. Für zwei Cents mache ich es sofort!"

Der fremde Junge holte zwei Münzen aus seiner Hosentasche heraus und hielt sie Tom direkt unter die Nase. Tom schlug sie ihm aus der Hand.

Im nächsten Augenblick wälzten sich die beiden Jungen am Boden. Sie rissen sich an den Haaren, schlugen und kratzten sich gegenseitig, zerrten an den Kleidern und wälzten sich im Dreck. Nach einigem Auf und Ab saß Tom rittlings auf dem Neuen und bearbeitete ihn mit seinen Fäusten. "Sag, dass du genug hast!" rief er.

Der Fremde schlug wild um sich und versuchte, sich zu befreien. Er heulte vor Wut.

"Sag genug!", verlangte Tom und schlug weiter.

Schließlich stieß der Junge ein halb ersticktes "…nug" aus und Tom ließ sofort von ihm ab. "Das wird dir eine Lehre sein!", keuchte er. "Beim nächsten Mal passt du besser auf, mit wem du dich einlässt!"

Schniefend und heulend lief der fremde Junge davon und klopfte sich den Staub aus den zerfetzten Kleidern. Zwischendurch drehte er sich um und stieß wilde Verwünschungen aus, was er beim nächsten Mal mit Tom alles anstellen würde. Tom lachte nur höhnisch. Bester Laune macht er sich auf den Heimweg. Doch kaum hatte er sich abgewandt, schnappte sich der Neue einen Stein und schleuderte ihn auf Tom. Er traf ihn genau zwischen den Schulterblättern. Dann haute er ab, so schnell er konnte.

Tom verfolgte ihn bis zu seinem Haus, doch sein Feind befand sich bereits in Sicherheit und streckte Tom durch die Fensterscheibe die Zunge heraus. Tom wartete noch eine Weile am Zaun. Doch schließlich jagte ihn dessen Mutter fort und nannte Tom einen ungezogenen, bösartigen und gefährlichen Jungen. Wütend trollte sich Tom und schwor bittere Rache.

Es war spät, als er nach Hause kam. Vorsichtig kletterte er zu seinem Fenster hinauf und - sprang seiner Tante direkt in die Arme. Als sie den Zustand seiner Kleider bemerkte, festigte sich ihre Entscheidung, ihn an seinem freien Samstag mit einer schwierigen Arbeit zu bestrafen.

 

 

 

2. Tom streicht den Zaun

Ein herrlicher Samstagmorgen brach an. Die sommerliche Natur strahlte im hellen Licht und manch einer hatte an diesem wundervollen Tag ein frohes Lied auf den Lippen.

Tom ging mit einem Eimer voll weißer Farbe und einem riesigen Pinsel auf den Weg vor dem Haus. Beim Anblick des dreißig Meter langen Gartenzauns schwand alle Fröhlichkeit aus seinem Gesicht. Seufzend tauchte er den Pinsel in die Farbe ein und strich lustlos über die oberste Latte. Nach wenigen Pinselstrichen sank er entmutigt auf einem Baumstumpf nieder und betrachtete die riesige Fläche, die noch vor ihm lag

Singend hüpfte Jim durchs Tor, einen Blecheimer in der Hand. Sonst hasste Tom das Wasserholen am Brunnen, doch heute erschien es ihm geradezu paradiesisch im Vergleich zu seiner eigenen Arbeit. An der Pumpe ging es lustig zu. Weiße und Schwarze, Jungen und Mädchen trafen sich da. Während sie darauf warteten, an die Reihe zu kommen, tollten sie herum, tauschten Spielsachen und lachten. Obwohl die Pumpe nur hundertfünfzig Meter entfernt lag, brauchte Jim immer mindestens eine Stunde, bis er mit dem gefüllten Eimer zurückkehrte. Oft musste man ihn auch holen.

"Ich hole das Wasser für dich, wenn du solange am Zaun weiterstreichst", schlug Tom vor.

Doch Jim schüttelte den Kopf. "Geht nicht, Master Tom. Die Missis hat mich geschickt und gesagt, ich darf nirgends stehen bleiben unterwegs."

"So redet sie doch immer, Jim. Hör nicht auf sie. Gib mir den Eimer - ich bleib keine Minute weg!"

"Ich trau mich nicht, Master Tom. Die alte Missis reißt mir den Kopf ab."

"Die? Die kann doch keiner Fliege was zu Leide tun. Sie redet doch nur davon und reden tut nicht weh. Oder? Außerdem wird sie es nie erfahren. Ich gebe dir auch eine weiße Murmel dafür", lockte Tom.

Jim überlegte. Die Verlockung war zu groß. Er setzte den Eimer ab und nahm die weiße Murmel. Doch im nächsten Augenblick floh er die Straße hinunter. Tom strich den Zaun, was das Zeug hielt. Triumphierend zog sich Tante Polly vom Schlachtfeld zurück, den Pantoffel in der erhobenen Hand.

Toms Arbeitseifer erlahmte rasch wieder. All die schönen Pläne, die er für diesen Samstag gehabt hatte, gingen ihm im Kopf herum. Bald würden die anderen Jungen an ihm vorbeikommen und ihn arbeiten sehen. Er konnte ihr höhnisches Gelächter jetzt schon hören und allein der Gedanke daran brannte wie Feuer.

Während er darüber nachdachte, wie er sich wenigstens eine Stunde völliger Freiheit erkaufen könnte, schoss ihm eine großartige Idee durch den Kopf. Eine fabelhafte Idee!

So strich er ruhig und gelassen den Zaun, als kurze Zeit später Ben Rogers am Ende der Straße erschien. Ausgerechnet Ben, vor dessen Spott er sich am meisten gefürchtet hatte. Ben aß einen Apfel und bewegte sich in Form eines Mississippi-Dampfers vorwärts. Er war gleichzeitig Maschine, Kapitän und Schiffsglocke. Als er herankam rief er: "Stoppt die Maschinen! Ding-dong-ding-dong! " Es dauerte eine Weile, bis er alle Befehle gegeben und ausgeführt hatte. Tom strich an seinem Zaun und tat, als würde er den Dampfer nicht bemerken.

"Na, alter Junge, musst arbeiten, was?" sprach Ben ihn an.

Tom gab keine Antwort. Er betrachtete seinen letzten Pinselstrich, als wäre es das Kunstwerk des Jahres. Dann trug er mit elegantem Schwung noch etwas Farbe auf und vertiefte sich wieder in sein Werk. Ben stand interessiert neben ihm.

"Bist ganz schön beschäftigt, wie?" versuchte er es noch einmal.

"Ach, du bist es, Ben… Hab dich gar nicht bemerkt."

"Kommst du mit zum Schwimmen? Obwohl, vermutlich willst du lieber schuften!"

"Ich schufte doch nicht. Das mache ich aus Spaß."

"Du behauptest allen Ernstes, dass du das gerne tust?"

Tom bewegte den Pinsel kunstvoll auf und ab. "Warum denn nicht? Wann kriegt man denn schon mal eine Chance, einen ganzen Zaun alleine anstreichen zu dürfen!"

Das ließ die Angelegenheit in einem ganz anderen Licht erscheinen. Tom malte mit äußerster Eleganz weiter, verbesserte hier und da eine Kleinigkeit, während Ben ihn nicht aus den Augen ließ. Die Sache interessierte ihn immer mehr. "Lässt du mich auch mal?"

Tom zögerte kurz. "Nein, das geht nicht, Ben… Tante Polly ist furchtbar pingelig mit ihrem Zaun. Es wird kaum einen Jungen unter tausend geben, der es ihr recht machen könnte."

"Och, komm. Lass es mich doch wenigstens versuchen. Nur ein kleines Stückchen!"

Tom zierte sich noch ein wenig, aber als Ben ihm den Apfel dafür anbot, reichte Tom ihm scheinbar widerstrebend den Pinsel. Innerlich frohlockte er. Und während das alte ‚Dampfschiff' in der Sonne arbeitete, saß der Künstler auf einem Fass im Schatten und aß genüsslich den Apfel. Im Laufe des Nachmittags schlenderten noch weitere Jungen vorbei, die erst spotteten, um dann zu streichen.

Am frühen Nachmittag war aus Tom ein steinreicher Junge geworden. Vor ihm lagen Schätze wie, ein gut erhaltener Drachen, eine tote Ratte, zwölf Murmeln, eine blaue Glasscherbe zum Durchsehen und vieles mehr. Die ganze Zeit über hatte Tom gemütlich im Schatten gesessen und Unterhaltung gehabt. Eine dreifache weiße Farbschicht bedeckte den Zaun. Wäre die Farbe nicht ausgegangen, hätte Tom sämtliche Jungen des Ortes bankrott gemacht.

Ohne es zu wissen, hatte er entdeckt, dass man, wenn man eine Sache als unerreichbar darstellt, die anderen dazu bringt, sie tun zu wollen. Wäre Tom ein großer weiser Philosoph gewesen, dann hätte er jetzt verstanden, dass eine Arbeit nur lästig ist, wenn man sie tun muss. Wenn man sie jedoch freiwillig tut oder sogar etwas dafür bezahlen muss, dann macht sie Spaß.

 

 

 

3. Tom und das fremde Mädchen

Tom ging zu Tante Polly. Sie saß am offenen Fenster in der nach hinten gelegenen Stube. Die milde Sommerluft hatte ihre Wirkung nicht verfehlt; Tante Polly war über ihrem Strickzeug eingenickt, die schlafende Katze auf dem Schoß.

"Darf ich jetzt spielen gehen?" fragte Tom bescheiden.

Überrascht öffnete die alte Dame die Augen. "Was? Wie weit bist du gekommen?"

"Alles fertig, Tante Polly!"

Natürlich glaubte Tante Polly ihm nicht. Schließlich kannte sie ihren Tom ja gut genug. So ging sie hinaus, um sich von dem Stand der Streicharbeiten zu überzeugen. Als sie den ganzen langen Zaun gestrichen sah, kunstvoll mit mehreren Anstrichen versehen, da war sie unbeschreiblich erstaunt. "Nein, so was!" sagte sie kopfschüttelnd. "Das hätte ich nie für möglich gehalten! Siehst du, wenn du willst, dann kannst du auch arbeiten." Als wäre das zuviel des Lobes, fügte sie hinzu: "Das geschieht leider äußerst selten. Na los, geh spielen. Aber komm nicht zu spät zurück, sonst kannst du was erleben."

Tante Polly war so überwältigt von Toms Leistung, dass sie ihm einen besonders schönen Apfel schenkte. Dabei erklärte sie ihm, wie viel köstlicher diese durch ehrliche Arbeit erworbene Frucht schmecke. Während sie mit einem Bibelwort schloss, stibitzte Tom einen Pfannkuchen und schlüpfte hinaus.

Sid stieg gerade die Außentreppe hinauf. Tom sah die Erdklumpen herumliegen. Im Nu sausten die Klumpen durch die Luft. Wie bei einem Hagelsturm prasselten sie auf Sid nieder. Bevor sich Tante Polly einschalten konnte, hatten sechs oder sieben Klumpen ihr Ziel erreicht. Tom sprang über den Zaun und verschwand. Er war zu sehr in Eile, um die Gartentür zu benutzen. In seiner Seele herrschte Frieden; er hatte mit Sid abgerechnet!

Leichten Herzens lief er zum Marktplatz, wo sich zwei Gruppen von Jungen verabredet hatten. Tom war der General der einen Armee und sein Busenfreund Joe Harper befehligte die andere. Die Schlacht konnte beginnen. Wobei die beiden großen Heerführer nie selbst am Kampfgeschehen teilnahmen, nein. Sie saßen zusammen auf einer Bodenerhebung und leiteten von dort aus die Operationen. Nach langem, hartem Kampf errang Toms Armee einen berauschenden Sieg. Dann zählten sie die Toten, tauschten die Gefangenen aus und bestimmten die Dauer des Waffenstillstands. Die Truppen formierten sich und zogen ab. Tom ebenfalls.

Als er am Haus vorüber kam, in dem Jeff Thatcher wohnte, stand im Garten ein fremdes Mädchen. Sie sah bezaubernd aus in ihrem weißen Sommerkleid und den blonden, zu dicken Zöpfen geflochtenen Haaren. Der siegreiche Held, der eben eine Schlacht gewonnen hatte, fiel - ohne dass ein Schuss abgefeuert wurde.

Seine bislang große Liebe, eine gewisse Amy Lawrence, entschwand spurlos aus seinem Herzen. Dabei hatte er Monate gebraucht, um das Mädchen für sich zu gewinnen. Erst vor einer Woche hatte sie ihm ihre Liebe gestanden. Er war der stolzeste, glücklichste Junge auf der ganzen Welt gewesen. Und jetzt? Innerhalb von Sekunden löste sich seine Liebe in Nichts auf.

Tom betrachtete schmachtend diesen eben erschienenen Engel, bis er feststellte, dass auch sie ihn bemerkt hatte. Dann begann er, sich in typischer Jungenart vor ihr zu produzieren. Eine Weile zeigte er verschiedene Kunststücke und gerade, als er in einer schwierigen Turnübung steckte, sah er, dass sie sich zur Haustür gewandt hatte.

Tom lehnte sich an den Zaun und hoffte, sie würde noch ein wenig draußen bleiben. Doch sie ging weiter. Tom seufzte. Sein Gesicht hellte sich jedoch auf, als sie ihm ein Stiefmütterchen über den Zaun warf, bevor sie verschwand. Außer sich vor Freude hob er das Blümchen auf und befestigte es an der Innenseite seiner Jacke, dicht am Herzen. Es konnte auch der Magen sein, so genau kannte Tom sich in Anatomie nicht aus. Den Kopf voll herrlichster Träume ging er heim.

Während des ganzen Abendessens war er so guter Laune, dass Tante Polly fast schon wieder misstrauisch wurde. Sie schimpfte tüchtig, weil er Sid mit Erdklumpen beworfen hatte. Aber das machte ihm natürlich nichts aus. Er versuchte sogar, unter ihrem strengen Blick ein paar Stückchen Zucker zu stibitzen und bekam dafür eins auf die Finger. "Sid schlägst du nie, wenn er sich Zucker nimmt!"

"Sid ist ja auch nicht so ungezogen wie du!" erwiderte die Tante. Sie stand auf und ging in die Küche. Triumphierend sah Sid seinen Halbbruder an und griff nach der Zuckerdose. Doch sie rutschte ihm aus den Fingern und zerbrach. Toms Freude darüber war so groß, dass er sogar seine Zunge im Zaum hielt. Er beschloss, kein Wort zu sagen. Nicht einmal, wenn seine Tante hereinkäme. Erst wenn sie fragte, wollte er den Übeltäter preisgeben. Eine herrliche Vorstellung! Endlich würde sich der Musterknabe Sid auch mal ein paar Ohrfeigen einfangen.

Als Tante Polly erschien und auf die Scherben blickte, schossen Zornesblitze aus ihren Augen. Jetzt kommt es, dacht er bei sich. Im nächsten Augenblick lag er schon am Boden und Tante Polly hatte den Arm bereits wieder erhoben.

"Halt!" schrie Tom. "Sid hat doch die Dose kaputtgemacht!"

Verblüfft hielt die alte Dame inne und Tom erwartete entschuldigendes Mitgefühl. Aber Tante Polly sagte nur: "Na, verdient hast du es bestimmt; für all die Male, wo ich dich nicht erwischt habe!"

Doch im Grunde ihres Herzens war ihr nicht ganz wohl… Einerseits hatte sie ein schlechtes Gewissen und hätte Tom gerne etwas Tröstliches gesagt. Damit hätte sie allerdings ihren Irrtum eingestanden und das wollte sie keinesfalls tun. Sie begann mit kummervollem Herzen den Tisch abzuräumen.

Tom schmollte. Er wusste genau, was seine Tante jetzt dachte und dieses Bewusstsein gab ihm eine finstere Befriedigung. Er würde ihr auf keinen Fall entgegenkommen! Keinen ihrer tränenumflorten Blicke wahrnehmen! Selbst wenn er todkrank im Bett läge und die Tante sich über ihn beugte, ihn um Verzeihung anflehte… Er würde sich zur Wand drehen und sterben, ohne das erlösende Wort gesprochen zu haben. Wie würde sie sich dann erst fühlen!

Beim Gedanken an seinen eigenen Tod, stiegen Tom selbst die Tränen in die Augen. Um nichts in der Welt, hätte er sich in seinem Selbstmitleid jetzt stören lassen. Sein Schmerz war ihm zu heilig.

Als seine Cousine Mary ins Zimmer getanzt kam, übersprudelnd vor Freude und Neuigkeiten, stand Tom still auf und ging leidend hinaus. Er suchte die Einsamkeit, um in Ruhe seinen trüben Gedanken nachhängen zu können. Dazu setzte er sich auf die äußerste Kante eines am Fluss liegenden Floßes. Er blickte über die Weite des Stromes. Dabei wünschte er zu ertrinken, rasch und ohne etwas zu spüren.

Dann fiel ihm das fremde Mädchen wieder ein, und er holte die Blume hervor. Ihre Blätter hingen welk herunter. Tom fragte sich, ob sie wohl Mitleid mit ihm empfinden würde. Ob sie ihn wohl trösten und die Arme um ihn legen würde? Oder würde sie ihn allein lassen, wie alle anderen auch.

Gegen zehn Uhr abends erreichte er die verlassene Straße, in der seine Angebetete wohnte. Nichts regte sich… Eine flackernde Kerze warf ihr trübes Licht auf den Vorhang eines Fensters im zweiten Stock. War dies das Zimmer seines Engels? Tom schlich leise durch die Büsche bis unter das erleuchtete Fenster. Er legte sich flach auf den Boden, die welke Blume in der Hand. So wollte er sterben - allein.

Während er in Selbstmitleid versank, öffnete sich das Fenster. Die misstönende Stimme eines Dienstmädchens entweihte die heilige Stille und eine Sintflut schmutzigen Wassers durchtränkte die sterblichen Überreste des Märtyrers.

Prustend sprang Tom auf. Er hüpfte über den Zaun, fluchte und verschwand in der Dunkelheit.

Als Tom später, bereits zum Schlafen umgezogen, seine durchnässten Kleider betrachtete, erwachte Sid. Er verkniff sich jedoch jegliche Anspielung auf die Geschehnisse des Abends, denn aus Toms Augen blitzte Gefahr. Dieser schlüpfte ins Bett, ohne das lästige Nachtgebet zu sprechen, was Sid erneut im Geiste notierte.

 

 

 

4. Tom in der Sonntagsschule

Die Sonne ging auf und sandte ihre wärmenden Strahlen auf den friedlichen Ort. Tante Polly hielt nach dem Frühstück ihre Familienandacht ab. Anschließend begann Tom, die längst fälligen Verse für die Sonntagsschule zu lernen. Sid hatte das natürlich schon Tage vorher erledigt.

Tom bemühte sich, fünf Verse auswendig zu lernen. Er wählte sie aus der Bergpredigt, weil er in der ganzen Heiligen Schrift keine kürzeren finden konnte.

Seine Gedanken schweiften beim Lernen ständig ab und er zappelte rum. Nach einer halben Stunde hatte er wenigstens eine vage Vorstellung von seiner Lektion. Seine Cousine Mary fragte ihn ab und Tom versuchte, sich durch den Nebel der Bibelverse zu tasten. Es war grauenvoll. Nicht einen ganzen Vers brachte er zustande.

"Ach Tom, du weißt doch, dass ich dich nicht ärgern will. Aber du wirst die Sprüche lernen müssen. Setz dich noch mal hin, du schaffst das schon. Und dann kriegst du auch etwas ganz Tolles von mir! Okay?"

"Na schön… Was schenkst du mir denn, Mary? Gib mir einen Tipp!"

"Nein. Wenn ich sage es ist etwas Tolles, dann ist es etwas Tolles."

"Klar, Mary. Geht in Ordnung."

Tom lernte weiter, und unter dem Druck der Neugier war er mit solchem Feuereifer am Werk, dass der Erfolg nicht lange auf sich warten ließ. Deshalb schenkte Mary ihm ein funkelnagelneues Taschenmesser. Tom brachte vor Freude kein Wort mehr heraus. Es war ein echtes Barlow-Messer und das war sehr viel wert. Mit dem Messer konnte man zwar nicht richtig schneiden, aber es reichte aus, um einige Kerben in den Schrank zu schnitzen.

Gerade als er sich an die Kommode machen wollte, wurde er unterbrochen. Mary stellte eine Schüssel mit warmem Wasser und ein Stück Seife draußen vor der Tür auf die Bank. Tom tauchte die Seife ins Wasser und legte sie neben der Schüssel ab. Danach goss er das Wasser aus, lief in die Küche und trocknete sich mit dem Handtuch das Gesicht ab.

"Schäm dich!", sagte Mary und nahm ihm das Handtuch ab. "Wasser tut nicht weh!"

Tom sah verlegen zu, wie sie die Schüssel von neuem füllte. Er seufzte tief auf, sammelte Mut, hielt die Luft an und machte sich ans Werk. Kurze Zeit später trat er wieder in die Küche, die Augen fest zugekniffen. Er tastete nach dem Handtuch, während Wasser und Seife von seinen Wangen tropfte. Doch die saubere Fläche endete am Kinn; der Hals schien unberührt. Jetzt nahm Mary sich den Jungen selbst vor und als sie ihr Werk beendet hatte, glänzte Tom wie ein polierter Apfel.

Dann holte Mary den guten Anzug aus dem Schrank, legte ihm den riesigen Kragen über die Schultern, knöpfte seine Jacke bis zum Kinn zu, bürstete ihn ab und setzte ihm zur Krönung noch den Strohhut auf den Kopf. Tom sah jetzt zwar ordentlicher aus, aber ausgesprochen unglücklich. Der sonntägliche Aufzug war ihm unbequem. Er hoffte, dass Mary wenigstens die Schuhe vergessen würde. Doch sie zog sie bereits aus dem Schrank und fettete sie mit Talg ein. Tom schimpfte wie ein Rohrspatz.

"Ach bitte, Tom", schmeichelte Mary, "es sind ja nur noch die Stiefel." Tom fuhr zähneknirschend in die Schuhe. Bald darauf machten sich alle auf den Weg zur Sonntagsschule. Sid und Mary gingen gerne hin, doch Tom hasste sie von ganzem Herzen.

An der Kirchentür sprach Tom einen ebenfalls sonntäglich gekleideten Jungen an: "Sag mal, Bill, hast du einen gelben Zettel für mich?"

"Ja, wieso?"

"Du kriegst auch ein Stück Lakritze und einen Angelhaken dafür!"

"Zeig mal her."

Tom kramte in seiner Hosentasche und die Schätze wechselten den Besitzer. So tauschte Tom noch mit mehreren Kindern seine Habseligkeiten in verschiedenfarbige Zettel ein. Dann betrat er mit einem Schwarm lärmender Jungen und Mädchen endlich die Kirche, ging an seinen Platz und begann umgehend mit dem nächst besten Jungen einen Streit.

Der Lehrer, ein ernster, älterer Herr, versuchte, den Streit zu schlichten. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Immer wenn er sich wegdrehte, zog Tom den einen Jungen an den Haaren oder piekste einen anderen mit einer Nadel, sodass er laut "Aua" rief und erneut vom Lehrer ermahnt wurde. Diese Klasse war für den Lehrer eine wahre Plage.

Keiner konnte die Bibelsprüche ohne Stottern aufsagen. Trotzdem schafften sie es mit ‚Ach und Krach', ihre übliche Belohnung zu erhalten. Es gab blaue Zettel, auf denen jeweils ein weiterer Bibelspruch stand. Man bekam sie, wenn man zwei Bibelsprüche aufgesagt hatte. Zehn blaue Zettel waren so viel wert wie ein roter. Für zehn rote bekam man einen gelben Zettel. Und wer zehn gelbe besaß - was nur selten jemand schaffte - dem überreichte der Kirchenvorsteher eine einfach gebundene Bibel.

Mary hatte nach zwei Jahren geduldiger Arbeit auf diesem Weg schon zwei Bibeln erworben. Ein deutscher Junge hatte es sogar schon zu fünf Bibeln gebracht. Trotz dieser außergewöhnlichen Belohnung, machte es Tom bisher zu viel Mühe, die dafür notwendigen zweitausend Bibelverse zu lernen. Allerdings, den mit der Übergabe verbundenen Ruhm hätte er schon verlockend gefunden.

Zur üblichen Zeit erhob sich der Kirchenvorsteher mit dem Gesangbuch in der Hand, stellte sich vor die Kanzel und bat um Aufmerksamkeit. Weshalb er das Gesangbuch in der Hand hielt, blieb allen ein Rätsel, denn er benutzte es nie. Mr. Walters war ein magerer Mann von etwa fünfunddreißig Jahren mit sandfarbenem Ziegenbart und hellen, kurz geschnittenem Haar.

Er war ein äußerst gewissenhafter und ehrlicher Mensch. Mit seiner Sonntagsschulstimme, die wesentlich klangvoller war als seine Alltagsstimme, sagte er: "Jetzt, Kinder, setzt euch ordentlich und gerade hin und hört für ein paar Minuten aufmerksam zu." Sein Blick schweifte durch die Reihen. "Ja, so ist es schön. Ich möchte euch sagen, dass es mich freut, so viele saubere, strahlende kleine Gesichter an einem Ort wie diesem versammelt zu sehen, wo das Rechte und das Gute zu tun gelehrt wird…" und so weiter. Die Ansprache verlief genau wie immer und war allen hinreichend bekannt.

Mit der Zeit begann aber wieder das Zischen, Kichern und Zappeln. Es wurde so heftig, dass es sogar Mary und Sid erreichte, die normalerweise wie Felsen in ihrer Bank saßen. Aber plötzlich herrschte absolute Ruhe. Ein recht seltenes Ereignis unterbrach die Ansprache des Kirchenvorstehers. Besucher hatten die Kirche betreten.

Es war Rechtsanwalt Thatcher, begleitet von einem alten Herrn. Ihm folgte ein stattlicher Vierziger nebst Ehefrau. Die Dame führte ein Mädchen an der Hand - Toms Engel!

Bis dahin hatte er noch Gewissensbisse empfunden, wenn er die liebevollen Blicke sah, die Amy Lawrence ihm zuwarf. Aber jetzt füllte sich sein Herz im Nu mit flammender Freude. Er begann, sich mächtig aufzuspielen, Grimassen zu schneiden, kurz, er tat alles, um die Aufmerksamkeit des Mädchens auf sich zu lenken.

Den Gästen wurden die Ehrenplätze zugewiesen. Mr. Walters stellte die Neuankömmlinge am Ende seiner Rede vor. Der stattliche Herr mittleren Alters war der Kreisrichter. Er war die höchstgestellte Persönlichkeit, die die Kinder je gesehen hatten. Der Richter war ein weit gereister Mann, immerhin kam er aus dem zwölf Kilometer entfernten Constantinople. Ehrfürchtig starrten die Kinder den großen Richter Thatcher an, den Bruder des ortsansässigen Rechtsanwaltes Jeff Thatcher. Der ließ sich natürlich um den vertrauten Kontakt von der ganzen Sonntagsschule beneiden.

Selbst Mr. Walters begann, sich wichtig zu machen. Ebenso der Bibliothekar und die jungen Lehrerinnen; plötzlich wandten sie sich freundlich den Kindern zu, denen sie kurz zuvor noch Ohrfeigen gegeben hatten. Mädchen und Jungen versuchte, sich gegenseitig zu übertrumpfen.

Über all dem thronte der berühmte Mann mit seinem majestätischen richterlichen Lächeln und sonnte sich in seiner eigenen Größe. Zu Mr. Walters vollkommenem Glück fehlte nur noch eins: Ein Musterkind, dem er einen Bibelpreis verleihen könnte. Er dachte nach. Gerade als er die Hoffnung bereits begraben hatte, trat Tom Sawyer nach vorne. Er hielt ihm neun gelbe, neun rote und zehn blaue Zettel hin und forderte eine Bibel. Damit hatte er nicht gerechnet. Doch es ließ sich nicht leugnen, die Zettel waren echt.

So bekam Tom einen Ehrenplatz beim Richter und den anderen Gästen. Es war die Sensation des Jahrhunderts. Natürlich ärgerten sich diejenigen, die ihm ihre Zettel verkauft hatten, zutiefst.

Tom wurde nun wortreich der Preis verliehen. Trotzdem wurde der Kirchenvorsteher das Gefühl nicht los, dass hinter diesem Bibelpreis ein dunkles Geheimnis steckte. Dieser Lausejunge kannte nie und nimmer zweitausend Verse auswendig.

Amy Lawrence sah ihren Tom stolz und glücklich an. Doch er schaute nicht zu ihr. Und schon bald bemerkte sie den verstohlenen, zärtlichen Blick, den Tom dem fremden Mädchen zuwarf. Sie meinte, ihr Herz müsse vor Kummer zerspringen. Tränen stiegen in ihre Augen, und in diesem Moment hasste sie Tom.

Nun wurde Tom dem Richter vorgestellt. Gnädig legte der Richter Tom die Hand auf den Kopf und nannte ihn einen prächtigen jungen Mann. Er fragte ihn nach seinem Namen. Tom schnappte nach Luft, stotterte und nach mehreren Anläufen hatte er endlich "Tom Sawyer" über die Lippen gebracht. Er sah den Blick des Richters und verbesserte sich sofort: "Thomas Sawyer".

"So ist es richtig. Du bist ein braver Junge. Zweitausend Bibelverse, die zu lernen muss eine Menge Mühe gekostet haben. Doch es wird sich eines Tages lohnen und du wirst ein großer, berühmter Mann sein. Diese zweitausend Bibelsprüche sind nicht mit Geld aufzuwiegen. Und nun wirst du sicher gerne etwas von dem vortragen, was du so eifrig gelernt hast. Sicher kennst du die Namen der zwölf Apostel. Wie hießen die ersten beiden, die zu Jüngern des Herrn wurden?"

Tödlich verlegen fingerte Tom an einem Knopf herum und sah den Richter ratlos an. Mr. Walters rutschte das Herz in die Hose, als er bemerkte, dass der Junge nicht einmal die einfachsten Fragen beantworten konnte. Wie Peinlich! Pflichtschuldig stellte er sich neben Tom und forderte: "Antworte dem Richter, Thomas. Du brauchst keine Angst zu haben!"

Tom zögerte, bis die Frau des Richters sich an ihn wandte: "Aber mir verrätst du sie doch. Die ersten beiden Apostel hießen…"

"David und Goliath!"

Über den Schluss dieser Szene wollen wir lieber barmherzig schweigen.

 

 

 

5. Tom und sein Kneifkäfer

Gegen halb elf Uhr läutete die Glocke der kleinen Kirche. Die Erwachsenen kamen zum Gottesdienst und die Sonntagsschüler setzten sich zu ihren Familien. Als Tante Polly erschien, setzten sich Sid, Tom und Mary zu ihr.

Tom musste sich in den Mittelgang setzen, weit weg vom geöffneten Fenster und den ablenkenden Geschehnissen draußen. Die Gemeinde drängte sich durch die Gänge. Da war der alte Postmeister, der Bürgermeister und seine Gattin, der Friedensrichter, die Witwe Douglas, der ehrwürdige Major Ward mit seiner Gattin, Rechtsanwalt Riverson, der sich erst kürzlich am Ort niedergelassen hatte.

Dann kamen die Dorfschönsten, gefolgt von elegant gekleideten Herzensbrechern und andere Jünglinge des Ortes; alle gleichzeitig. Denn sie hatten draußen am Kirchplatz noch gewartet, bis auch das letzte Mädchen vor ihren neugierigen Blicken die Kirche betreten hatte. Zuletzt kam noch Willie Mufferson, der Musterknabe, der seine Mutter zur Kirche führte. Er war der Stolz aller würdigen Matronen und wurde den Jungs häufig als leuchtendes Beispiel vorgehalten. Die Jungen hassten ihn.

Die Glocke läutete noch einmal, um Nachzügler zu mahnen. Dann breitete sich Schweigen in der Kirche aus. Nur die Chormitglieder, oben auf der Empore, flüsterten und kicherten während des ganzen Gottesdienstes. Aber das taten sie immer, es war nichts Besonderes.

Der Pfarrer las den Text des Kirchenliedes, dann wurde es gesungen. Die Gemeinde erhob sich zum Gebet. Der Pfarrer sprach ein großzügiges, sehr persönliches Gebet und erflehte darin für alles und jeden um den Segen. Die Kleider raschelten, als die Gemeinde sich wieder setzte. Dann wurde der Bibeltext verlesen und die Predigt mit einschläfernder Stimme heruntergeleiert. Vom Inhalt bekam Tom wenig mit, er konnte am Ende des Gottesdienstes aber immer sagen, wie viel Seiten die Predigt hatte.

Diesmal jedoch fesselte ihn der Prediger sogar für einen kurzen Augenblick, als er ein bewegendes Bild malte, wie sich am Jüngsten Tag die auferstandenen Seelen sammelten und das Lamm neben dem friedlichen Löwen lag, geführt von einem unschuldigen Knaben. Tom wünschte sich, er könnte dieser Knabe mit dem Löwen sein.

Doch im nächsten Moment holte er bereits wieder seine Schätze aus der Hosentasche: einen schwarzen Käfer mit wunderbaren Zangen, seinen Kneifkäfer, den er in einer kleinen Schachtel aufbewahrte. Die erste Tat des Käfers war, Tom in den Finger zu zwicken. Daraufhin schüttelte er so heftig die Hand, bis der Kneifkäfer losließ und zappelnd auf dem Rücken liegen blieb, mitten im Gang. Tom steckte den schmerzenden Finger in den Mund.

Leider lag der schwarze Käfer außerhalb von Toms Reichweite. So sah er zu, wie sein Käfer hilflos mit den Beinen ruderte, unfähig sich umzudrehen. Bald darauf kam schnüffelnd ein kleiner Pudel den Gang entlang. Er wedelte erfreut mit dem Schwanz, als er den Käfer bemerkte. Er beobachtete die Beute, umkreiste sie, schnüffelte, näherte sich mutig mit der Schnauze, zog sie wieder zurück, schnappte danach, verfehlte sein Opfer, schnappte wieder. Offensichtlich hatte der Hund seine Freude an der Abwechslung. Er legte sich auf den Bauch, den Käfer zwischen den Pfoten und fuhr mit seinen Versuchen fort. Als er müde wurde, senkte sich sein Kopf. Der Feind sah seine Chance gekommen und packte zu. Der Pudel jaulte laut auf, schüttelte den Kopf. Der Käfer flog einige Meter weit, erneut auf den Rücken.

Die Zuschauer amüsierten sich, versteckten ihr Schmunzeln hinter dem Taschentuch. Tom fühlte sich restlos glücklich. Der Hund sah sich um und sann auf Rache. Er setzte seine Versuche mit dem Kneifkäfer fort, bis ihm dann aber doch langweilig wurde und er sich anderen Insekten zuwandte. Er schien den Käfer total vergessen zu haben. Aber als er sich über eine Ameise hermachen wollte, sein Hinterteil in Richtung Boden bewegte, setzte er sich… direkt auf Toms Kneifkäfer.

Sein wildes Jaulen erschreckte die ganze Gemeinde. Der Pudel sauste, gequält heulend, kreuz und quer durch die Kirche, sprang schließlich seinem Herrchen auf den Schoß. Dieser warf ihn im hohen Bogen zum Fenster hinaus, wo sich die Klagelaute bald verloren.

Inzwischen hatten alle Kirchenbesucher rote Gesichter, weil sie vor unterdrücktem Lachen fast erstickten. Die Predigt war an einem toten Punkt angelangt. Niemand konnte mehr aufmerksam zuhören. Selbst der ernsteste Gedanke wurde mit einer solchen Heiterkeit aufgenommen, als habe der Pfarrer etwas besonders Komisches gesagt. Es war eine wahre Erlösung, als die Predigt endlich vorüber war und der Segen gesprochen war.

Tom Sawyer ging sehr vergnügt nach Hause. Er dachte, dass man mit ein bisschen Abwechslung den Gottesdienst ganz gut ertragen konnte. Schade nur, dass der Hund seinen Käfer fortgeschleppt hatte.

 

 

 

6. Tom und Becky

Am Montagmorgen fühlte sich Tom schlecht. Eine neue Woche endlosen Leidens in der Schule fing an. Tom dachte nach. Wenn er jetzt krank würde, dann könnte er zu Hause bleiben. Aber leider fehlte ihm nichts. Obwohl, wenn er genau nachdachte, dann könnte er Leibschmerzen haben. Er glaubte, leichte Leibschmerzen zu spüren. Doch sie verschwanden gleich wieder. Dann fiel ihm sein wackelnder Zahn ein. Gerade als er zu stöhnen beginnen wollte, fiel ihm ein, dass Tante Polly diesen Zahn dann ziehen würde. Und das tat weh. Er suchte nach einer besseren Idee.

Sein Zehn neulich hatte der Doktor erzählt, dass ein Mann wochenlang krank war und dabei fast den Finger verloren hatte. Ihm fiel zwar der Name der Krankheit nicht mehr ein, aber es war immerhin einen Versuch wert. So begann er täuschend echt zu stöhnen. Sid schlief weiter und merkte nichts. Tom stöhnte weiter, bis er meinte, sein Zeh verursache tatsächlich Schmerzen. Doch Sid rührte sich nicht.

Nach langen Bemühungen, Tom keuchte bereits vor Anstrengung, starrte Sid erstaunt seinen stöhnenden Halbbruder an. "Tom! Hörst du, Tom!" rief er.

Keine Antwort!

"Tom, was ist los?" Sid blickte ihn ängstlich an.

"Au, lass mich. Du tust mir weh!", stöhnte Tom, als Sid ihn an den Schultern packte.

Tom lieferte ein täuschend echtes Schauspiel. "Ich vergebe dir Sid", stöhnte er. "Ich vergebe allen…"

"Tom, du wirst doch nicht sterben!" rief Sid und rannte zu Tante Polly. "Tante Polly, Tante Polly! Tom liegt im Sterben!"

"Im Sterben?", ließ sich Tante Pollys Stimme vernehmen. "Unsinn!" Trotzdem hastete sie bereits die Treppe hinauf. Sid und Mary folgten ihr. Kreidebleich stand sie vor Tom, der immer noch stöhnend im Bett lag.

"Oh, Tante Polly, ich…"

"Was hast du, so sag's doch endlich!"

"Mein Zeh, Tantchen… mein schlimmer Zeh hat den Wundbrand!"

Die alte Dame ließ sich auf den Stuhl fallen und lachte schallend. "Jetzt hör aber mit dem Unsinn auf. Mach, dass du aus dem Bett kommst."

Das Shöhnen hörte auf. Tom kam sich albern vor. Er versuchte, es noch einmal. "Der Zeh hat wirklich so ausgesehen, als wäre er brandig. Und es hat so wehgetan, dass ich meinen wackeligen Zahn fast nicht mehr gespürt habe."

"Dein Zahn wackelt? Lass sehen, aber fang nicht gleich wieder an zu stöhnen." Tante Polly sah nach und befahl: "Hol mir bitte einen Seidenzwirn und ein brennendes Scheit aus dem Herdfeuer, Mary."

"Ach bitte, zieh ihn nicht raus, Tante Polly. Es tut schon nicht mehr so arg weh und ich will auch in die Schule gehen.", jammerte Tom.

"Ach, wirklich? Deshalb also das ganze Theater. Du weißt doch genau, wie lieb ich dich habe. Trotzdem legst du es ständig darauf an, mir das Herz zu brechen."

Inzwischen standen die Instrumente für den zahnärztlichen Eingriff bereit. Tante Polly band das eine Ende des Fadens fest um Toms Zahn, das andere Ende an den Bettpfosten. Das brennende Holzscheit hielt sie Tom direkt unter die Nase, so dass er zurückzuckte. Und schon baumelte der Zahn am Bettpfosten.

Doch Tom fand auch in diesem Leid die gute Seite. Die neue Zahnlücke ermöglichte ihm eine außergewöhnliche Art des Zielspuckens, mit dem er in der Schule großes Aufsehen erregte.

Auf dem Weg begegnete Tom dem jugendlichen Landstreicher des Ortes: Huckleberry Finn. Der Sohn eines Trunkenboldes. Er galt als faul, frech und grob und wurde von den Kindern bewundert, weil sie am liebsten genauso frei und unabhängig gelebt hätten wie er.

Auch Tom beneidete Huckleberry um seine grenzenlose Freiheit und spielte oft mit ihm, obwohl Tante Polly es strengstens verboten hatte.

Huckleberry trug die abgelegte Hose eines erwachsenen Mannes. Sie war zerlumpt und schlotterte um seinen Körper. Sein Hut war verbeult und an der breiten Krempe fehlte ein Stück. Die ausgefranste Jacke hing fast bis zu den Fersen hinab. Er brauchte weder zur Schule zu gehen, noch zur Kirche. Überhaupt brauchte er niemandem zu gehorchen - er war sein eigener Herr. Er brauchte sich niemals zu waschen, fluchte wie kein anderer. Kurz: Er besaß alles, was das Leben für einen Jungen begehrenswert macht.

"Hallo, Huckleberry", grüßte Tom.

"Hallo, Tom!"

"Was hast du da?"

"Eine tote Katze! Die habe ich einem Jungen abgekauft."

"Und was machst du mit der toten Katze, Huck?"

"Was wohl, Na, Warzen mach ich damit weg."

"Da weiß ich aber was Besseres!"

"Es gibt viele Möglichkeiten. Aber nur meine hilft!"

Dann tauschten die beiden Jungen fachmännische Tricks zur Beseitigung von Warzen aus. Zum Beispiel erzählte Tom von einem faulen Baumstumpf.

"An den musst du um Mitternacht rückwärts hingehen, die Hand ins faulige Nass strecken und laut sagen: ‚Gerstenkorn, Gerstenkorn, Faulwasser mit Harz. Maibrei macht kürzer, schluck diese Warz.' Danach gehst du genau elf Schritte weg, drehst dich mit geschlossenen Augen dreimal im Kreis herum und dann musst du schnell nach Hause gehen. Aber sprich mit keiner Menschenseele, sonst war alles umsonst."

Huckleberry hielt mit seinem Bohnentrick dagegen. "Du musst eine Bohne halbieren. Dann stichst du in die Warze, damit sie ein wenig blutet und dann schmiert man das Blut in die Bohne. Um Mitternacht vergräbst du die eine Hälfte der Bohne an einem Kreuzweg und die andere Hälfte wird verbrannt. Dazu rufst du: ‚Bohne weg, Warze weg, steckt für immer hier im Dreck!' Das soll auch helfen, habe ich gehört."

"Ja", sagte Tom aufgeregt, "aber trotzdem würde mich die Sache mit der Katze interessieren."

"Du gehst zu einer neuen Grabstelle in der ein Bösewicht begraben liegt. Um Mitternacht natürlich. Dann erscheint ein Teufel, manchmal sind es auch zwei oder drei. Du erkennst es am Geräusch, als würde der Wind durchpfeifen. Und wenn er den Übeltäter holt, dann wirfst du ihm die Katze hinterher und rufst: ‚Teufel, hol die Leiche, Katze, hol den Teufel. Warze, hol die Katze, mit der Höllentatze!' Da wirst du jede Warze los, garantiert!"

"Hast du es schon probiert?"

"Nein. Aber Mutter Hopkins hat es mir beigebracht. Und die muss es wissen, sie ist eine Hexe."

"Nimmst du mich mit, wenn du den Trick mit der Katze ausprobierst?"

"Klar. Heute Nacht! Aber vermassele es nicht wieder. Ich miaue und du miaust zurück, wenn du abhauen kannst. Abgemacht?"

"Ja. Beim letzten Mal lag meine Tante auf der Lauer. Da konnte ich unmöglich antworten. Diesmal klappt es bestimmt."

Dann tauschten die Jungen noch Toms Zahn gegen die Zecke an Huckleberrys Hand. Nicht ohne vorher die Zahnlücke geprüft zu haben. Die Zecke passte genau in die Schachtel, in der der Kneifkäfer bislang gewohnt hatte. Schließlich trennten sich die Jungen und jeder fühlte sich unendlich viel reicher als zuvor.

Als Tom endlich beim kleinen hölzernen Schulhaus angekommen war, trat er schwungvoll ein, hängte seinen Hut an den Nagel und ließ sich in seine Bank fallen.

Der Lehrer, durch das eintönige Gemurmel der Lernenden eingeschläfert, döste in seinem Korbsessel vor sich hin. Toms Eintreten ließ ihn erschreckt auffahren.

"Tom Sawyer", brüllte er.

Tom überlegt, ob er eine Lügengeschichte erfinden sollte. Als er auf der Mädchenseite zwei blonde Zöpfe bemerkte, beschloss er die Wahrheit zu sagen und sagte schnell: "Ich musste noch etwas mit Huckleberry Finn besprechen, Sir."

Dem Lehrer stockte der Atem und im Klassenzimmer herrschte plötzlich tödliches Schweigen. Alle sahen sich hilflos an, bis der Lehrer die Sprache wieder gefunden hatte.

"Thomas Sawyer, das ist die unverschämteste Erklärung, die mir je ein Schüler geboten hat. Zieh deine Jacke aus!"

Dann bearbeitete der Lehrer Toms Rücken, bis er selbst völlig erschöpft war und fast keine Ruten mehr da waren.

"So, das wird dir eine Warnung sein. Und jetzt setz dich zu den Mädchen."

Tom tat so, als wäre ihm das Kichern seiner Klassenkameraden peinlich. Doch in Wirklichkeit war die Strafe genau das, was er hatte erreichen wollen. Verlegen setzte er sich auf die äußerste Kante der Bank, neben seine Angebetete. Sie rückte von ihm ab und wandte den Kopf zur Seite.

Nach und nach ließ die Aufmerksamkeit der anderen Kinder nach, als wäre nichts geschehen. Jetzt begann Tom, verstohlen zu dem Mädchen hinüber zusehen. Sie schnitt ihm eine Grimasse und wandte sich wieder ab. Als sie wieder herüberblickte, lag ein Pfirsich auf ihrem Tisch. Sie schob ihn fort. Tom legte ihn geduldig wieder auf ihren Platz. Auf seine Tafel kritzelte er: Bitte nimm ihn - ich habe noch mehr.

Das Mädchen warf einen kurzen Blick darauf, sagte aber nichts. Tom wurde mutiger und begann zu malen. Dabei verdeckte er seine Tafel. Irgendwann wurde das Mädchen dann doch zu neugierig und sagte: "Lass mal sehen!"

Nun zeichnete Tom an der kümmerlichen Darstellung eines Hauses mit zwei Giebeln und einem Schornstein, aus dem eine korkenzieherförmige Rauchwolke quoll. Das Mädchen schaute ihm aufmerksam beim Zeichnen zu. "Prima", sagte sie, "jetzt fehlt nur noch ein Mensch."

Der Künstler stellte einen Riesen in den Vorgarten, der leicht über das Haus hätte steigen können. Aber das Mädchen schien mit dem Ungeheuer zufrieden. "Wunderschön", flüsterte sie, "jetzt fehle nur noch ich, wie ich den Weg entlang komme."

Tom zeichnete eine Sanduhr, darauf ein Vollmondgesicht und Arme und Beine, die Strohhalmen glichen. In die ausgebreiteten Finger legte er einen gigantischen Fächer. "Wie hübsch", zischte sie. "Ich wollte, ich könnte so gut zeichnen."

"Wenn du willst, kann ich es dir lernen. Es ist ganz einfach. Bleiben wir doch nach der Schule noch ein wenig da. Wie heißt du?", raunte Tom.

"Becky Thatcher."

Tom kritzelte wieder etwas auf seine Tafel, das er vor Beckys Augen verbarg. Doch sie bat ihn sofort, es ihr zu zeigen. Tom zierte sich ein wenig. Daraufhin entwickelte sich eine kleine Balgerei, bei der Tom so tat, als würde er sich ernstlich wehren. Dann aber gab er nach und zog seine Hand weg. Auf der Tafel stand: Ich liebe dich.

Becky errötete und gab Tom einen Klaps. "Du bist gemein", hauchte sie dazu. Sie sah jedoch so aus, als freue sie sich.

Just in diesem Moment wurde Tom am Ohr gepackt und in die Höhe gezogen. Unter dem höhnischen Gelächter seiner Mitschüler, wurde er auf seinen Platz zurückbefördert. Der Lehrer starrte ihn einen schrecklichen Augenblick lang an, dann ging er kommentarlos zurück auf seinen Thron. Toms Ohr brannte höllisch, aber sein Herz jubelte.

Tom war den ganzen Vormittag durcheinander und konnte sich nicht mehr konzentrieren. In der Rechtschreibstunde verhaspelte er sich beim Buchstabieren der einfachsten Wörter so sehr, dass er die Medaille wieder zurückgeben musste, die er seit Monaten stolz besessen hatte.

 

 

 

7. Tom will sich verloben

Tom bemühte sich wirklich, am Unterricht teilzunehmen. Doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Mit einem Seufzer gab er den Kampf auf und gähnte herzhaft. Die Zeit bis zur Mittagspause schien ihm endlos. Das einschläfernde Gemurmel der fünfundzwanzig Schüler hatte dieselbe Wirkung wie das Summen von Bienen.

Tom sehnte sich danach, endlich nach draußen zu gehen. Er musste sich etwas gegen die Langeweile einfallen lassen. Mit der Hand kramte er in seiner Hosentasche. Verstohlen zog er die kleine Schachtel heraus. Vorsichtig setzte er die Zecke auf das lange Pult. Sie genoss ihre neu gewonnene Freiheit und versuchte sofort davon zu krabbeln. Bis Tom sie mit einer Nadel herum schob und sie zwang, die Richtung zu ändern.

Joe Harper, Toms Banknachbar und Busenfreund, langweilte sich ebenso. Dankbar zog er ebenfalls eine Nadel heraus und beteiligte sich an dem unterhaltsamen Spiel. Sie ließen den Gefangenen hin und her marschieren. Sie legten Joes Tafel auf das Pult und zogen einen Strich in der Mitte. Tom sagte: "Solange sie auf deiner Seite ist, lasse ich sie in Ruhe. Aber wenn sie auf meine Seite krabbelt, dann lässt du sie in Ruhe, bis ich sie nicht mehr davon abhalten kann, die Grenzlinie zu überqueren."

"Okay, lass sie los!"

Die Zecke entfloh ihrem Besitzer und kreuzte schon bald die Linie. Joe quälte sie eine Weile, dann eilte sie zurück. So wechselte sie immer wieder das Feld. Die Jungen verfolgten interessiert das Geschehen und hatten ihre Umgebung dabei völlig vergessen. Die Zecke war vermutlich genau so aufgeregt wie die Jungen selbst und versuchte verzweifelt zu entkommen. Endlich hielt Tom es nicht mehr aus und er fuhr mit seiner Nadel über die Trennlinie.

"Finger weg!" schimpfte Joe wütend.

"Ich will sie ja nur ein bisschen schubsen", erwiderte Tom. Und sie begannen sich zu zanken, wem das Tier nun eigentlich gehöre. Bis ein gewaltiger Schlag Toms Schulter traf. Und ein Zwillingsbruder dieses Hiebes sauste auf Joes Schulter nieder. Die beiden Jungen hatten nicht bemerkt, wie es plötzlich in der Klasse mucksmäuschenstill wurde, als der Lehrer auf Zehenspitzen durchs Klassenzimmer geschlichen war. Er hatte ihnen sogar noch eine Weile zugesehen, bevor er auf seine Weise Abwechslung in das Spiel brachte.

Endlich kam die Mittagspause. Tom flüsterte Becky Thatcher zu: "Setz deine Mütze auf und tu so, als wenn du nach Hause gehst. Wenn du vorn an der Ecke bist, läufst du den andern davon und kommst zurück. Ich gehe den anderen Weg und wir treffen uns hier."

Als die beiden wieder beim Schulhaus ankamen, waren alle anderen weg. Sie legten eine Tafel vor sich aufs Pult und Tom gab Becky seinen Griffel. Er führt ihre Hand, bis ein bemerkenswertes Haus gezeichnet war. Dann erlahmte das Interesse an der Kunst und sie begannen sich zu unterhalten. Tom fühlte sich wie im siebten Himmel.

"Magst du Ratten?", erkundigte er sich.

"Nein, weder tot noch lebendig", erwiderte Becky. "Aber weißt du, was ich mag? Kaugummi!"

"Ich auch. Ich wünschte, ich hätte einen."

"Ich hab einen. Willst du mal ein wenig kauen? Du musst ihn mir aber wieder zurückgeben!"

So kam es, dass sie mit baumelnden Beinen auf dem Tisch saßen und abwechselnd denselben Kaugummi kauten. Sie unterhielten sich noch über dies und das. Bis Tom plötzlich fragte: "Sag mal, Becky, warst du schon mal verlobt?"

"Was ist denn das?"

"Na, das macht man, bevor man heiratet."

"Wie macht man denn das?"

"Ganz einfach. Du musst einem Jungen versprechen, dass du nie einen anderen willst, für immer und ewig. Dann küsst ihr euch und das ist schon alles."

"Küssen? Warum denn küssen?"

"Ja, weil… na, das machen alle so!"

"Wirklich alle?"

"Ja, eben alle, die ineinander verliebt sind. Weißt du noch, was ich dir auf die Tafel geschrieben habe?"

Becky zierte sich noch ein wenig. Aber Tom flüsterte ihr ganz leise ins Ohr, was er am Morgen bereits auf die Tafel geschrieben hatte und legte sanft den Arm um sie. "Und jetzt du", fügte er hinzu.

"Du darfst aber nicht hersehen und du darfst es auch niemandem verraten, Tom. Keiner Menschenseele." Dann beugte sich Becky zu ihm herüber und flüsterte: "Ich liebe dich." Nun sprang sie schnell auf und rannte um die Schulbänke herum in eine Ecke des Klassenzimmers. Ihr verlegenes Gesicht versteckte sie hinter ihrer weißen Schürze.

Tom war ihr gefolgt. "Es ist schon fast vorbei. Jetzt kommt nur noch der Kuss. Davor brauchst du dich nicht zu fürchten. Das ist ein Klacks." Vorsichtig zog er an der Schürze.

Ganz langsam ließ Becky die Hände sinken. Ihre Wangen glühten. Tom küsste sie mitten auf den Mund.

"Siehst du, Becky. Jetzt ist es vorbei. Von jetzt an darfst du nur noch mich lieben und du darfst auch keinen anderen heiraten. Niemals. Willst du?"

"Sicher! Ich werde nur dich lieben, Tom, und keinen anderen heiraten - aber du auch nicht!"

"Klar! Und auf dem Schulweg gehst du jetzt immer mit mir und beim Spielen wählst du immer mich und ich dich. So macht man das nämlich, wenn man verlobt ist."

"Das gefällt mir. Das hab ich nicht gewusst."

"Ja, das macht Spaß. Als Amy Lawrence und ich…"

Tom erkannte an Beckys riesigen Augen, dass er einen Fehler gemacht hatte. Betreten hielt er inne. Becky schluchzte. "Dann bin ich ja gar nicht die Erste, mit der du dich verlobst!"

"Wein doch nicht, Becky. Ich mach mir doch schon lange nichts mehr aus ihr", sagte Tom. Doch als er einen Versuch machte, seinen Arm um Becky zu legen, stieß sie ihn zurück. Sie drehte sich zur Wand und der Tränenstrom floss unentwegt weiter. Tom versuchte mit besänftigenden Worten, sie zu trösten. Aber ohne Erfolg.

Er drehte sich um und ging nach draußen. Unruhig marschierte er auf und ab, immer in der Hoffnung, dass Becky ihr Verhalten bereuen und ihn suchen würde. Doch sie kam nicht. In der Erkenntnis, dass vielleicht doch er einen Fehler gemacht hatte, ging er nochmals zurück ins Klassenzimmer. Becky stand immer noch schluchzend in der Ecke.

"Becky, ich liebe wirklich nur dich", sagte er leise. Doch seine Angebetete schluchzte nur. "Becky, so sag doch was", bat er sie inständig. Daraufhin flossen noch mehr Tränen. Tom holte seinen kostbarsten Schatz hervor - einen Messingknopf, der von der Spitze eines Kamingitters stammte. "Nimm das, Becky, willst du?"

Sie schlug ihm den Knopf aus der Hand.

Tom verließ das Schulhaus und ging fort, mit der festen Absicht, zum Nachmittagsunterricht nicht zu erscheinen. Sehr bald begann Becky ihn zu vermissen. Doch so sehr sie auch suchte und rief, von Tom war weit und breit nichts zu sehen. Voller Selbstvorwürfe setzte sie sich hin und begann wieder zu weinen. Doch schon trafen die ersten Schüler ein. Jetzt musste sie ihren tiefen Kummer verbergen und den langen, öden Nachmittag über sich ergehen lassen. Und sie hatte niemanden, dem sie hätte ihr Herz ausschütten können.

 

 

 

8. Tom liebt Abenteuer

Tom lief durch Straßen und Gassen, bis er von den Nachmittagsschülern nicht mehr gesehen werden konnte. Dann fiel er in einen müden Trott. Mehrmals sprang er über einen kleinen Bach. Er hatte einmal gehört, dass man jeden Verfolger in die Irre führe, wenn man Wasser kreuze. Dann verschwand er hinter dem Haus der Witwe Douglas, das auf dem Cardiff-Hügel stand.

Das Schulhaus lag weit unten im Tal und war kaum noch zu erkennen. Hier begann ein dichter Wald. Tom bahnte sich einen Weg durch das Unterholz. An einem moosigen Platz unter einer weit ausladenden Eiche ließ er sich nieder.

Die Natur hielt den Atem an. Die bleierne Mittagshitze hatte sogar die Vögel zum Verstummen gebracht. Nur ein Specht hämmerte in der Ferne. Tom fühlte sich traurig und seine schwermütigen Gedanken stimmten völlig mit der Umgebung überein. Er saß da, das Kinn in die Hände gestützt, und dachte lange nach.

Was hatte er diesem Mädchen eigentlich getan? Er hatte das Beste gewollt und sie hatte ihn wie einen Hund behandelt. Eines Tages würde sie es bereuen, dessen war er sich sicher. Aber dann war es vielleicht schon zu spät. Wenn es doch möglich wäre, vorübergehend zu sterben. Oder wenigstens auf geheimnisvolle Weise verschwinden sollte man können. Was, wenn er fort ginge, in ferne Länder jenseits der Meere und nie wieder zurückkehrte? Was würde sie dann wohl empfinden?

Oder besser noch, er würde sich den Indianern anschließen und Büffel jagen. Auf Kriegspfad gehen und als ein großer Häuptling, geschmückt mit Federn und Furcht erregend bemalt, heimkommen. Dann würde er mit dem Kriegsruf, der allen das Blut in den Adern gefrieren ließe, in die Sonntagsschule stürmen, sodass all seine Kameraden vor Neid erblassten.

Oder noch toller - Pirat wollte er werden, das war es! Sein Name würde die Welt mit Angst und Schrecken erfüllen. Sein schwarzes Segelschiff, die Sturmwind, würde pfeilschnell die wilde See durchschneiden, die flatternde Totenkopf-Flagge am Mast. Dann, plötzlich würde er seinen Heimatort aufsuchen, von Wind und Wetter gestählt. Er würde in die Kirche treten und er hörte jetzt schon das Geflüster der versammelten Gemeinde: Habt ihr gesehen, das ist Tom Sawyer, der große Pirat! Der Rächer der Spanischen Meere!

Seine Laufbahn stand jetzt fest. Er würde von zu Hause weglaufen und sein Seeräuberleben beginnen. Gleich morgen. Er musste all seine Habseligkeiten zusammentragen. Tom stand auf und ging zu einem verfaulten Baumstumpf. Dort begann er mit seinem Taschenmesser zu graben. Bald stieß er auf Holz - es klang hohl. Er legte die Hand drauf und sprach: "Bringe, was nicht war! Bleibe, was da ist!"

Dann grub er eine kleine hölzerne Schatzkiste aus. Darin lag eine Murmel. Tom schüttelte verwirrt den Kopf und sagte laut: "Das ist doch nicht möglich!"

Ärgerlich warf er die Murmel fort. Der Murmelzauber war noch immer geglückt, so hatte man ihm erzählt. Wenn man eine Murmel begrub, dazu die notwendigen Beschwörungsformeln sprach, sie zwei Wochen lang liegen ließ und dann mit dem richtigen Spruch wieder ausgrub, dann mussten sich alle Murmeln, die man je besessen hatte, in der Zwischenzeit dort gesammelt haben. Toms Glaube war zutiefst erschüttert.

Er dachte einige Zeit darüber nach und kam zu dem Schluss, dass eine Hexe den Zauber unwirksam gemacht haben muss. Tom kannte sich aus. Sich mit Hexen anzulegen war absolut sinnlos und gefährlich. Darum gab er entmutigt auf. Doch wenigstens seine Murmel wollte er wieder finden.

So ging er wieder zu seiner Schatzkiste, stellte sich daneben, kramte eine zweite Murmel aus seiner Hosentasche und schleuderte auch diese weg, indem er rief: "Bruder, such den Bruder." Tom passte genau auf, wo die Murmel niederfiel. Er ging hin und ließ seinen Blick schweifen. Doch sie musste wohl zu kurz oder zu weit gefallen sein. Er versuchte den Vorgang noch zweimal, bis er Erfolg hatte und beide Murmeln einträchtig nebeneinander lagen.

In diesem Moment ertönte in der Tiefe des Waldes der Ruf einer Spielzeugtrompete. Tom riss sich Hose und Jacke vom Leib, verwandelte die Hosenträger in einen Gürtel und kramte aus seinem Versteck hinter dem Baumstumpf Pfeil und Bogen, ein Holzschwert und eine Blechtrompete. Schnell hängte er sich die Dinge um und jagte barfuss davon. Unter einer großen Ulme machte er Halt und blies auf der Trompete die Antwort. Er lauschte, ging unruhig hin und her. Seine unsichtbaren Begleiter mahnte er: "Zurück Leute! Haltet euch verborgen, bis ich zum Angriff blase."

Zwischen den Bäumen erschien Joe Harper, ebenso luftig gekleidet und genauso bewaffnet wie Tom. Dann kämpften die beiden als ‚Guy von Guisborne' und ‚Robin Hood' um das Recht, ungehindert durch diesen Wald zu ziehen. Sie zogen ihre Holzschwerter, ließen ihre anderen Habseligkeiten zu Boden fallen, nahmen Fechtaufstellung ein und begannen den Kampf. Sie hielten sich genau an die vorgeschriebenen Regeln: zweimal oben gekreuzt, zweimal unten gekreuzt.

Wie im Buch beschrieben, schnauften und schwitzten sie vor Anstrengung, stritten sich immer wieder um die Vorgehensweise. Tom erteilte Joe Anweisungen. Mit einem einzigen nach rückwärts geführten Streich streckte er den armen Guy von Guisborne zu Boden. "Du musst dich umdrehen und ich erschlage dich."

Gegen das Buch war Joe machtlos, drehte sich um und erhielt den tödlichen Hieb. Als er sich wieder aufrappelte, meinte er: "Jetzt darf ich dich aber auch mal töten, das ist bloß gerecht."

Doch Tom berief sich auf das Buch. "Das kann ich nicht machen. So steht es nicht im Buch!"

Joe schimpfte und rief: "Das ist gemein." Sie verhandelten, bis Tom damit einverstanden war, dass die Rollen getauscht wurden. So war Joe eine Zeit lang Robin Hood und Tom der Sheriff von Nottingham, der in dieser Geschichte getötet wird. Dann wechselten sie wieder und Tom war wieder Robin Hood. Sie kämpften so lange, bis Joe unglücklicherweise in Brennnesseln fiel und anstatt zu sterben, wie ein Blitz hochschoss.

Müde zogen die beiden Jungen sich an, versteckten ihre Ausrüstungen und gingen davon. Sie waren traurig, dass es keine Räuber mehr gab. Die modernen Zeiten lieferten keinen Ausgleich für diesen Verlust. Sie wollten viel lieber ein Jahr lang Räuber sein, als lebenslang der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.

 

 

 

9. Tom und Huckleberry auf dem Friedhof

Sid und Tom wurden gegen halb zehn ins Bett geschickt. Wie jeden Abend sprachen sie das Nachtgebet. Kurz darauf schlief Sid tief und fest. Tom blieb wach, voller Ungeduld. Noch eine Stunde lang musste er reglos im Bett liegen. Er durfte keinesfalls Sid wecken. Tom hörte die Balken knacken, das Ticken der Uhr, das Knarren der Stiege. Ganz offensichtlich waren wieder Geister unterwegs!

Tante Polly schnarchte gleichmäßig. Jetzt hörte er das Zirpen einer Grille und am Kopfende seines Bettes ertönte das Grauen erregende Ticktack einer Totenuhr - ein sicheres Zeichen, dass heute jemand sterben musste. Tom schauderte. Doch schließlich schlief er gegen seinen Willen ein. Durch seine tiefen Träume mischte sich das traurige Gejammer eines Katers; erst das Klirren einer leeren Flasche gegen den Holzschuppen schreckte ihn auf. Eine Minute später stand er vor Huckleberry Finn, der mit seiner toten Katze beim Holzschuppen wartete.

Nach einer halben Stunde schlichen sie über den Hügel des alten Friedhofs. Gras und Unkraut überwucherten Gräber und Wege. Grabsteine gab es hier nicht. Wurmstichige, schwere, oben abgerundete Bretter schwankten im Wind hin und her. Die Aufschrift konnte man nicht mal mehr bei Tageslicht lesen.

Die beiden Jungen sprachen kaum. Der leise Wind ächzte in den Bäumen, so dass der unheimliche Ort sie sehr bedrückte. Bald fanden sie den frischen Grabhügel, und sie versteckten sich nur wenige Schritte davon entfernt, hinter drei großen Ulmen. Toms Angst steigerte sich mehr und mehr. Um sich Mut zu machen, begann er ein Gespräch.

"Du, Hucky, glaubst du, die Toten haben was dagegen, dass wir hier sind?"

"Das wüsste ich selber gern", erwiderte Huck. "Furchtbar feierlich hier, was?"

"Meinst du, Hoss Williams kann uns hören?" fragte Tom und packte seinen Freund am Arm.

"Klar hört er uns, oder wenigstens sein Geist!"

Die Unterhaltung geriet ins Stocken. Plötzlich zischte Tom: "Psst!"

"Mein Gott, Tom, sie kommen! Jetzt kommen sie! Was sollen wir tun?"

"Keine Ahnung… Meinst du, sie sehen uns?"

"Klar! Die können im Dunkeln sehen wie die Katzen. Ach, wäre ich bloß nicht hergekommen!"

"Ach was! Wir machen ja nichts Böses. Wenn wir stillhalten, dann bemerken sie uns vielleicht gar nicht." Zitternd saßen die Jungen beieinander und hielten die Köpfe zusammen. Ihre Kehlen waren wie zugeschnürt und ihre Herzen klopften zum Zerspringen. Aus der Dunkelheit tauchten drei Gestalten auf.

Huckleberry schauderte. "Es sind Teufel!" flüsterte er zähneklappernd. "Drei Stück auf einmal. Mein Gott, Tom, kannst du beten?"

"Ich versuche es. Aber ich glaube nicht, dass sie uns was tun. Lieber Gott, mach mich fromm, dass…", begann Tom zu beten.

"Psst!" flüsterte Huck. "Es sind Menschen. Ich hab die Stimme vom alten Muff Potter erkannt. Er ist besoffen, der alte Penner!"

"Jetzt halten sie an! Sie suchen etwas. Weißt du was, Huck, die zweite Stimme gehört Indianer-Joe."

"Das Halbblut? Da hätte ich es ja noch lieber mit echten Teufeln zu tun! Was die hier wohl suchen?"

Als die drei Männer die Grabstelle von Hoss Williams erreicht hatten, hörten die Jungen auf zu flüstern. Dann erkannten sie in dem dritten Mann das Gesicht von Doktor Robinson.

Potter und Indianer-Joe zogen eine Karre, auf dem ein Strick und ein paar Schaufeln lagen. Sie begannen, das Grab zu öffnen. Der Doktor stellte die Laterne ab und lehnte sich mit dem Rücken an die Ulmen, dass die beiden Jungen ihn hätten berühren können.

"Beeilt euch. Der Mond kann jeden Moment herauskommen!" sagte der Doktor leise.

Schon wenig später hatten die beiden Männer den Sarg nach oben gehoben, stemmten mit ihren Spaten den Deckel auf und holten die Leiche heraus. In diesem Moment trat der Mond hinter den Wolken hervor und beleuchtete die gespenstische Szene. Sein bleiches Licht fiel genau auf den toten Hoss.

Potter und Indianer-Joe banden die Leiche auf den Karren und deckten sie mit einem Tuch zu. Potter schnitt mit seinem Klappmesser den Strick ab. Zum Doktor gewandt, brummte er: "So, das wäre geschafft, Knochensäger. Wenn du nicht willst, dass die Leiche hier liegen bleibt, dann rück noch einen Fünfer raus!"

"Genau", bestätigte Indianer-Joe.

Der Doktor sah die beiden erstaunt an. Sie hatten ihren Lohn doch schon im Voraus erhalten. Er erhob sich beunruhigt, während Indianer-Joe sich dem Arzt drohend näherte.

"Es ist schon fünf Jahre her, als ich eines Nachts bei euch um Essen gefragt habe. Du hast mich fortgejagt wie einen räudigen Hund. Als ich schwor, dass ich mit dir abrechnen würde, da hat mich dein Vater ins Gefängnis werfen lassen. Glaubst du im Ernst, ich hätte das vergessen?" Indianer-Joe hielt dem Doktor die Faust vors Gesicht, doch dieser schlug zu und streckte den Angreifer blitzschnell zu Boden.

Überrascht eilte Potter zu Hilfe, stürzte sich auf den Doktor und die beiden kämpften verbissen miteinander. Inzwischen hatte sich Indianer-Joe von dem Schlag erholt, packte Potters Messer und mischte sich wieder ein. Rachlüstig umkreiste er die Kämpfenden, auf der Lauer nach einer günstigen Gelegenheit. Plötzlich riss sich der Doktor los, packte das schwere hölzerne Namensbrett von Williams Grab und ließ es auf Potters Kopf niedersausen. Potter ging zu Boden.

Auf diese Gelegenheit hatte Indianer-Joe gewartet. Er stieß dem jungen Arzt das Messer in die Brust. Der Doktor taumelte und fiel auf den am Boden liegenden Potter. Aus seiner Wunde quoll Blut.

Im selben Moment schob sich eine Wolke vor den Mond und verbarg das grausame Schauspiel. Die beiden Jungen nutzten die Gelegenheit und jagten davon.

Als wenig später der Mond wieder aus den Wolken trat, beugte sich Indianer-Joe über die beiden leblosen Körper. Der Doktor stöhnte, seufzte mehrmals tief auf und war dann still. "Das war die Rache!", zischte Indianer-Joe und raubte die Leiche aus. Dann legte er das Mordwerkzeug in Potters geöffnete Hand, setzte sich auf den Sarg und wartete.

Nach einigen Minuten kam Potter laut stöhnend zu sich. Mühsam schob er die Leiche des Doktors von sich, setzte sich auf und sah sich verwirrt um. "Was ist denn passiert, Joe?"

"Eine dumme Geschichte", erwiderte dieser ausdruckslos. "Warum hast du das bloß gemacht?"

Potter zitterte und wurde kreidebleich. "Sag, Joe. Habe ich das wirklich getan?"

Dann erzählte Indianer-Joe von dem Kampf. "… dann bist du wieder hoch und hast ihm das Messer in die Brust gestoßen, gerade als er dir einen weiteren Schlag mit dem Holz verpasste. Und dann hast du hier gelegen. Wie tot!"

"Ich habe noch nie mit einer Waffe gekämpft. Da ist der Whiskey schuld und die Aufregung… Joe, du darfst mich nicht verraten! Versprich mir das, alter Kumpel!" flehte Potter verzweifelt.

"Ich verpfeife dich nicht, Muff Potter. Du hast dich immer ehrlich und anständig benommen. Aber mehr kannst du von mir nicht verlangen."

"Joe, du bist ein Engel! Das werde ich dir nie vergessen!" Potter begann zu schluchzen.

"Zum Flennen ist jetzt keine Zeit", murrte Indianer-Joe. "Mach dass du fortkommst. Nimm den Weg da drüben, ich gehe hier rum. Hinterlass keine Spuren!"

Potter rannte los, so schneller konnte. Indianer-Joe sah ihm nach und murmelte: "Der ist so benebelt, dass er sein Messer total vergessen hat. Und nachher traut er sich nicht mehr alleine zurück, der Feigling!"

Wenige Minuten später beleuchtete der Mond den unheimlichen Schauplatz. Es herrschte wieder Totenstille auf dem Friedhof.

 

 

 

10. Tom wird bestraft

Entsetzt rannten die beiden Jungen auf das Dorf zu. Immer wieder sahen sie sich angstvoll nach möglichen Verfolgern um, während sie an einigen abgelegenen Häusern vorbei jagten.

"Ich schaffe es nicht mehr lange!", keuchte Tom. Huckleberrys Keuchen war die einzige Antwort. Bei der alten Gerberei stürzten sie Seite an Seite durch die offene Tür und ließen sich total erschöpft zu Boden fallen. Nach und nach beruhigte sich ihr Pulsschlag wieder.

"Was machen wir jetzt?", fragte Tom. Er musste erst mal ein Weilchen nachdenken. "Wer wird den Mörder verraten? Wir?"

"Du spinnst wohl!", wehrte Huck ab. "Wenn sie Indianer-Joe nicht hängen, dann bringt er am Ende uns um. Da kannst du sicher sein!"

"Ja, das hab ich mir schon gedacht, Huck."

"Wenn einer was sagen könnte, dann Muff Potter!"

Tom überlegte. "Aber Potter kann doch gar nichts erzählen. Er war doch bewusstlos, als Indianer-Joe zugestoßen hat. Wie soll er denn da was gesehen haben?"

"Mist! Du hast Recht, Tom."

"Hoffentlich ist er überhaupt wieder zu sich gekommen…", überlegte Tom.

"Bestimmt. Er war ja voll bis oben hin. Ich kenne das. Wenn mein Alter besoffen ist, dann kannst du ihm einen Kirchturm über den Kopf schlagen, und es macht ihm nichts. Nur wenn einer stocknüchtern ist, dann ist er nach so einem Schlag hinüber."

Nach einer kurzen Pause fragte Tom: "Hucky, kannst du schweigen?"

"Klar, Tom! Wir müssen dichthalten, sonst macht Indianer-Joe kurzen Prozess mit uns, wenn er nicht gehenkt wird. Wir müssen uns gegenseitig schwören, dass wir nichts verraten!"

"Okay, Huck!", erwiderte Tom und wollte ihm die Hand zum Schwur reichen

"Nein, bloß nicht! Das ist Mädchenkram, reicht für unwichtige Sachen. Wir brauchen etwas Schriftliches. Und Blut!"

Tom fand die Idee großartig. Er hob ein Stück Tannenrinde auf, kramte einen Bleistiftstummel aus seiner Hosentasche und kritzelte im Mondlicht folgende Zeilen:

Huck FiNn und Tom SawyeR schwören, sie werdeN dichthalten und sie wollen auf der Stelle tot umfallen und verfaulen, wenn sie etwas verraten!!! T.S. H.F.

Huck bewunderte Toms Schreibkünste und dessen vornehmen Stil sehr. Sie stachen sich mit einer von Toms Nähnadeln in den Daumen; dann quetschten sie heftig, bis genug Blut herauskam. Tom schrieb die Anfangsbuchstaben seines Namens mit seinem kleinen Finger. Anschließend zeigte er Huck, wie man ein H und ein F macht und der Schwur war besiegelt. Begleitet von düsteren Beschwörungsformeln begruben die beiden Jungen das Rindenstück in der Nähe der Wand.

Jetzt war ihr Mund verschlossen und der Schlüssel unwiederbringlich verloren. Bedrückt trennten sich die beiden. Der Morgen dämmerte bereits.

Tom stieg vorsichtig durch sein Schlafzimmerfenster ein, zog sich leise aus und schlüpfte unter die Decke. Zum Glück hat keiner etwas bemerkt, dachte er, bevor er einschlief. Doch die ruhigen Atemzüge seines Halbbruders waren nur vorgetäuscht. Sid lag wach, und das schon seit einer Stunde!

Als Tom aufwachte, war Sid schon verschwunden, und der Helligkeit nach zu urteilen, war es schon spät. Weshalb hatten sie ihn nicht gerufen, so wie sie es immer machten? Voll böser Vorahnung zog er sich an und ging fünf Minuten später die Treppe hinunter.

Alle saßen noch am Tisch, aber sie waren bereits mit dem Frühstück fertig. Niemand sah Tom an. Die ernsten Gesichter und das feierliche Schweigen ließen dem Sünder das Herz in die Hose rutschen.

Nach dem Frühstück nahm ihn Tante Polly beiseite. Tom hoffte bereits, dass er seine Tracht Prügel bekäme, und alles wäre in Ordnung. Doch Tante Polly weinte, sagte, er würde ihr das Herz brechen, er müsse sich nur selbst zugrunde richten und sie vor Kummer und Sorge ins Grab bringen. Dies war für Tom schlimmer als Schläge.

Er flehte um Vergebung und weinte. Doch er spürte, dass Tante Polly seinen Versprechungen nur wenig vertraute. Traurig ging er hinaus. Er dachte nicht einmal daran, sich an Sid zu rächen.

Mit schwerem Herzen schlich er sich zur Schule. Die Schläge für das Schwänzen vom Vortag nahm er gelassen hin, so elend fühlte er sich. Wie einer, der mit viel schlimmerem Leid belastet ist.

Dann setzte er sich auf seinen Platz und stützte das Kinn in die Hände. Sein Ellbogen berührte etwas Hartes. Mit einem Seufzer griff er nach dem Gegenstand. Das Ding war in Papier eingewickelt. Jetzt war sein Herz endgültig gebrochen: Vor ihm lag der Messingknopf vom Kamingitter.

 

 

 

11. Tom und der Mord

Am Mittag schlug die grausige Nachricht wie eine Bombe im Dorf ein. Ein blutverschmiertes Messer war dicht bei dem Ermordeten gefunden worden. Jemand hatte es als Muff Potters Eigentum erkannt. Man wollte ihn gesehen haben, wie er sich gegen zwei Uhr nachts am Bach gewaschen habe und dann weggeschlichen sei. Das war sehr verdächtig. Besonders das Waschen, denn das gehörte gewiss nicht zu Potters Gewohnheiten. Jeden Winkel im Dorf suchten die Leute nach Potters ab. Die Menschen hatten ihr Urteil bereits gefällt. Für sie war klar, dass nur dieser Säufer der Mörder sein konnte.

Alle strömten zum Friedhof. Auch Tom schloss sich einem der Pilgerzüge an. An dem grauenvollen Ort drängte er sich durch die neugierigen Menschen nach vorn. Die schrecklichen Vorkommnisse der vergangenen Nacht schienen schon eine Ewigkeit her. Auch Huckleberry Finn war hier, doch sie ignorierten sich. Die Angst saß ihnen noch in den Knochen. Zum Glück beachtete niemand die beiden. Alle redeten durcheinander.

"Armer Kerl", war zu hören. Andere sagten: "Dafür wird Muff Potter hängen!" Dann ertönte die Stimme des Pastors: "Dies ist ein Gottesurteil. Seine Hand ist überall!"

In dem Moment erblickte Tom das undurchdringliche Gesicht von Indianer-Joe. Doch Toms Angst hielt nicht lange, denn die nächsten Stimmen wurden laut: "Da ist er! Er kommt von ganz allein!"

"Lasst ihn nicht entkommen!", riefen ganz eifrige.

Die Schaulustigen, die direkt über Toms Kopf in den Bäumen saßen, berichteten, dass Potter gar nicht zu fliehen versuchte. Die Menge teilte sich und der Sheriff führte wichtigtuerisch den verwirrten Potter am Arm. Die angstvollen Gesichtszüge des armen Potter waren eingefallen. Als er den Ermordeten erblickte, schlug er die zittrigen Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. "Ich habe es nicht getan, Freunde!" schluchzte er. "Mein Ehrenwort, ich war es nicht!"

Jemand wies ihn darauf hin, dass ihn doch noch gar niemand beschuldigt hätte. Potter hob den Kopf und sah sich in tiefster Hoffnungslosigkeit um. Als er Indianer-Joe entdeckte, schrie er auf. "Oh Joe, du hast mir doch versprochen, niemandem zu…"

"Gehört das Messer dir?", unterbrach ihn der Sheriff und hielt ihm die Mordwaffe unter die Nase. In dem Moment war Potter klar, weshalb es ihn zurückgezogen hat… Er schauderte. Kraftlos hob er seine Hand und stammelte: "Joe, sag es ihnen. Es hat ja doch keinen Sinn mehr!"

Starr vor Überraschung hörten Tom und Huckleberry, wie Indianer-Joe gelassen seine verlogene Aussage machte. Jeden Moment musste ein Blitz vom blauen Himmel fahren und den Lügner strafen! Doch das Zeichen Gottes ließ auf sich warten. Und als Indianer-Joe am Ende seiner Ausführungen noch heil vor ihnen stand, da war für sie klar, dass er mit dem Teufel im Bunde sein musste. Unter diesen Umständen konnten sie den armen Potter nicht retten, denn sich mit den Mächten des Bösen einzulassen, war viel zu gefährlich!

Potter begann erneut haltlos zu weinen. Wenig später musste Indianer-Joe seine Aussage nochmals unter Eid wiederholen, was er eiskalt tat. Und als auch diesmal kein Blitz vom Himmel fuhr, waren sich Tom und Huckleberry sicher, dass der leibhaftige Satan vor ihnen stand.

Indianer-Joe half, den Leichnam auf eine Karre zu legen. Schaudernd flüsterte sich die Menge zu: "Seht mal, die Wunde hat zu bluten begonnen…" Die beiden Jungen hofften, dass jetzt der Verdacht auf die richtige Person gelenkt würde, doch sie wurden wieder enttäuscht. Einer der Dorfbewohner sagte: "Ist ja klar! Muff Potter steht auch nur drei Schritte von seinem Opfer entfernt!"

Das schreckliche Geheimnis und das schlechte Gewissen raubten Tom mindestens eine Woche lang den Schlaf. Sid erzählte beim Frühstück von der nächtlichen Unruhe Toms. "Er spricht so laut im Schlaf, dass ich die halbe Nacht wach liege!"

Tom wurde blass, als Tante Polly ernst meinte, dass dies ein schlechtes Zeichen wäre. "Was bedrückt dich, Tom?"

"Nichts", erwiderte er rasch.

"Letzte Nacht hast du immer wieder von Blut gestöhnt und davon, dass dich jemand quält", mischte sich Sid ein.

Vor Toms Augen verschwamm alles. Jetzt würde die ganze Geschichte aufkommen. Doch ohne es zu wissen, kam Tante Polly ihm zu Hilfe. "Natürlich! Das ist dieser grässliche Mord! Er verfolgt mich auch bis in meine Träume, fast jede Nacht. Einmal habe ich sogar schon geträumt, ich hätte ihn selbst begangen."

"Mir geht es genauso!" bestätigte Mary. Damit gab Sid sich zufrieden. Tom atmete auf und verließ das Esszimmer so rasch er konnte.

Natürlich versuchte Sid in den folgenden Nächten, etwas Genaueres aus Toms nächtlichem Gemurmel herauszuhören. Er beobachtete ihn genau. Zum Beispiel alarmierte es ihn, dass sein Halbbruder das neue Spiel der Schüler - Leichenschau - nicht mitspielte. Ja, Tom schien sogar eine richtige Abneigung gegen diesen Zeitvertreib zu haben.

Während dieser sorgenvollen Zeit schmuggelte Tom fast täglich dem vermeintlichen Mörder lauter kleine Aufmerksamkeiten ins Gefängnis. Das Gefängnis war ein unscheinbarer kleiner Ziegelbau mit vergitterten Fenstern. Da es selten benutzt wurde, brauchte das Gebäude auch keinen Wächter. Deshalb blieben Toms Gaben unbemerkt.

Die Leute im Dorf hatten zwar den starken Wunsch, Indianer-Joe wegen der Grabschändung dranzukriegen, doch sein übler Ruf flößte allen Furcht ein. Außerdem hatte Indianer-Joe bei seinen Aussagen genau darauf geachtet, nur von dem Kampf zu berichten und den Grabraub mit keinem Wort zu erwähnen. So schien es allen am klügsten, den Fall einstweilen nicht vor Gericht zu bringen.

 

 

 

12. Tom hat Liebeskummer

Becky kam seit einigen Tagen nicht mehr zur Schule. Das war einer der Gründe, weshalb Tom von seinen geheimen Sorgen abgelenkt wurde. Mehrere Tage lang kämpfte er mit seinem Stolz. Elend und unglücklich schlich er um ihr Elternhaus. Sie war krank! Weder Schlachten noch Piraterie interessierten ihn mehr, seine Lebensfreude war dahin.

Tante Polly machte sich Sorgen. Sie probierte eine ganze Reihe Hausmittelchen an Tom aus. Sie hält für jedes Leiden ein Patentrezept bereit. Sie gehört zu jenen Menschen, die aus allen Gesundheitszeitschriften die neuesten Heilmethoden herauspflückten und blindlings jeden Unsinn ausprobierten. Da sie selbst nie krank wurde, war Tom ein willkommenes Opfer.

Im Augenblick waren Kaltwasserkuren das Allerneueste. Toms schlechter Allgemeinzustand war wie geschaffen dafür. Sie holte den Jungen bei Tagesanbruch aus dem Bett, ging mit ihm zum Schuppen und ertränkte ihn dort fast in den Fluten kalten Wassers. Dann rubbelte sie ihn mit einem steinharten Handtuch trocken und steckte ihn schließlich in feuchte Tücher gehüllt, noch einmal ins Bett. Tom schwitzte sich die Seele aus dem Leib.

Trotz der ausdauernden Pflege wurde Tom von Tag zu Tag trübsinniger und blasser. Tante Polly versuchte es mit heißen Bädern in allen Varianten, sogar mit Sturzbädern; aber der Junge blieb trübselig wie ein Leichenwagen. Dann unterstützte sie ihre Wasserkur mit einer mageren Haferschleimkost und verschiedenen Zugpflastern. Umsonst. Nicht einmal die quacksalberischen Wundertränke brachten eine Besserung.

Tom war mittlerweile völlig abgestumpft, was Tante Polly aufs Äußerste bestürzte. Sie musste die Gleichgültigkeit des Jungen um jeden Preis durchbrechen. Da fiel ihr eine Arznei ein, die Schmerztöter genannt wurde. Davon bestellte sie eine größere Menge. Sie probierte selbst ein Tröpfchen und war sofort voller Hoffnung. Das Zeug brannte wie Feuer!

Als sie Tom einen Teelöffel davon einflößte, war ihre Sorge im Nu verflogen. Tom reagierte so wild und heftig, als hätte sie direkt unter ihm ein Feuer angezündet.

Jetzt war Tom aufgewacht und verfolgte nur noch ein Ziel. Wie konnte er dem grauenhaften Schmerztöter entkommen? Da hatte er eine glänzende Idee. Er tat so, als möge er die grässliche Arznei und verlangte so häufig danach, dass es Tante Polly lästig wurde. Sie forderte ihn ärgerlich auf, sich selbst zu bedienen und ihr nicht mehr auf die Nerven zu gehen. Da es sich um Tom handelte und nicht um Sid kontrollierte sie heimlich, ob die Flüssigkeit in der Flasche auch abnahm. Auf die Idee, dass der Junge mit dem Mittel die Ritze im Fußboden gesund pflegte, kam sie freilich nicht.

Eines Tages war Tom gerade dabei, seine Tropfen in die Fußbodenritze zu tröpfeln, als der gelbe Kater seiner Tante um die Ecke bog. Offensichtlich bettelte er darum, einmal lecken zu dürfen. Tom blickte ihn an und warnte ihn. Aber Peter schnurrte weiter um seine Beine. "Na schön, du hast es so gewollt. Ich gebe dir eine Dosis. Aber wenn es dir nicht bekommt, dann hast du dir das selber zuzuschreiben."

Damit war Peter einverstanden und Tom goss ein paar Tropfen von dem Schmerztöter in sein Maul. Zuerst sprang Peter einen Meter in die Luft, dann jagte er mit wildem Kriegsgeschrei durch den Raum, immer im Kreis herum. Dabei prallte er gegen Möbel, warf Blumentöpfe um und riss alles mit, was sich ihm in den Weg stellte. Jetzt raste er durchs ganze Haus und Tante Polly erschien gerade rechtzeitig, um Peter bei ein paar Purzelbäumen zuzusehen, bevor er mit einem lauten Hurrageschrei aus dem geöffneten Fenster segelte. Dabei nahm er die restlichen Blumentöpfe mit.

Wie angewurzelt stand die alte Dame da und starrte über ihren Brillenrand, während Tom sich vor lauter Lachen auf dem Boden wälzte.

"Was in aller Welt ist in den Kater gefahren?", fragte Tante Polly schließlich.

"Hab keine Ahnung, Tante", keuchte Tom.

Doch Tante Polly hatte bereits den Teelöffel erkannt, der verräterisch unter seiner Bettdecke hervorlugte. Sie hob ihn auf und hielt ihn hoch. Tom erstarrte. Mit dem gewohnten Blick packte ihn Tante Polly am Ohr, hob seinen Kopf und schlug mit ihrem Fingerhut kräftig darauf. "Weshalb hast du das arme Tier so misshandelt?"

"Aus Mitleid hab ich es getan, er hat doch keine Tante", rief Tom.

"Keine Tante? Du Dummkopf! Was hat das denn damit zu tun?"

"Eine Menge! Wenn er eine hätte, dann hätte sie ihm bestimmt die Medizin gegeben. Sie hätte ihm die Eingeweide geröstet und es wäre ihr ganz egal gewesen, ob sie es mit einem Kater oder einem Menschen zu tun gehabt hätte."

Tante Polly verspürte Gewissensbisse. Toms Antwort ließ die Angelegenheit in einem völlig neuen Licht erscheinen. Was grausam gegenüber einer Katze war, konnte vielleicht auch einem Jungen gegenüber grausam sein… Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wurde weich. Liebevoll legte sie Tom die Hand auf den Kopf: "Ich habe es doch nur gut gemeint. Und es hat dir ja auch gut getan!"

Tom sah sie schelmisch an und sagte: "Ja, dem Kater hat es auch gut getan. Ich hab ihn noch nie so lustig herumtanzen sehen."

"Ach, scher dich fort. Versuch wenigstens mal, ein braver Junge zu sein. Und die Medizin brauchst du auch nicht mehr zu nehmen."

An diesem Tag kam Tom viel zu früh in die Schule. Er hing am Schultor herum, anstatt mit seinen Kameraden zu spielen. Tom behauptete, er sei krank, und so sah er auch aus.

Als Jeff Thatcher um die Ecke bog, hellte sich Toms Gesicht kurz auf, um sich gleich darauf wieder zu verdüstern. Er versuchte alle möglichen Tricks, um das Gespräch auf Becky zu lenken. Doch Jeff war begriffsstutzig.

Bei jedem schwingenden Mädchenrock stieg neue Hoffnung in Tom auf. Als schließlich kein Rock mehr erschien, versank Tom in tiefe Traurigkeit. Niedergeschlagen betrat er das Schulhaus, als ein letzter Rock durch das Tor schlüpfte. Toms Herz machte einen Satz!

Schnell flitzte er hinaus auf den Hof und führte sich dort auf wie ein Indianer. Er ließ seinen Kriegsruf hören, jagte den anderen Jungen nach und vollführte alle möglichen heldenhafte Kunststücke die ihm einfielen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er natürlich, ob Becky Thatcher ihm zusah. Doch sie schien keine Notiz von ihm zu nehmen. Sie sah nicht mal zu ihm her.

Tom verlegte seine Vorführungen in ihre unmittelbare Nähe. Johlend umkreiste er sie, riss einem Jungen die Mütze vom Kopf, warf diese aufs Dach des Schulhauses. Dann raste er in eine Gruppe von Mitschülern, sodass diese in alle Richtungen davon stoben und landete dann selbst direkt vor Beckys Nase auf dem Bauch. Er warf sie beinahe um.

Hocherhobenen Hauptes wandte sie sich ab und sagte: "Pah, es gibt Leute, die halten sich für was ganz Besonderes! Angeber!"

Tom errötete, sein Gesicht brannte wie Feuer. Er schlich davon wie ein geprügelter Hund.

 

 

 

13. Tom wird Pirat

Tom fühlte sich einsam und verlassen. Keiner liebte ihn! Sein Entschluss stand fest: Er musste sein Schicksal in die Hand nehmen und das Leben eines Ausgestoßenen, eines Verbrechers führen! Ihm blieb keine andere Wahl.

Das Läuten der Schulglocke erreichte sein Ohr nur aus weiter Ferne. Er schluchzte. Nie mehr würde er diesen vertrauten Ruf hören - das war schlimm! Jetzt weinte Tom bitterlich.

In diesem Augenblick begegnete er seinem Busenfreund, Joe Harper, der mit finsterem Blick des Weges kam. Ganz offensichtlich begegneten sich hier zwei Seelen und ein Gedanke. Denn auch Joe fühlte sich schlecht behandelt und wollte hinaus in die Welt, um nie mehr zurückzukehren.

Nachdenklich gingen die beiden Freunde weiter. Sie versprachen, wie Brüder zusammenzubleiben, bis zu ihrem bitteren Ende. Dann begannen sie, Pläne zu schmieden. Joe wollte erst Einsiedler in einer Höhle sein und von milden Gaben leben; als er jedoch Toms Plan hörte, sah er ein, dass das Leben eines Gesetzlosen doch einige Vorteile bot. So willigte er ein, Pirat zu werden.

Fünf Kilometer unterhalb ihres momentanen Standortes lag Jacksons Insel. Da die Insel unbewohnt war und nicht weit vom Flussufer entfernt lag, bot sie ein ideales Versteck. Dort wollten sie sich niederlassen. Wer allerdings das Opfer ihrer Piraterien werden sollte, überlegten sie nicht.

Zunächst einmal trieben sie Huckleberry Finn auf, der sich ihnen sofort anschloss. Dann trennten sie sich, nachdem sie sich für Mitternacht verabredet hatten. Noch bevor der Tag sich neigte, hatten sie alles erledigt. Nicht ohne vorher im Ort das Gerücht verbreitet zu haben, man werde bald etwas zu hören kriegen.

Um Mitternacht erschien Tom mit einem gekochten Schinken und einigen anderen Vorräten und machte auf einer schmalen Klippe Halt, von der aus er den Treffpunkt einsehen konnte. Die Nacht war sternenklar und windstill. Tom lauschte. Kein Geräusch störte die nächtliche Stille. Da ließ er einen kurzen, scharfen Pfiff ertönen. Von unterhalb der Klippe kam eine Antwort. Es folgte ein Wechsel von Geheimpfiffen und Namen. "Okay! Gebt die Losung!", verlangte Tom zum Schluss.

Zwei heisere Stimmen flüsterten gleichzeitig dasselbe Schreckenswort in die geheimnisvolle Nacht: "Blut!"

Tom warf seinen Schinken hinunter und kletterte hinterher, wobei Haut und Kleidung erheblich beschädigt wurden; ganz nach Piratenmanier.

Joe, der Schrecken des Ozeans, hatte eine Speckseite mitgebracht, die er kaum schleppen konnte, und Finn, der Rothändige, hatte eine Pfanne, einen Packen halb getrocknete Tabaksblätter und einige Maiskolben gestohlen, um daraus Pfeifen zu schnitzen. Allerdings waren die anderen beiden Piraten bisher Nichtraucher.

Tom, der Schwarze Rächer der Spanischen Meere meinte, dass sie keinesfalls ohne Feuer losfahren durften. Ein kluger Gedanke! Damals kannte man Streichhölzer noch kaum. Ein Stück flussaufwärts sahen sie auf einem Floß ein Feuer glühen. Sie schlichen dorthin und raubten ein glühendes Holzscheit. Sie wussten, dass die Flößer alle in der Stadt waren. Dann stießen sie ab.

Tom führte das Kommando, Huck bediente das hintere Ruder und Joe das vordere. Tom stand mit verschränkten Armen in der Mitte des Floßes und gab im Flüsterton seine Befehle. Als sie die Mitte des Flusses überquert hatten, richteten die Jungen das Floß aus und ließen sich treiben. Nach einer dreiviertel Stunde sahen sie in der Ferne das Städtchen liegen. Nach einiger Zeit trieben sie daran vorbei und nahmen mit ihren Blicken versunken Abschied. Fast wären sie an Jacksons Insel vorbeigetrieben. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihnen, das Floß ans Ufer zu lenken. Gegen zwei Uhr morgens lief das Floß auf der Sandbank auf.

Eifrig richteten sie sich darauf ein, unter freiem Himmel zu schlafen, so wie es sich für Gesetzlose gehörte. Sie zündeten ein Feuer an und brieten Speck in der Pfanne und aßen dazu die Hälfte ihrer mitgebrachten Maisbrote. Es machte allen Dreien riesig Spaß und sie versprachen sich, nie wieder zurückzugehen. Erst als die letzte Scheibe Speck vertilgt war, streckten sich die Freunde satt und zufrieden im Gras aus.

Leise unterhielten sie sich noch über ihre Schulkameraden, die bei ihrem Anblick sicher vor Neid erblassen würden. Und über die Vorteile des Piratenlebens; so ganz ohne Schule, ohne sich zu waschen und all dem übrigen Kram.

Huck, der Rothändige, hatte in der Zwischenzeit einen Maiskolben ausgehöhlt, befestigte einen Stängel daran, stopfte Tabak hinein und presste ein Stück Holzkohle darauf. Die beiden anderen Seeräuber beneideten ihn sehr um dieses Laster, und sie beschlossen insgeheim, recht bald rauchen zu lernen.

"Was machen Piraten eigentlich so?", fragte Huck unvermittelt.

"Oh, die führen ein prima Leben!", erwiderte Tom. "Sie rauben Schiffe aus und verbrennen sie, dann schnappen sie sich das Geld und vergraben es auf einer ihrer Inseln. Die Leute auf den Schiffen bringen sie um, die lassen sie über die Klinge springen…"

Und sie tragen wundervolle Kleider, mit Gold, Silber und Diamanten übersät", begeisterte sich Joe.

Huckleberry sah gedankenvoll an sich herunter. "Ich glaube, ich bin für einen Piraten nicht fein genug", sagte er schließlich mit Bedauern in der Stimme. Doch die anderen beruhigten ihn. Sie erklärten, dass die prächtige Kleidung sehr rasch wie von selbst kommen würde, wenn sie erst auf Abenteuer auszögen.

Langsam wurden sie müde und Huck glitt die Pfeife aus der Hand und er fiel in den Schlaf des Gerechten.

Tom und Joe brauchten etwas länger zum Einschlafen. Heimlich sprachen sie ihre Nachtgebete, weil sie nicht den Zorn des Himmels heraufbeschwören wollten. Gerade als sie fast eingeschlafen wären, schlich sich ein Störenfried ein: ihr Gewissen. Vor allem, wenn sie an die gestohlenen Lebensmittel dachten - diesmal ließ es sich nicht so leicht beruhigen. Der Diebstahl von Schinken und Speck war etwas völlig anderes als der von Äpfeln und Süßigkeiten. Dafür gab es sogar ein Gebot in der Bibel. So beschlossen beide, dass sie ihr Piratenleben nicht mehr mit der Sünde des Stehlens belasten wollten. Dann gab das Gewissen Ruhe und die beiden Piraten sanken in friedlichen Schlummer.

 

 

 

14. Tom, Huck und Joe auf der Pirateninsel

Als Tom am nächsten Morgen aufwachte, wusste er zunächst nicht, wo er war. Kein Blatt regte sich, kein Laut störte die Andacht der Natur. Glitzernde Tautropfen hingen an Blättern und Gräsern. Joe und Huck schliefen noch. Die Natur schüttelte den Schlaf ab und breitete ihren Reichtum vor dem staunenden Tom aus. Ein kleiner grüner Wurm kroch über ein taufeuchtes Blatt, schnüffelte in die Luft und kroch dann weiter.

Jetzt erschien, wie aus dem Nichts, eine Ameisenkolonne auf dem Weg zur Arbeit. Eine Ameise schleppte sich mit einer Spinne ab, die mindestens fünfmal so groß war wie sie selbst. Den braun getupften Marienkäfer nahm Tom auf seine Hand und flüsterte: "Käferchen, Käferchen, flieg schnell zu dir heim, dein Haus steht in Flammen und die Kinder sind allein!" Prompt öffnete der Marienkäfer die Flügel und flog davon - was Tom überhaupt nicht wunderte. Er wusste sehr wohl, dass die kleinen Insekten ausgesprochen leichtgläubig sind, wenn es um Feuer geht. Tom sah dem Schauspiel der Natur noch eine Weile zu. Dann rüttelte er die anderen beiden Piraten wach. Unter lautem Gelächter warfen sie ihre Kleider ab und nahmen im klaren seichten Wasser ihr Morgenbad. Ihr Floß war durch die Strömung fortgespült worden, doch das störte sie nicht. Im Gegenteil, es war so, als hätten sie alle Brücken hinter sich abgebrochen.

Herrlich erfrischt kehrten sie zum Lagerplatz zurück. Während Joe den Speck abschnitt, warfen Huck und Tom ihre Angelschnüre aus und wurden fast augenblicklich belohnt. Zusammen mit dem Speck wurden die Fische angebraten und die Jungen stellten fest, dass es ihnen noch nie so gut geschmeckt hatte.

Nach dem Frühstück legten sie sich gemütlich in den Schatten; danach erkundeten sie die Insel sehr gründlich. Jede Stunde sprangen sie mindestens einmal ins Wasser und erst am späten Nachmittag kehrten sie zu ihrem Lager zurück. Viel zu hungrig, um noch zu angeln, machten sie sich über den kalten Schinken her. Danach ließen sie sich im Schatten nieder, um sich zu unterhalten. Doch das Gespräch stockte rasch. Die Stille, die Feierlichkeit des Waldes erweckte eine unbestimmte Sehnsucht in ihnen: aufkommendes Heimweh. Doch keiner brachte den Mut auf, darüber zu sprechen. Sie schämten sich ihrer Schwäche.

Lange blieb es still, bis in der Ferne ein unheilvolles, dumpfes Dröhnen erklang.

"Was ist das?", fragte Joe.

"Ein Donner?", erwiderte Huck fragend.

"Still!", unterbrach Tom. "Hört mal genau hin!"

Die drei Freunde sprangen auf und rannten in Richtung Ufer. Dort sahen sie das kleine Dampf-Fährschiff aus St. Petersburg etwa einen Kilometer unterhalb des Ortes an der Strömung flussabwärts. Kleine Boote schwammen in der Nähe des Dampfers herum.

"Ich weiß es!", rief Tom. "Da ist einer ertrunken."

"Stimmt.", bestätigte Huck. "So haben sie vergangen Sommer nach dem ersoffenen Bill Turner gesucht." Er blickte zu dem Schiff hinüber. "Ich würde was drum geben, wenn ich wüsste wen es erwischt hat."

Plötzlich traf es Tom wie dein Blitzschlag. Er rief: "Ich weiß, wen sie suchen - uns!" Was für ein Triumph! Sie wurden vermisst, man machte sich Sorgen, Herzen brachen ihretwegen. Vielleicht wurden sogar Tränen vergossen und schlimme Vorwürfe stiegen hoch, wenn man sich an die Unfreundlichkeiten erinnerte, die man diesen armen Jungen angetan hatte. Großartig! Es lohnte sich eben doch, Pirat zu sein.

Abends kehrte die Fähre zu ihrem Liegeplatz zurück und die Boote verschwanden. Die Piraten gingen zurück zum Lager. Sie angelte ein paar Fische, brieten und aßen sie und begannen herumzurätseln, was die Leute im Ort wohl von ihnen dachten und sprachen. Die Bilder allgemeiner Verzweiflung, die sie sich ausmalten, taten ihnen ausgesprochen gut. Doch als die Nacht hereinbrach, verstummten alle drei und schauten versunken ins Feuer.

Tom und Joe mussten an bestimmte Menschen zu Hause denken, die ihr Verschwinden ernst nahmen. Gewissensbisse plagten sie. Sie fühlten sich verwirrt und unglücklich. Joe fand als erster den Mut, vorsichtig zu fragen, was sie denn über eine mögliche Rückkehr dächten - irgendwann

Doch Tom und Huck reagierten mit beißendem Spott und Joe hatte alle Mühe, den Vorwurf eines heimwehkranken Muttersöhnchens einigermaßen reinzuwaschen. Bald schliefen Huck und Joe ein. Tom blieb noch eine Weile auf seine Ellbogen gestützt liegen und beobachtete die beiden aufmerksam. Dann erhob er sich geräuschlos. Im flackernden Feuerschein schrieb er auf weiße Platanenrinde eine Nachricht für Joe und Huckleberry. In Joes Hut legte er einige Schätze von fast unvorstellbarem Wert, darunter ein Stück Kreide, einen Gummiball, drei Angelhaken und eine jener Murmeln, die als garantiert echter Kristall galten. Dann schlich er auf Zehenspitzen davon. Er steuerte direkt auf die Sandbank zu.

 

 

 

15. Tom, der Spion

Wenige Minuten später stand Tom im seichten Wasser. Er watete dem gegenüberliegenden Ufer entgegen. Die Hälfte des Weges hatte er schon zurückgelegt. Das Wasser reichte ihm bis zur Brust und die Strömung wurde so stark, dass er schwimmen musste. Obwohl er versuchte, schräg gegen die Strömung anzuschwimmen, wurde er rasch abgetrieben. Doch schließlich erreichte er das Ufer.

Triefend vor Nässe ging er stromaufwärts bis zur Anlegestelle des Fährbootes. Geräuschlos glitt er die Böschung hinunter ins Wasser. Er schwamm drei oder vier Stöße bis zu dem kleinen Rettungsboot, legte sich unter die Ruderbank und wartete bis die Fähre ablegte. Tom atmete auf. Er freute sich, denn er wusste genau, dass dies die letzte Überfahrt in der Nacht war.

Als die Räder nach zwölf oder fünfzehn Minuten endlich still standen, schwamm Tom ans dunkle Ufer. Durch menschenleere Gassen lief er bis zum Haus seiner Tante. Er kletterte über den Zaun und schaute ins erleuchtete Wohnzimmerfenster. Dort saßen Tante Polly, Sid, Mary und Joe Harpers Mutter und sprachen miteinander.

Behutsam öffnete er den Riegel der Tür und drückte auf die Klinke. Leise schlüpfte er auf den Knien durch.

"Warum flackert die Kerze so?", wunderte sich Tante Polly. Tom beeilte sich. "Nanu, die Tür ist ja offen. Bitte mach sie rasch zu, Sid!"

Gerade noch rechtzeitig verschwand Tom unter dem Bett. Dort blieb er bewegungslos liegen, den Kopf knapp vor Tante Pollys Fuß.

"Wie ich schon sagte", ertönte ihre Stimme, "richtig schlecht war er nie, nur übermütig. Er wollte nie etwas Böses tun und er war der gutherzigste Junge der Welt…" Sie begann zu weinen.

Mrs. Harper fiel in ihre Lobeshymnen ein. "Genau wie mein Joe!" Nachdem sie sich ausschweifend über ihren Sohn ausgelassen hatte, begann auch sie zu schluchzen.

"Ich hoffe, Tom hat es jetzt besser. Wenn er nur ein bisschen braver gewesen wäre!", warf Sid ein. Umgehend wies ihn Tante Polly zurecht. "Sag ja nichts gegen meinen Tom, jetzt, wo er von uns gegangen ist! Gott wird sich seiner annehmen."

Mrs. Harper und Tante Polly tauschten noch einige Erinnerungen an ihre Jungen aus. Immer wieder fiel ihnen ein, dass die beiden sie bis zur Weißglut geärgert hatten. Und trotzdem machten sie sich Vorwürfe und all die Streiche kamen ihnen auf einmal gar nicht mehr so schlimm vor.

All die Erinnerungen waren zu schlimm für die alte Dame. Sie brach völlig zusammen. Tom konnte kaum seine Tränen zurückhalten, so Leid tat er sich selber. Er hörte, wie Mary etwas Liebes über ihn sagte. Langsam begann er, eine bessere Meinung von sich zu haben. Natürlich belastete ihn der Kummer der Tante sehr. Am liebsten wäre er sofort unter dem Bett hervorgekrochen und hätte sich in ihre Arme geworfen. Die theatralische Vorstellung war reizvoll. Trotzdem zwang er sich, still liegen zu bleiben.

Aus den Bruchstücken der Unterhaltung hörte Tom heraus, dass das ganze Dorf dachte, er und seine Freunde wären ertrunken. Sie hatten das abgetriebene Floß gefunden. Sollten die Toten bis Sonntag nicht gefunden sein, dann wäre jede weitere Hoffnung sinnlos und sie würden eine Totenfeier abhalten. Tom schauderte.

Mrs. Harper erhob sich schluchzend und verabschiedete sich. Auch Sid und Mary sagten gute Nacht zu Tante Polly, mit größerer Zärtlichkeit als sonst. Sie weinten sogar ein wenig. Tante Polly kniete sich neben das Bett und betete hingebungsvoll. Tom lag in Tränen aufgelöst unter dem Bett.

Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn es dauerte eine Weile, bis seine Tante eingeschlafen war. Jetzt konnte er endlich hervorkriechen. Er betrachtete die schlafende alte Dame. Sein Herz war schwer und voller Mitleid für sie. Er überlegte, ob er seiner Tante die auf dem Rindenstück geschriebene Nachricht neben das Bett legen sollte. Doch er hatte eine bessere Idee. Dann beugte er sich nieder und küsste sie zärtlich bevor er hinausschlich und die Tür hinter sich verriegelte.

Die Sonne stand bereits am Himmel, als Tom triefnass im Lager erschien. Gerade hörte er, wie Joe sagte: "Nein, Huck. Tom kommt bestimmt zurück. Er ist in Ordnung. Außerdem wäre es unehrenhaft für einen echten Piraten. Irgendwas hat er vor - ich wüsste zu gerne, was."

"Aber die Sachen hier gehören jetzt uns, oder?", fragte Huck.

"Fast. Er hat geschrieben, dass wir sie nur dann behalten dürfen, wenn er bis zum Frühstück nicht zurück ist."

"Was er aber ist!", vollendete Tom theatralisch und betrat das Lager. Die Wirkung seines Erscheinens war ungeheuer. Bei einem üppigen Frühstück erzählte er von seinem nächtlichen Abenteuer. Dann legte er sich in den Schatten und holte den wohlverdienten Schlaf nach, während die anderen Piraten zum Fischen und auf Entdeckungsreise auszogen.

 

 

 

16. Tom und seine Freunde im Gewitter

Nach dem Mittagessen zogen die Jungen los, um nach Schildkröteneiern zu suchen. Dazu stießen sie mit Stöcken in den Sand. Wenn sie auf eine weiche Stelle stießen, knieten sie nieder und räumten mit den Händen den Sand zur Seite. So holten sie fünfzig, sechzig weiße Eier aus einem Loch. Kugelrund und etwas größer als Walnüsse. Daraus bereiteten sie sich am Abend eine leckere Mahlzeit und am Freitag ein köstliches Frühstück.

Danach genossen sie den herrlichen Tag. Sie tobten wild durch den Sand und bespritzten sich gegenseitig mit Wasser. Als die anderen weiter weg waren, ertappte sich Tom dabei, wie er mit seiner großen Zehe Becky in den Sand schrieb. Ärgerlich über die eigene Schwäche, wischte er es sofort wieder weg. Noch einmal geriet er in Versuchung. Als er es auch diesmal weggewischt hatte, ging er zu seinen Freunden.

Inzwischen hatte Joe und Huck das große Heimweh eingeholt. Vor allem Joe litt so heftig, dass Tränen ihm die Kehle zuschnürten. Tom versuchte, die beiden Piratenfreunde aufzuheitern. Vergeblich. Sie wollten weder auf Schatzsuche gehen noch angeln. Joe machte ein finsteres Gesicht.

Er gab sich einen Ruck und sagte: "Lasst uns Schluss machen, ich will nach Hause. Hier ist es so einsam."

"Das Gefühl geht bald vorbei", versuchte Tom zu trösten. "Denk doch mal daran, wie toll man hier fischen und schwimmen kann."

"Ich will aber nicht schwimmen. Es macht mir keinen Spaß, wenn keiner da ist, der es mir verbietet!"

"Ach Mist. Dann geh doch zu deiner Mutter, du Baby!" Sein Blick ging zu Huckleberry. "Aber dir gefällt es hier, Huck, oder?"

"Jaaa.", antwortete er ohne große Überzeugung.

Toms Herz rutschte in die Hose, als Joe sich anzog. Er blickte zu Huck. "Wir halten durch, Huck!", sagte er hoffnungsvoll. Doch Huck schüttelte den Kopf und fing ebenfalls an, seine verstreuten Sachen einzusammeln.

"Wir warten auf dich am Ufer!", rief Huck seinem Freund noch zu.

"Da könnt ihr lange warten!", schrie Tom beleidigt zurück. Kurz blickte er den beiden nach. Dann rief er: "Halt! Wartet! Ich will euch was sagen."

Die beiden Jungen blieben stehen und Tom erklärte ihnen seinen geheimen Plan. Als sie schließlich verstanden, auf was Tom hinauswollte, brachen sie in wahres Kriegsgeheul aus. Sie fanden das Ganze toll und fragten sich, weshalb Tom so lange gewartet hatte.

Vergnügt kehrten sie zum Lager zurück und sprachen über Toms Idee, die ihnen geradezu ideal erschien. Nach dem üppigen Essen sagte Tom, er wolle jetzt rauchen lernen. Joe schloss sich dieser Idee an. So bastelte Huck jedem eine Pfeife und stopfte sie. Tom und Joe legten sich gemütlich ins Gras und zogen. Auch wenn der Rauch sie so im Hals biss, dass Tom gerade noch einen Hustenanfall unterdrücken konnte.

Heldenhaft unterhielten sie sich darüber, dass es Schade war, dass keiner sie so sehen könne. Die anderen Jungen würden vor Neid platzen! Darüber waren sich die drei Piraten einig.

Allmählich versiegte ihr Redefluss. Inzwischen war eine eigenartige Veränderung in ihnen vorgegangen. Ihre Verdauung schien vollkommen außer Kontrolle geraten zu sein. Unter dem Vorwand, dass sie ihre Messer suchen müssten, verschwanden Joe und Tom in unterschiedliche Richtungen im Wald. Als Huck gegen später nach ihnen suchte, fand er sie weit auseinander liegend, sehr bleich und sie schliefen fest. Selbst am Abend wollte ihnen das Essen noch nicht so recht schmecken. Und als Huck danach die Pfeifen hervorholte, lehnten sie dankend ab.

Gegen Mitternacht erwachte Joe und weckte die anderen. Die Luft war schwül und es herrschte tiefschwarze Finsternis. Da fiel plötzlich ein blasser Schein auf Blätter und Bäume. Ein Stöhnen ging durch das Geäst und die Jungen spürten einen leichten Windhauch. Sie schauderten. Dann verwandelte ein gewaltiger Blitz die Nacht für einen Moment in helllichten Tag. Er zeigte drei blasse, erschreckte Jungengesichter. Ein schweres Gewitter war aufgezogen.

Dass Unwetter steigerte sich immer mehr und riss plötzlich das Segel über ihren Köpfen los. Erschreckt fassten die drei sich an den Händen und rannten zum Ufer, bis zu der großen Eiche.

Der Höhepunkt der Schlacht war erreicht. Die leuchtenden Blitze, die den Himmel in Flammen setzten, zeigten die biegenden Bäume, den sturmgepeitschten Fluss und die dahinjagenden düsteren Wolkenfetzen. Hin und wieder gab ein riesiger Baum den ungleichen Kampf auf und stürzte krachend um. Die Donnerschläge klangen wie Explosionen. Eine grauenhafte Nacht.

Endlich aber zog das Unwetter sich mit schwächer werdendem Grollen zurück. Verängstigt kehrten die Jungen in ihr Lager zurück. Die große Platane, unter der sie immer geschlafen hatten, war vom Blitzschlag gespalten und völlig zerstört. Sie hatten Glück gehabt.

Aus der Glut in dem alten Baumstamm entfachten die Jungen ein Feuer. Sie trockneten ihren Schinken und begannen zu essen. Dann unterhielten sie sich bis in die frühen Morgenstunden und aus dem nächtlichen Unwetter wurde ein atemberaubendes Abenteuer.

Als die Sonne aufging, legten sie sich müde in den Sand und holten den fehlenden Schlaf nach.

 

 

 

17. Tom erlebt seine eigene Totenmesse

Am Samstagnachmittag legten die Harpers und Tante Pollys Familie unter Schluchzen Trauerkleidung an. Eine bedrückende Stille lag über St. Petersburg. Nachdenklich gingen die Bewohner ihren Geschäften nach.

Becky Thatcher lief verzweifelt auf dem verlassenen Schulhof herum. Es gab nichts was sie trösten könnte. Leise sprach sie vor sich hin: "Ach, wenn ich nur seinen Messingknopf wiederhätte! So habe ich kein Andenken, was mich an ihn erinnert." Sie schluchzte. In Gedanken durchlebte sie wieder die ablehnende Szene… Aber jetzt war es zu spät. Er war tot und sie würde ihn nie mehr wieder sehen. Dieser Gedanke brach ihr fast das Herz und dicke Tränen kullerten über ihre Wangen.

Dann kam eine Gruppe von Mädchen und Jungen am Schulgelände vorbei, die sich darüber unterhielten, was Tom und Joe alles gemacht hatten. Einer prahlte sogar: "Mich hat Tom Sawyer sogar einmal verprügelt!" Erinnerungen austauschend ging die Gruppe langsam weiter.

Nachdem am nächsten Morgen die Sonntagsschule beendet war, wurden feierlich die Totenglocken geläutet. Im Ort herrschte eine unheimliche Ruhe und der klagende Ton der Glocken unterstrich noch die Stimmung.

Jetzt strömten die Menschen auf die Kirche zu. Schon lange war das kleine Gotteshaus nicht mehr so voll gewesen. Im Vorraum flüsterten die Menschen noch leise, in der Kirche selbst unterbrach nur das Rascheln der Trauerkleider die beklemmende Stille.

Als Tante Polly erschien, gefolgt von Sid und Mary und der Harper-Familie entstand eine angespannte Pause. Die Leidtragenden waren tiefschwarz gekleidet, so wie es der Tradition entsprach. Achtungsvoll erhob sich die ganze Gemeinde und alle warteten, bis die Trauernden in der ersten Reihe Platz genommen hatten.

Mit einem gemeinsamen Gebet begann der Gottesdienst. Dann sangen alle einen ergreifenden Choral und es folgte die Predigt.

Der Geistliche stieg auf die Kanzel und schilderte in den leuchtendsten Farben die viel versprechenden Gaben der Verstorbenen. Von vielen rühmenden Einzelheiten war die Rede, die deren edle, großzügige Natur und das freundliche Wesen so richtig zur Geltung brachten. Jetzt erst begriffen die Leute, wie außergewöhnlich, wie großartig das Verhalten der Jungen gewesen war. Vielen schlug dabei das Gewissen, denn sie hätten die Jungen damals mit Wonne dafür verprügelt. Je länger der rührselige Bericht dauerte, desto ergriffener wurde die Gemeinde. Am Ende schluchzte die ganze Versammlung wie ein großer Chor. Selbst der Pfarrer vergoss auf der Kanzel bittere Tränen.

Auf der Empore war ein leises Knarren zu hören, auf das niemand achtete. Als der Geistliche seinen tränenfeuchten Blick über das Taschentuch erhob, erstarrte er.

Wie auf Kommando erhob sich die gesamte Gemeinde und stierte entgeistert auf die drei toten Jungen, die den Mittelgang heraufkamen. Vorne schritt Tom, dann folgte Joe und als Letzter kam Huck. Die drei Freunde hatten sich auf der Empore versteckt und ihre eigene Totenmesse belauscht.

Tante Polly, Mary und die Harpers stürzten sich auf die wieder Auferstandenen. Sie drückten sie an sich, überhäuften sie mit Küssen und schickten Dankesworte gen Himmel. Der arme Huckleberry stand verlegen daneben. Er wollte sich gerade davonschleichen, da packte ihn Tom und sagte: "Tante Polly, das ist ungerecht! Irgendjemand muss sich auch freuen, dass Huck wieder da ist!"

"Aber gewiss!", rief die Tante überschwänglich und drückte Huck mit herzlicher Zärtlichkeit an sich. Nun fühlte er sich noch weniger wohl als vorher.

Plötzlich ertönte die kräftige Stimme des Pfarrers: "Der Herr hat uns seine Gnade gezeigt - lasst uns ein Loblied singen und legt die ganze Freude eurer Herzen in dieses Danklied."

Und das taten sie. Aus allen Kehlen stieg das alte Lied "Lobet den Herrn" wie ein Triumphgesang zum Himmel. Tom genoss währenddessen die neiderfüllten Blicke seiner alten Kameraden. Er wusste, dass dies der großartigste Augenblick seines Lebens war.

An diesem Tag wurde Tom mehr geküsst und gepufft - ja nach Stimmungslage seiner Tante - als sonst in einem ganzen Jahr. Und er genoss diese Liebe und Dankbarkeit.

 

 

 

18. Tom, der Held

Das also war Toms großes Geheimnis gewesen: zusammen mit den anderen Piraten der eigenen Totenfeier beizuwohnen.

Während des Frühstücks am Montagmorgen bemühten sich Tante Polly und Mary liebevoll um Tom wie nie zuvor. Dabei wurde ungewöhnlich viel gesprochen. Im Verlauf des Gesprächs erwähnte Tante Polly, dass er ihr hätte auch ein kleines Zeichen geben können, dass er nicht tot war… Tom versuchte zu erklären, dass dies alles durcheinander gebracht hätte. Mary versuchte zu vermitteln. Trotzdem machte die alte Damen Tom Vorwürfe, verglich ihn wieder einmal mit Sid. "Eines Tages Tom, wirst du dir wünschen, dass du dich mehr um mich gekümmert hättest. Aber dann ist es zu spät."

"Aber ich hab dich doch gern, Tante Polly."

"Immerhin habe ich von dir geträumt. Das ist doch wenigstens etwas, nicht?"

"Besser als nichts. Was hast du geträumt, Tom?"

Und dann erzählte Tom haarklein seinen Besuch am Abend in ihrem Haus. Als Joes Mutter bei ihr zu Besuch war und sie zusammen über ihre Söhne redeten.

Tante Polly war erstaunt, dass er sogar geträumt hatte, dass die Kerze geflackert hatte. Selbst ihre Lobeshymnen über ihn konnte er wortgetreu nacherzählen. Am Ende staunte sie: "Tom, mein Gott, der Heilige Geist ist über dich gekommen. Das ist Hellseherei! Bei allen Heiligen!"

Zum Schluss trumpfte Tom nochmals auf: "Als du dich hingelegt hast, war mir so traurig zumute, dass ich eine Nachricht auf ein Stück Rinde geschrieben habe: Wir sind nicht tot - wir sind losgezogen, um ein Piratenleben zu führen. Die Rinde habe ich auf deinen Nachttisch neben die Kerze gelegt. Dann habe ich dir zum Abschied noch einen Kuss gegeben."

"Wirklich, das hast du wirklich geträumt? Dafür verzeihe ich dir alles, Tom." Tante Polly umarmte ihn so überschwänglich, dass er sich richtig schäbig dabei vorkam.

Nur Sid schien ihm nicht wirklich zu glauben.

"Hier Tom, ich hab dir extra diesen großen Apfel aufgehoben - und jetzt ab mit euch in die Schule!"

Sid war klug genug, seinen Verdacht nicht laut zu äußern. Aber er fand es schon sehr seltsam, dass dieser lange Traum nicht eine einzige Abweichung zum tatsächlichen Geschehen aufwies.

Tom war natürlich der Held des Tages. Er ging gemessenen Schrittes zur Schule - ein echter Pirat, der beobachtet wird. Die Blicke und Bemerkungen der anderen Kinder waren Balsam für seine Seele. Die kleineren Jungen waren stolz, mit Tom gesehen zu werden! Die Jungen seiner Altersgruppe taten so, als hätten sie gar nicht bemerkt, dass Tom weg gewesen sei. Dabei verzehrten sie sich vor Neid und hätten viel darum gegeben, ebenso berühmt und braun gebrannt zu sein.

Es dauerte nicht lange, bis Tom und Joe unerträglich eingebildet waren. Als sie schließlich ihre Maiskolben-Pfeifen herauszogen und lässig den Rauch in die Luft pafften, da stieg die Bewunderung ins Unermessliche.

Tom beschloss, dass er jetzt auch ohne Becky Thatcher leben konnte. Er würde nur noch nach Ruhm streben. Sie würde ihm jetzt zwar sicher nachlaufen, doch sie würde erleben, dass er ebenso gleichgültig sein konnte wie gewisse andere Personen

Es dauerte nicht lange, da kam sie schon. Tom tat, als würde er sie nicht sehen. Bald sah er sie mit geröteten Wangen und blitzenden Augen herumspringen. Immer in seiner Nähe. Das schmeichelte seiner Eitelkeit, machte ihn aber immer abweisender.

Bald gab Becky die Versuche auf und ging verunsichert herum. Sie seufzte ein paar Mal laut auf und warf ihm einen flüchtigen, sehnsuchtsvollen Blick zu. Dabei sah sie, dass Tom sich jetzt Amy Lawrence zugewandt hatte. Ein bohrender Schmerz durchzuckte Becky. Doch statt wegzugehen, trugen ihre Beine sie wie von alleine zu der Gruppe hin.

Sie begann ein Gespräch mit Mary Austin, in dessen Verlauf sie ihr geplantes Picknick erwähnte.

"Au, prima", rief Mary begeistert, "hoffentlich bin ich auch eingeladen."

Mary erklärte, dass es ihr Picknick wäre und sie die Einladungen selbst aussprechen dürfe. So kam es, dass sie im Laufe des Gesprächs nahezu alle Freunde oder die es sein wollten zu ihrem Picknick einlud. Nur Tom und Amy fehlten noch.

Tom wandte sich kühl ab und zog Amy mit sich. Beckys Lippen zitterten und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie versuchte es hinter einer Maske verstärkter Fröhlichkeit zu verbergen. Trotzdem hatte ihr Picknick jeden Reiz verloren und alles andere ebenfalls.

Als die Pausenglocke ertönte, lag Rachsucht in ihrem Blick. Sie wusste jetzt, was sie zu tun hatte.

Auf dem Schulhof setzte Tom seinen Flirt mit Amy fort. Gleichzeitig suchte er Beckys unglückliches Gesicht, um sich an ihrem Anblick zu weiden. Doch seine Stimmung sackte ab. Sie saß gemütlich mit Alfred Temple auf einer kleinen Bank hinter dem Schulhof und betrachtete mit ihm zusammen ein Bilderbuch. Eine Welle rasender Eifersucht überkam Tom. Er ärgerte sich über sich selbst, dass er die Chance verpasst hatte, sich mit Becky zu versöhnen. Was für ein Narr er doch gewesen war!

Amy lief glücklich schnatternd neben ihm her. Doch Tom war völlig verstummt. Es machte ihn rasend, dass Becky Thatcher ihn offenbar abgeschrieben hatte. Das war unerträglich.

Tatsächlich aber sah ihn Becky sehr genau und wusste, dass sie dabei war, den Kampf zu gewinnen. Er sollte nur noch ein wenig leiden, genau so wie sie gelitten hatte!

Inzwischen ging Tom das lustige Geplauder von Amy auf die Nerven. Er gab vor, bestimmte Dinge erledigen zu müssen. Doch Amy schwatzte weiter. Hol sie der Teufel! dachte Tom. Nun müsse er aber endlich seine Sache erledigen, behauptete er - und sie erwiderte arglos, dass sie nach der Schule auf ihn warten würde. Tom rannte davon.

Jeder andere Junge aus dem Ort wäre ja okay gewesen, aber ausgerechnet dieser Lackaffe. Schon als er aus St. Louis nach St. Petersburg gekommen war, hatte Tom ihm eine Abreibung verpasst. Diesem Kerl, der sich für was Besseres hält.

Bald werde ich dich wieder verprügeln, Alfred Temple, ich erwisch dich bald… Tom hieb in die Luft, als verprügle er tatsächlich jemanden. Er trat mit den Füßen um sich und drückte mit den Daumen gegen einen Hals, der nur in seiner Einbildung existierte. "So, reicht das!", sagte er laut. "Lass dir das eine Lehre sein!" Und so endete die Fantasie-Prügelei zu Toms totaler Zufriedenheit.

 

 

 

19. Toms geplatzter Traum

In der Mittagspause floh Tom nach Hause. Seine Eifersucht machte ihm die Fröhlichkeit der anderen zur Qual. Zu allem Übel wartete Tante Polly zuhause mit finsterer Miene.

"Ich hätte Lust, dir das Fell über die Ohren zu ziehen!", sagte sie böse.

"Weshalb denn, Tantchen?"

"Da geh ich alte Gans rüber zu den Harpers, um Sereny von deinem wundervollen Traum zu erzählen, und was passiert? Joe hat ihr erzählt, dass du in jener Nacht hier gewesen bist und alles gehört hast! Damit hast du mich zum Gespött der Leute gemacht! Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich mit dir machen soll."

Tom ließ den Kopf hängen und wusste einen Moment lang nicht, was er sagen sollte. Er kam sich schäbig vor. Dann flüsterte er: "Es tut mir Leid, Tante Polly. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan - ich habe einfach nicht darüber nachgedacht!"

"Das ist es ja, Kind! Du denkst nie über etwas nach. Da kommst du den weiten Weg von Jacksons Insel hierher und machst dich über unsere Trauer lustig. Auf den Gedanken, Mitleid mit uns zu haben, kommst du nicht."

"Ich weiß ja, dass es gemein war. Aber ich wollte das ehrlich nicht, Tante Polly. Im Übrigen bin ich in jener Nacht nicht hergekommen um mich lustig zu machen!"

"Warum bist du dann gekommen?"

"Ich wollte dir sagen, dass wir nicht ertrunken sind und dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst. Doch dann habt ihr von der Totenfeier gesprochen. Da kam mir plötzlich die Idee, wir könnten uns in der Kirche verstecken. Das Rindenstück habe ich dann wieder in die Tasche gesteckt."

"Welche Rinde?"

"Das beschriebene Stück Rinde. Jetzt wünsche ich mir fast, dass du aufgewacht wärst, als ich dir einen Kuss gegeben habe - ehrlich!"

"Hast du mich wirklich geküsst, Tom?", fragte Tante Polly zärtlich.

"Klar! Weil ich dich doch so lieb hatte und weil du so geseufzt hast!"

Das klang ehrlich. Die alte Dame sagte mit zittriger Stimme: "Dann küss mich noch einmal! Und dann verschwinde in die Schule!"

Sobald er fort war, ging sie zum Schrank und holte die traurigen Überreste seiner Piratenjacke heraus. Nach kurzem Zögern griff sie in die Jackentasche. Eine Sekunde später hielt sie das Rindenstück in der Hand und las Toms Botschaft mit tränenverschleiertem Blick.

"Jetzt könnte ich dem Jungen eine Million Sünden vergeben", murmelte sie.

 

 

 

20. Tom, der Edelmütige

Das Gespräch mit Tante Polly bewirkte, dass Toms düstere Stimmung mit einem Schlag verschwand. Er fühlte sich so frei und unbeschwert, dass er sich auf dem Schulweg sogar bei Becky Thatcher entschuldigte. "Becky, es tut mir Leid. Ich habe mich heute Morgen wirklich unmöglich benommen. Wir wollen uns wieder vertragen, ja?"

Becky sah ihn zornig an. "Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich in Zukunft nicht mehr belästigen würdest! Ich rede nie mehr mit dir!" Stolz ging sie weiter.

Tom war verblüfft und wünschte sich, Becky wäre ein Junge gewesen, dann hätte er sie so richtig vermöbeln können. Der Bruch zwischen ihnen schien unüberbrückbar.

Der Lehrer, Mr. Dobbins, ein Mann mittleren Alters, hatte sein Leben lang Arzt werden wollen. Doch da er das Studium nicht bezahlen konnte, hatte es nur bis zum Dorfschulmeister gereicht und sein Lebenstraum blieb unerfüllt. In seinem Pult verwahrte er ein geheimnisvolles Buch, in das er sich vertiefte, wenn er nicht gerade Unterricht halten musste. Er hütete das Buch wie einen kostbaren Schatz. Jeder in der Schule hätte liebend gerne mal hineingeschaut.

Als nun Becky die Klasse betrat, bemerkte sie, dass der Schlüssel am Pult steckte. Das war die Gelegenheit! Sie sah sich um und im nächsten Moment hielt sie das Buch in Händen. Anatomie von Professor Soundso, sagte ihr nichts. Sie begann zu blättern. Gleich auf einer der ersten Seiten war eine farbige, schön gezeichnete Darstellung eines nackten menschlichen Körpers. Just in dem Moment ertappte Tom sie dabei. Hastig wollte Becky das Buch zuklappen, dabei riss sie versehentlich die Seite bis zur Hälfte ein. Schnell warf sie das Buch zurück in das Pult, drehte den Schlüssel um und brach von Scham in Tränen aus. Dann beschuldigte sie Tom, er hätte sich angeschlichen. Er wehrte sich. Aber Becky tat ihm fast ein wenig Leid in ihrer Verzweiflung. Sie rief: "Du Ekel, ich hasse dich! Was soll ich jetzt bloß tun. Bestimmt bekomme ich Schläge dafür … ich habe noch nie Schläge in der Schule bekommen!"

Tom stand verblüfft da. Mädchen waren schon komisch. Was war denn schon dabei. Pah, noch nie Schläge in der Schule gekriegt!, sagte er zu sich selbst. Als würde er sie bei dem alten Dobbins verpetzen. Das war nicht nötig. Der hatte seine eigene Taktik. Becky wird sicher nicht um die Prügel herumkommen. Nachdenklich fügte er hinzu: Soll sie es doch ausbaden! Und dann lief er zu den anderen Jungen auf den Schulhof.

Kurz darauf begann der Unterricht. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis Mr. Dobbins das Pult öffnete. Nachdem er eine Weile zerstreut mit den Buchseiten spielte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück um zu lesen.

Tom blickte zu Becky, die hilflos aussah. Der Streit mit ihr war vergessen, da musste etwas geschehen. Der Lehrer öffnete den Band. Dann blickte er auf und die Drohung in seinen Augen war mehr als deutlich. Es herrschte atemlose Stille.

Der Schulmeister brüllte mit seinem ganzen Zorn: "Wer hat dieses Buch zerrissen?"

Kein Laut war zu hören. Erst forschte Mr. Dobbins in jedem Gesicht nach Zeichen der Schuld. Dann fragte er jedes Kind einzeln und blickte ihm drohend in die Augen. Als er bei Becky Thatcher stand, fragte er erneut: "Hast du dieses Buch zerrissen?" Becky saß leichenblass auf ihrem Stuhl. Da wusste Tom, wie er ihr helfen konnte. Er sprang auf und rief: "Ich war es!"

Sprachlos sahen seine Mitschüler ihn an. Tom sammelte noch kurz seine Kräfte, bevor er seine Strafe abholte. Dann ließ er die Schläge, die härtesten, die Mr. Dobbins je einem Schüler verpasst hatte, ohne einen einzigen Schmerzenslaut über sich ergehen. Die Überraschung, die Dankbarkeit und Bewunderung, die ihm aus Beckys Augen entgegenleuchteten, ließen ihn selbst die zusätzliche Strafe, nach Schulschluss noch zwei Stunden nachzusitzen, mit Gleichmut hinnehmen. Er wusste ja, dass Becky auf ihn wartete!

Am Abend war Tom mit sich und der Welt endlich mal wieder zufrieden. Beim Einschlafen noch hörte er Beckys Stimme: "Tom, dass du so edelmütig sein konntest!"

 

 

 

21. Tom und der vergoldete Schulmeister

Die Ferien standen kurz vor der Tür und damit auch der Examenstag. Der strenge Schulmeister wollte den Eltern an diesem Tag zeigen, was er den Kindern beigebracht hatte. Er wurde von Tag zu Tag noch ein wenig strenger; Rute und Lineal kamen nur selten zur Ruhe - vor allem bei den jüngeren Schülern. Und seine Schläge taten weh, denn obwohl er unter seiner Perücke völlig kahl war, war er erst Anfang Vierzig, muskulös und keineswegs schwach.

Durch seine tyrannische Strenge zog er sich den Unmut der Kinder zu. Das hatte zur Folge, dass die Kleinen düstere Rachepläne schmiedeten oder dem Schulmeister böse Streiche spielten. Doch immer wieder mussten sich die Kinder geschlagen vom Schlachtfeld zurückziehen.

Schließlich entwickelten sie einen Plan, der ihnen einen überwältigenden Sieg versprach. Der Sohn des Schildermalers war nur allzu gern bereit mitzuhelfen, denn der Lehrer wohnte zur Untermiete bei seinen Eltern und er hasste ihn aus mehreren Gründen.

Der Malerssohn berichtete, dass die Frau des Schulmeisters für einige Tage aufs Land fahren sollte. Zu dieser Gelegenheit genehmigte der Lehrer sich immer einige Gläschen. Er wolle handeln, wenn der Schulmeister wie üblich in seinem Schaukelstuhl eingenickt sei.

Endlich war der große Abend gekommen. Das Schulhaus strahlte im festlichen Licht. Oben auf einem Podium saß der Schulmeister in seinem Sessel wie auf einem Thron. Die Tafel im Hintergrund, blickte er mild auf das Publikum herab. Auf drei Bankreihen rechts und links von ihm saßen die Honoratioren des Städtchens. Auf den sechs Reihen vor ihm saßen die Eltern.

Auf einem weiteren Podium warteten die Schüler, die zur Gestaltung des Abends beitragen sollten. Kinder und Schulhaus waren gleichermaßen adrett und festlich.

Die Vorführung begann. Nacheinander trugen die Kinder Gedichte vor, die mit einer Menge Applaus belohnt wurden. Dann kam Tom an die Reihe. Selbstbewusst begann er, die unsterbliche Ballade vorzutragen. "Gebt mir die Freiheit oder den Tod!" Als er mittendrin stecken blieb, sahen die Zuschauer ihn voller Mitgefühl an. Nur der Lehrer runzelte erbost die Stirn. Tom kämpfte einen Moment lang mit sich selbst, dann gab er auf, völlig am Boden zerstört.

Dieser Panne folgte der Höhepunkt des Abends. Die von den großen Mädchen verfassten Aufsätze. Auch sie wurden nach ihrem Vortrag jeweils mit begeistertem Applaus belohnt.

Der Bürgermeister hielt eine lobreiche Rede und überreichte den Preis an die Beste des Abends.

Jetzt erhob sich der Lehrer, beflügelt durch das Lob. Er wandte sich der Tafel zu, auf die er eine Karte von Amerika zeichnete, um die Leistungen in Geographie zu demonstrieren. Seine Hand war so unruhig, dass er mehrmals die Kreide ansetzen musste. Ein unterdrücktes Kichern durchlief den Raum. Nun richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf seine Arbeit, entschlossen, sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Doch das Gekicher brach nicht ab, ja es wurde sogar deutlich stärker! Und dazu gab es auch Grund.

Direkt über dem Kopf des Schulmeisters hatte sich eine Falltür geöffnet. Durch diese kam, mit den Hinterpfoten an einer Schnur hängend, eine Katze herunter; Kinn und Kopf so mit einem Lappen zugebunden, dass sie nicht miauen konnte. Sie schwebte langsam herunter, und versuchte sich krampfhaft an dem Seil festzukrallen, bis sie direkt über dem Kopf des Schulmeisters schwebte. In ihrer Verzweiflung krallte sie sich an der Perücke des völlig in seine Arbeit vertieften Lehrers fest. Blitzschnell wurde das Tier wieder nach oben gezogen, mitsamt der Beute. Das Scheinwerferlicht fiel genau auf die Glatze des Schulmeisters. Die strahlte zurück, denn der Sohn des Schildermalers hatte sie vergoldet!

Die Versammlung kam so zu einem jähen Ende. Die Schüler hatten sich gerächt und die Ferien konnten beginnen.

 

 

 

22. Tom steht vor Gericht

Die heiß ersehnten Ferien brachten nicht nur Vergnügen sondern auch gähnende Langeweile. Aus Verzweiflung fing Tom an Tagebuch zu führen. Als jedoch an drei aufeinander folgenden Tagen nichts Außergewöhnliches geschah, gab er es wieder auf.

Dann vertrieben sich Tom und Joe ihre Zeit mit der Kommödiantentruppe, die nach St. Petersburg kamen. Das dauerte auch nur zwei Tage. Der Unabhängigkeitstag am 4. Juli war total verregnet, so dass nicht einmal der Umzug stattfinden konnte. Danach kam ein Zirkus; und so ging es alle paar Tage mit neuen Attraktionen weiter, die jedoch nur dazu führten, dass die Pausen dazwischen immer schmerzlicher wurden.

Becky Thatcher verbrachte mit ihrer Familie die Ferien in Constantinople. So bot das Leben für Tom keinerlei Glanzpunkte. Dann bekam er die Masern.

Als er nach zwei Wochen wieder auf den Beinen war, hatte sich nichts im Ort verändert. Nein, es war trauriger und langweiliger denn je. Bereits am nächsten Tag bekam Tom einen Rückfall, der ihn endlose drei Wochen im Bett hielt.

Dann kam endlich Bewegung in die schläfrige Ferienatmosphäre des Städtchens. Der Mordfall Muff Potter kam zur Verhandlung. Er wurde sofort das Hauptgesprächsthema aller Einwohner, dem Tom nicht entgehen konnte. Jedes Mal wenn davon gesprochen wurde, schauderte es ihn bis ins Mark. Sein schlechtes Gewissen plagte ihn sehr. Er fühlte sich beobachtet und das Gerede ließ ihm keine Ruhe.

Als er so unsicher wurde, dass er vor Angst zitterte, ging er zu Huck. Jetzt konnte Tom die Last des Schweigens für eine kurze Zeit ablegen. Er vergewisserte sich, dass Huck auch wirklich keiner Menschenseele etwas von ihren nächtlichen Beobachtungen erzählt hat. Doch Huck konnte ihn beruhigen. Er wäre ja nicht lebensmüde, erklärte er.

Dann erzählte er, dass Muff Potter schlechte Karten hätte. Die Menschen wären davon überzeugt, dass Muff diesen Mord begangen hätte. Und das, obwohl Muff Potter niemandem etwas Böses getan hatte.

"Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, ihn aus dem Gefängnis herauszuholen", gestand Tom seinem Mitwisser.

"Das würden wir nie schaffen!"

So unterhielten sich die beiden Jungen noch eine Weile. Als die Dämmerung hereinbrach, gingen sie zum kleinen Gefängnis, um Potter Tabak und Streichhölzer durchs Zellenfenster zu reichen. Seine Dankbarkeit rührte sie zutiefst und bereitete ihnen gleichzeitig ein unsagbar schlechtes Gewissen.

Muff Potter freute sich über die heimlichen Besucher und nutzte diese Zeit, um den Jungen gute Ratschläge zu erteilen. Sie sollen sich nur nie besaufen, riet er ihnen, sonst würde ihnen gleich Schlimmes passieren wie ihm. Je länger er sprach, umso mehr fühlten sich Tom und Huck als Verbrecher. "Ihr habt Muff Potter sehr geholfen, und ich weiß, ihr würdet auch noch mehr tun, wenn ihr könntet!", sagte er, kurz bevor die Jungen sich auf den Heimweg machten.

Tom fühlte sich elend und ihn plagten während der Nacht die schrecklichsten Träume. An den nächsten beiden Tagen drückten sich Tom und Huck ständig vor dem Gericht herum, jedes Gespräch vermeidend. Am Ende des zweiten Verhandlungstages berichteten die Leute, die Aussage von Indianer-Joe stehe fest und es gebe keinerlei Zweifel über das ausstehende Urteil.

Spätabends verließ Tom noch einmal das Haus und kletterte erst tief in der Nacht wieder durchs Fenster in sein Zimmer. Er war so aufgeregt, dass es Stunden dauerte, bis er einschlafen konnte.

Am nächsten Morgen strömte der ganze Ort zum Gerichtsgebäude, denn an diesem Tag sollte das Urteil verkündet werden. Als alle Beteiligten im Saal Platz genommen hatten - die hoheitsvollen Geschworenen, dann der hoffnungslose Potter, anschließend Indianer-Joe mit undurchdringlicher Miene - erst dann erschien das Gericht und die Verhandlung konnte beginnen. Es folgten Aussagen von mehreren Zeugen, viele Fragen von Staatsanwalt und Verteidiger, bis für den Staatsanwalt klar war, dass nur Muff Potter den Mord begangen haben konnte. Potters Stöhnen war im ganzen Saal zu hören.

Dann erhob sich der Verteidiger. "Euer Ehren, zu Beginn der Verhandlung war es unser Ziel, zu beweisen, dass sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat, ausgelöst durch übermäßigen Alkoholgenuss, nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte befand. Wir wollten auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Jetzt haben sich jedoch völlig neue Tatsachen ergeben und die Verteidigung plädiert auf Freispruch. Bitte rufen Sie Tom Sawyer in den Zeugenstand!"

Verblüfftes Murmeln durchzog den überfüllten Saal. Potter hob erstaunt den Kopf. Tom erhob sich langsam und ging zum Zeugenstand. Er sah blass und ängstlich aus, als er vereidigt wurde.

Dann fragte der Verteidiger: "Thomas Sawyer, wo warst du am 17. Juni um Mitternacht?"

Tom sah zu Indianer-Joe hinüber und seine Zunge versagte ihm den Dienst. Erst nach einiger Zeit nahm er all seinen Mut zusammen und sagte leise: "Auf dem Friedhof!"

"Bitte, sprich etwas lauter! Du warst…"

Indianer-Joe lächelte verächtlich. Der Verteidiger befragte Tom über alle Einzelheiten, die er in jener Nacht gesehen hatte und Tom gab wahrheitsgemäß Auskunft. Auf die Frage, ob er alleine war, antwortete er mit nein - verschwieg aber den Namen seines Freundes. Indianer-Joe zuckte kaum merklich zusammen.

Tom begann seinen Bericht. Zunächst zögernd, dann immer flüssiger. Im Saal war kein Laut zu hören. Die Spannung erreichte den Höhepunkt, als Tom sagte: "Der Doktor schleuderte das Brett herum, Potter fiel und Indianer-Joe sprang mit dem Messer…"

Krach! Blitzschnell raste Indianer-Joe zum Fenster und war verschwunden, noch ehe einer der Anwesenden überhaupt reagieren konnte.

Wieder war Tom der Held des Tages, sogar das kleine Lokalblättchen verewigte ihn mit einem begeisterten Artikel. Und wie das immer so ist, wurde Muff Potter mit Freundlichkeiten überhäuft und mit offenen Armen wieder in der Gesellschaft aufgenommen. Die Menschen sind nun mal wankelmütig.

Tagsüber ging es Tom prima, doch nachts schüttelte ihn das Grauen. In allen Träumen erschien Indianer-Joe und schrie nach Rache und Vergeltung. Nichts konnte Tom dazu bewegen, nach Einbruch der Dunkelheit noch aus dem Haus zu gehen. Dem armen Huckleberry erging es nicht besser. Obwohl sein Name bei Gericht nicht gefallen war, befürchtete Huck, seine Beteiligung könne irgendwie durchsickern. Außerdem war seitdem Hucks Vertrauen in Tom schwer erschüttert. Er hatte alle heiligen Schwüre gebrochen.

Die Dankbarkeit Muff Potters zeigte Tom, dass seine Entscheidung richtig gewesen war. Doch in der Dunkelheit wünschte sich Tom, er hätte niemals gesprochen.

Einesteils fürchtete er, Indianer-Joe würde niemals gefunden; doch gerade der Gedanke, er würde gefangen, jagte Tom Angst und Schrecken ein. Er wusste genau, dass er erst durch den Tod von Indianer-Joe seinen Seelenfrieden finden konnte.

Trotz der stattlichen Belohnung, die für das Finden von Indianer-Joe ausgesetzt war, blieb er wie vom Erdboden verschwunden.

 

 

 

23. Tom und Huck suchen einen Schatz

Jeder Junge verspürt irgendwann den brennenden Wunsch, einen verborgenen Schatz zu finden. Eines Tages war bei Tom das Verlangen so groß, dass er sich aufmachte, um Joe Harper zu suchen. Doch er konnte weder Joe noch jemand anders auftreiben, der ihn auf seiner Schatzsuche begleiten könnte. Da lief ihm Huck Finn in die Arme. Huck war sofort einverstanden. Er beteiligte sich gerne an Unternehmungen, die Spaß versprachen und nichts kosteten.

Eine Weile lang tauschten sie ihr Wissen über Schätze, Ausgrabungen und Räuber aus. Tom erklärte: "Irgendwann findet mal jemand ein altes Schriftstück, auf dem eingezeichnet ist, wie man die Stelle, wo der Schatz vergraben wurde wieder findet. So ein Plan ist schwer zu entziffern, denn meistens sind nur geheimnisvolle Zeichen drauf.

"Wenn du keinen solchen Plan hast, wie willst du dann ein Versteck finden, Tom?", fragte Huck neugierig.

"Das schaff ich auch so! Ich hab dir ja schon gesagt, es ist immer auf einer Insel, unter einem Baumstumpf, in einem Spukhaus. So wie das verlassene, alte Haus oben auf dem Cardiff-Hügel. Da spukt es und verfaulte Baumstümpfe gibt es dort auch."

"Sollen wir dort anfangen zu graben?"

"Tja, ich weiß noch nicht genau. Beginnen wir mit dem alten Baum auf dem Hügel hinter dem Spukhaus!", schlug Tom vor.

"Einverstanden!"

Mit Spitzhacke und einer Schaufel machten sich die Beiden auf den Weg. Bei der schattigen Ulme angekommen, warfen sich die beiden Schatzgräber erst mal auf die Erde, um sich zu erholen. Das gefiel ihnen und sie überlegten schon mal im Voraus, was sie mit ihrem Anteil machen würden.

"Ich kauf mir jeden Tag ein Stück Kuchen und ein Glas Limonade. Und ich gehe in jeden Zirkus, der in die Stadt kommt.", freute sich Huck.

"Und sparen willst du nichts?"

"Wozu denn. Wenn mein Alter davon erfährt, dann kommt er in die Stadt und schnappt sich alles. Da muss ich schneller sein. Und du, Tom?"

"Ich kauf mir eine neue Trommel und ein richtiges Schwert und einen roten Schlips und eine junge Bulldogge und dann heirate ich."

"Tom, spinnst du?", rief Huck erschreckt, "das ist das Blödeste, was du machen könntest. Sieh dir mal meine Alten an - nichts als Streit und Prügelei die ganze Zeit!"

"Das Mädchen, das ich heirate, das macht keinen Streit!"

"Okay, aber wenn du heiratest, dann bin ich noch mehr allein", versuchte es Huck noch einmal.

"Nein, du wirst natürlich bei mir wohnen. Aber jetzt Schluss damit. Wir müssen mit Graben anfangen."

Eine halbe Stunde lang arbeiteten sie schweigend. Ohne Erfolg. Nach einer weiteren halben Stunde hatten sie immer noch nichts gefunden. Dann wählten sie einen neuen Platz und die Arbeit ging erneut los. Zwischendurch wischten sie sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. So wechselten sie noch mehrmals die Plätze - ohne Erfolg.

Stunden später rief Tom: "So was Blödes! Wir müssen doch zuerst einmal wissen, wo der Schatten um Mitternacht hinfällt!"

"Dann war die ganze Schufterei umsonst? Mist! Also gut, dann komme ich heute Abend bei dir vorbei und miaue an deinem Fenster."

"Abgemacht. Die Werkzeuge verstecken wir einfach hier im Busch."

Zur vereinbarten Zeit warten die beiden Freunde wieder an Ort und Stelle. Es war ausgesprochen unheimlich hier draußen, unter dem Baum. Die gruselige Stimmung bedrückte die Jungen.

Nach einer Weile schätzten sie, dass nun Mitternacht sein müsste. Sie markierten den Schatten und begannen zu graben. Doch sie wurden wieder enttäuscht, obwohl sie ganz tief gruben. "Komm, lass uns diesen Platz aufgeben, Huck!", flüsterte Tom.

"Okay, das ist wohl gescheiter."

Tom dachte kurz nach. Dann schlug er vor: "Im Spukhaus."

"Muss das sein? Ich mag keine Häuser, in denen es spukt. Gespenster sind noch viel schlimmer als Tote!"

"Die treiben sich doch nur nachts herum. Wir wollen aber bei Tag graben."

"Na, trotzdem wagt sich keiner in die Nähe des Spukhauses. Die Leute haben in den Fenstern blaues Licht gesehen. Und nur Gespenster benutzen blaues Licht."

"Ja, aber bei Tag tun sie nichts."

"Na ja, wenn du meinst. Aber gefährlich ist es allemal."

Inzwischen lag das Spukhaus vor ihnen im mondhellen Tal. Es wirkte verwahrlost und ein Teil des Daches war eingestürzt. Wie gebannt starrten die Jungen zu dem einsamen Haus hinüber. Fast erwarteten sie, ein blaues Licht flackern zu sehen. Vorsichtshalber schlugen sie einen weiten Bogen um das Spukhaus und liefen durch den Wald zurück.

 

 

 

24. Tom in Gefahr

Am nächsten Tag um die Mittagszeit trieb Tom ungeduldig seinen Freund zur Eile an. Ihr Werkzeug hatten sie bereits aus dem Versteck geholt, als ihnen einfiel, dass heute Freitag war. Und Freitag war nun wahrlich kein Glückstag. Dazu kam, dass Tom in der Nacht einen fürchterlichen Traum gehabt hatte. Von Ratten!

"Das bedeutet Unglück! Haben sie gekämpft?", wollte Huck wissen.

"Nein, zum Glück nicht. Ich glaube, es handelt sich nur um Schwierigkeiten. Besser, wir gehen heute nicht auf Schatzsuche.", überlegte Tom.

"Gut, dann spielen wir eben Robin Hood!"

So spielten Tom und Huck den ganzen Nachmittag lang Robin Hood. Ab und zu schielten sie zum Spukhaus hinüber und planten den nächsten Tag. Erst am Abend machten sie sich auf den Heimweg durch den dichten Wald hinter dem Cardiff-Hügel.

Am Samstag trafen sie sich wieder am toten Baum, kurz nach dem Mittagessen. Sie unterhielten sich kurz, gruben nach einem kurzen Schwatz ein wenig in dem begonnenen Loch herum. Doch auch diesmal ohne Erfolg.

Wenig später erreichten sie das Spukhaus. Es war totenstill und von diesem einsamen Ort ging etwas Drohendes aus. Zögerlich schlichen sie zum Eingang und wagten einen Blick ins Innere.

Das Herz schlug ihnen zum Zerspringen. Sie warteten auf das geringste Alarmzeichen, ihre Muskeln waren angespannt - bereit, jeden Moment zu flüchten. Doch es geschah nichts.

Es dauerte nicht lange, da siegte ihre Neugier und sie untersuchten die Räumlichkeiten genauer. Dazu wagten sie sich sogar ins obere Stockwerk. Ihre Schaufel und Hacke ließen sie einfach in einer Ecke liegen, weil sie sonst die morsche Treppe nicht hinaufgekommen wären. Gerade wollten sie wieder nach unten steigen, als die Freunde Stimmen von unten hörten.

"Oh Gott! Wir hauen ab, Huck", flüsterte Tom.

Die Jungen legten sich dicht nebeneinander auf den Bauch, das Gesicht ganz dicht über dem Holzboden. Sie zitterten vor Angst.

"Wären wir bloß schon draußen, Huck. Sie haben angehalten…"

Zwei Männer betraten den Raum. Der eine war ein alter, taubstummer Spanier, der sich in der letzten Zeit öfters im Ort herumgetrieben hatte. Und der andere - sobald er den ersten Satz gesagt hatte, gefror den Jungen das Blut in den Adern - Indianer-Joe!

"Was ist denn gefährlicher als beim letzten Mal?", fragte er gerade den Spanier.

"Es ist was anderes. Da war weit und breit kein Haus in der Nähe! Vermutlich wird nie einer erfahren, dass wir dort gewesen sind", antwortete der angeblich taubstumme Spanier.

Die beiden Männer zogen etwas zu essen heraus und fingen an zu schmatzen. Nach einer langen Pause sagte Indianer-Joe: "Hör zu, Alter. Es stimmt schon, was du sagst. Wir müssen raus aus dieser stinkigen Bude. Du gehst jetzt wieder zum Fluss zurück. Dort wartest du, bis Nachricht von mir kommt. Ich gehe nochmals in die Stadt und schaue, was sich machen lässt. Wir drehen das Ding erst, wenn ich alle Einzelheiten ausspioniert habe. Und dann hauen wir ab, nach Texas!"

Der Fremde war zufrieden und gähnte. Indianer-Joe rollte sich im Unkraut zusammen und grunzte: "Du bist mit der Wache dran!" Doch bald sank auch der Kopf des Komplizen immer tiefer nach vorn und die Beiden schnarchten um die Wette.

"Jetzt oder nie!", flüsterte Tom mit erleichterter Stimme. Doch Huck zitterte noch. Tom drängte, doch Huck hielt ihn zurück. Als Tom trotzdem einen vorsichtigen Schritt machte, knarrten die hölzernen Bohlen entsetzlich. Zu Tode erschrocken ließ er sich wieder auf den Boden sinken.

Gerade als sie dachten, sie müssten bis zum jüngsten Tag dort verweilen, brach das Schnarchen ab. Die Sonne ging langsam unter.

Indianer-Joe erhob sich langsam, der Spanier wachte gemächlich auf und sie beschlossen abzuhauen. "Was machen wir mit unserer Beute?", fragte Indianer-Joe.

"Keine Ahnung. Hier lassen, wie immer. Wenn wir abhauen, nach Süden, dann holen wir die Sechshundertfünfzig in Silber."

"Gut. Dann müssen wir eben nochmals herkommen."

Sie diskutierten noch eine Weile hin und her, steckten noch zwanzig oder dreißig Dollar ein. Indianer-Joe begann mit dem Messer in der Ecke zu graben.

Die Jungen beobachteten mit glühenden Augen alles, was geschah. So ein Glück! Das würde eine Schatzsuche werden! Sechshundert Dollar würden ein halbes Dutzend Jungen reich machen. Sie brauchten nur noch zu graben. Begeistert blickten sie sich an.

Da stieß Joes Messer auf einen Widerstand. "He!", rief er, "da ist schon eine Kiste!"

Die beiden Männer untersuchten sie durch das Loch, das Indianer-Joe hineingestoßen hatte. "Mann, da ist ja Geld drin!", rief der Spanier überrascht. Sie untersuchten gemeinsam die Goldmünzen.

Die Jungen freuten sich in ihrem Versteck genauso darüber. Die beiden Männer holten sich die alte Hacke, die Tom unten stehen gelassen hatte, und gruben die Kiste aus. Sie sah gar nicht so groß aus. "Da sind ja tausende von Dollar drin", sagte Indianer-Joe andächtig.

"Bestimmt von Murrels Bande. Die haben sich mal einen ganzen Sommer lang hier rumgetrieben! Dann brauchst du dein Ding nicht mehr drehen", sagte der Spanier.

"Da kennst du mich aber schlecht! Mir geht es nicht um einen einfachen Einbruch, es geht um Rache!", sagte Indianer-Joe mit einem gefährlichen Feuer in seinen Augen. Erst wenn das erledigt ist, geht es nach Texas. Und du gehst jetzt zu deiner Alten und zu deinen Gören heim. Dann hörst du von mir.

"Okay. Graben wir das wieder ein?"

"Nein!", sagte er zu aller Überraschung. "An der Hacke war frische Erde dran. Da muss jemand hier sein. Möchte bloß wissen, wem das Werkzeug gehört. Und wenn jemand da oben ist?", fragte er.

Den Jungen stockte der Atem, als ihr Widersacher sich der Treppe zuwendete. Knarrend kamen die Schritte die Stiege herauf - da ertönte das laute Krachen von morschem Holz und Indianer-Joe landete fluchend zwischen den Trümmern der zerbrochenen Treppe.

"Lass doch!", sagte der andere. "Wir schleppen das Ding rüber zu meinem Versteck. So verließen die beiden erst beim letzten Schimmer des Tageslichts das Spukhaus in Richtung Fluss.

Tom und Huck erhoben sich völlig erschöpft und starrten den Verbrechern nach. Sie getrauten sich nicht, ihnen zu folgen und traten den kürzesten Weg nach Hause an. Wenn diese blöde Hacke nicht gewesen wäre, dann hätte Indianer-Joe keinen Verdacht geschöpft und das viele Geld wieder vergraben. Sie beschlossen, nach dem Spanier zu sehen, wenn er in den Ort käme, und ihm zu dem besagten Versteck zu folgen.

"Huck", fragte Tom ängstlich, "meinst du, Indianer-Joe will sich an uns rächen?"

Huck fiel vor Schreck fast in Ohnmacht. Doch als sie schließlich in St. Petersburg ankamen, waren sie fast sicher, dass er möglicherweise jemand anderen meinen könnte oder wenigstens nur Tom alleine. Was diesen wenig tröstete, denn so war er allein in Gefahr. Gemeinsam hätte er es viel besser ausgehalten.

 

 

 

25. Tom und Huck schieben Wache

In dieser Nacht träumte Tom schlecht. Viermal hielt er den Schatz in Händen und viermal zerrann er wieder ins Nichts, bis Tom schweißgebadet aufwachte. Fast schien es, als hätte er das ganze Abenteuer nur geträumt. Er musste sich Gewissheit verschaffen.

Gleich nach dem Frühstück ging er zu Huck. Der saß traurig in einem kleinen Boot am Fluss und ließ die Beine ins Wasser baumeln. Tom beschloss zu warten, bis Huck von der Sache zu reden anfing. Tat er es nicht, dann war alles wirklich ein Traum gewesen.

Doch Huck begann schon bald zu erzählen, dass er eine ganz schreckliche Nacht hinter sich hätte. Der spanische Teufel hätte ihn bis in den Schlaf verfolgt… Tom war erleichtert, weil nun klar war, dass das Abenteuer in Wirklichkeit stattgefunden hatte.

"Wir müssen den Spanier finden. Ihn und das Geld!", sagte Tom.

Doch Huck war pessimistisch. Er glaubte nicht an eine zweite Chance. Außerdem zitterten ihm die Knie schon vorweg.

Doch Tom blieb dabei. Sie wollten es zuerst in den Gasthäusern versuchen. "Du bleibst hier, Huck. Ich gehe!" Tom war im Nu verschwunden.

Eine halbe Stunde später war er schon zurück. Er hatte im zweiten Gasthof etwas Verdächtiges entdeckt. Da war ein Zimmer vermietet, das ständig verschlossen sei. Der Sohn des Wirts berichtete, dass tagsüber noch nie jemand herausgekommen oder hineingegangen war. Bloß nachts ein paar Mal. In der vergangenen Nacht, zum Beispiel, hätte Licht gebrannt.

"Was willst du jetzt tun?", fragte Huck.

"Nachdenken." Nach einigen Minuten erklärte Tom sein vorhaben. Er wollte sich so viele Schlüssel wie möglich besorgen, damit sie vielleicht die verschlossene Zimmertür öffnen könnten. Huck sollte derweil nach Indianer-Joe Ausschau halten, wenn es sein musste, sogar verfolgen. Huck nickte, obwohl er fürchterliche Angst vor diesem Verbrecher hatte. Aber bei Nacht würde er es schon schaffen.

Als die Nacht hereinbrach, trieben sich Tom und Huck in der Nähe des Gasthauses herum. Bald zog die Nacht auf und Tom beschloss, sicherheitshalber nach Hause zu gehen. Huck blieb bis Mitternacht, dann zog er sich zum Schlafen in ein altes, leeres Zuckerfass zurück.

An den nächsten Abenden hatten die Jungen immer dasselbe Pech: Es war zu hell. Erst am Donnerstag sah es für ihr Unternehmen besser aus. Tom kletterte aus dem Fenster, ausgerüstet mit der alten Blechlaterne seiner Tante und einem Handtuch, um sie abzublenden. Die Wache konnte beginnen. Eine Stunde vor Mitternacht schloss das Wirtshaus und kurz darauf erloschen die Lichter. Die stille Nacht wurde nur durch ein fernes Donnergrollen unterbrochen.

Tom zündete die Laterne an, wickelte das Handtuch darum und schlich zum Gasthaus. Huck hielt Wache. Für ihn begann eine endlose Wartezeit voller Angst. In seiner Unruhe näherte er sich immer mehr der Gaststätte. Plötzlich schoss Tom wie ein Lichtblitz durch die Finsternis auf ihn zu. "Lauf!", schrie er. "Lauf um dein Leben!"

Huck spurtete los, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Erst als die Beiden das Schlachthaus am anderen Ende des Ortes erreicht hatten, hielten sie schwer atmend an. Sie konnten gerade noch unter das schützende Dach eines Schuppens flüchten, als ein Unwetter losbrach.

Es dauerte eine ganze Weile, bis die beiden sich unterhalten konnten. Tom erzählte, wie er bereits nach dem zweiten Versuch mit dem Schlüssel bemerkt hatte, dass er nur den Türknauf zu drehen brauchte. "Die Tür war offen!", sagte er. "Ich gehe also rein, mache das Handtuch von der Laterne ab - da trifft mich fast der Schlag!"

"Wieso?"

"Ich wäre fast auf Indianer-Joes Hand gestiegen! Er lag da mitten auf dem Fußboden und schlief tief und fest. Er hat sich zum Glück nicht gerührt. Vermutlich war er stinkbesoffen, da standen einige leere Flaschen rum. Ich bin nur noch davongerannt!"

"Toll! An das Handtuch hätte ich nicht gedacht.", sagte Huck.

"Ich schon! Was meinst du, was Tante Polly gesagt hätte, wenn es gefehlt hätte!"

"Sag Tom, hast du die Kiste gesehen?"

"Nein, ich bin ja gleich weggerannt. Wir probieren es noch einmal, aber erst, wenn wir ganz sicher sind, dass Indianer-Joe nicht drin ist. Wenn wir nachts Wache schieben, dann sehen wir ihn bestimmt mal weggehen. Und dann schlagen wir zu und holen die Kiste."

"Einverstanden, ich übernehme gerne die Wachen, wenn du den Rest erledigst", bot Huck an.

"Mach ich. Wir treffen uns am Abend wie immer. Du miaust unter meinem Fenster."

"Okay."

"Du, es hat aufgehört zu regnen. Ich geh jetzt nach Hause. Es wird in zwei Stunden hell. Gehst du noch mal zurück und wachst?"

"Logisch. Ich hab gesagt, dass ich es mache, und wenn es ein Jahr lang dauert. Dann schlafe ich eben tagsüber."

"Und du holst mich, sobald was los ist?"

"Ja, Ehrenwort."

 

 

 

26. Huck holt Hilfe

Am Freitagmorgen waren endlich Richter Thatcher und seine Familie aus den Ferien zurück. Indianer-Joe und die Schatzsuche rückten nun auf den zweiten Platz. Becky nahm jetzt wieder den ersten Platz ein. Sie spielten den ganzen Tag miteinander und sie verabredeten das längst versprochene Picknick auf den nächsten Tag. Noch vor Sonnenuntergang waren alle Kinder und Jugendlichen eingeladen. Sie stürzten sich in die Vorbereitungen und Tom war so aufgeregt, dass er nicht einschlafen konnte. Er wünschte sich sehnlichst, dass Huck ihn holte. Doch er kam nicht in dieser Nacht.

Am nächsten Morgen versammelte Richter Thatcher eine laute, fröhliche Schar. Es war nicht üblich, dass Erwachsene diesen Ausflug begleiteten. Es schien sicher genug, die Kinder von einigen achtzehnjährigen jungen Damen und einigen jungen Herren begleitet zu wissen.

So schlängelte sich das alte Fährschiff mit Proviantkörben beladen den Fluss hinunter. Sid lag krank im Bett und Mary leistete ihm Gesellschaft.

Beim Abschied hielt Mrs. Thatcher ihre Tochter an, bei Susi Harper zu schlafen, weil die in der Nähe des Landungsstegs wohne und sie sicher sehr spät zurückkommen würden.

"Fein", meinte Becky.

Unterwegs überredete Tom seine Freundin, doch lieber zur Witwe Douglas auf den Cardiff-Hügel zu gehen. Bei ihr könnten sie Eis in Massen schlemmen. Sie wäre sicher mehr als erfreut über ihren Besuch.

Becky haderte, ließ sich aber gerne auf diese verlockende Variante ein. Obwohl sie bisher noch nie die Anweisungen ihrer Mutter missachtet hatte. Sie beschlossen, keinem etwas von ihrem Plan zu verraten. Und wenn Huck ausgerechnet in dieser Nacht miaute? Der Gedanke betrübte Tom, doch er konnte sich nicht dazu entschließen, auf die Freuden bei der Witwe zu verzichten. So verdrängte Tom an diesem Tag jeden Gedanken an den Schatz.

Das Picknick war ein voller Erfolg. Das Fährschiff legte an einer bewaldeten Bucht an. Die Kinder ließen keine Möglichkeit aus, sich heiß und müde zu toben. Danach stürzten sie sich mit beachtlichem Appetit auf die mitgebrachten Köstlichkeiten. Im Schatten der großen Eiche ruhten sie sich satt und zufrieden aus und hielten ein Schwätzchen.

Als einer der Jungen den Vorschlag machte, zur Höhle zu gehen, wollte natürlich keiner sich dieses Abenteuer entgehen lassen.

Kerzen wurden hervorgeholt und bald marschierte die ganze Gesellschaft den Hügel hinauf. Der Eingang zur Höhle lag direkt unterm Gipfel; die schwere Eichentür stand offen. Stoßend und schubsend erkundeten die Kinder das Innere der Höhle. Ein paar Kinder schwärmten in die Seitengänge, huschten mit schauerlichen Rufen die Wege entlang, um sich an den Kreuzungen wieder zu treffen. Die McDouglas-Höhle war ein einziges Labyrinth. Kein Mensch hatte bisher die Höhle ganz erforscht, es war ein Ding der Unmöglichkeit.

Nach und nach trafen die mit Lehm und Talgtropfen beschmierten Kinder wieder am Eingang der Höhle ein. Sie staunten nicht schlecht, als sie feststellten, dass der Tag schon zur Neige ging. Die Schiffsglocke hatte bereits eine halbe Stunde lang gebimmelt. Todmüde, aber restlos zufrieden stiegen sie auf das Schiff, das sogleich ablegte und den Strom hinausstieß.

Huck hielt bereits Wache, als das hell erleuchtete Fährboot an der Anlegestelle vorüberglitt. Von Bord kam kein Laut. Die Nacht würde dunkel werden. Gegen zehn Uhr erstarb der Lärm auf der Straße und die Lichter erloschen. Das Dorf begab sich zur Ruhe. Als es elf Uhr schlug, überlegte Huck, ob er die Wache für heute nicht aufgeben sollte. Doch dann drang ein Laut an sein Ohr. Huck war sofort hellwach. Da! Die Tür zur Gasse hin hatte sich leise geschlossen. Am Eck des Kramladens huschten zwei Männer dicht an ihm vorbei. Der eine trug etwas auf dem Arm, ob das wohl die Schatzkiste war? Aber Tom konnte er nun nicht mehr holen. Nein, das musste er alleine wagen. Geschmeidig schlich Huck hinter den Männern her.

Erst vermutete Huck, dass sie den Schatz im Steinbruch vergraben wollten. Doch die beiden Männer hielten nicht an. Am kleinen Pfad waren sie bald im dichten Buschwerk verschwunden. Huck blieb einen Moment stehen, um die Geräusche zu orten. Gerade als er weitergehen wollte, räusperte sich jemand, wenige Schritte von ihm entfernt. Huck stockte der Atem. Er wusste genau, dass sie sich wenige Schritte vom Zaun des Anwesens der Witwe Douglas befanden.

Na prima, wenn sie die Kiste hier vergraben, finden wir sie jederzeit wieder!

Da hörte er Indianer-Joes Stimme: "Verdammt, da oben ist immer noch Licht. Die Alte hat Besuch!"

Huck kroch die Eiseskälte den Rücken hinauf. Wollten die beiden die Witwe etwa ermorden?

Dann folgte er gespannt der Unterhaltung. Sie wollten der Witwe eindeutig schaden. Indianer-Joe wollte sich dafür rächen, dass ihr Mann, der Friedensrichter, ihn hat öffentlich auspeitschen lassen. Leider war der Richter schon tot, aber seiner Frau, der würde er es schon zeigen.

Der Spanier flüsterte: "Bring sie bloß nicht um, Joe!"

"Ach was, eine Frau bringt man nicht um, der geht man an die Schönheit. Ich schlitz ihr die Nasenflügel auf und kerbe ihr die Ohren… und wenn sie daran stirbt, ist mir das auch egal. Ich weine ihr keine Träne nach."

"Na gut, aber dann mach schnell. Mir wird jetzt schon übel!"

Doch sie waren sich einig, dass sie es nicht wagen würden, solange noch Besuch im Haus war.

Während die beiden Verbrecher schwiegen, trat Huck vorsichtig den Rückzug an. Nur einmal knackte ein trockener Zweig unter seinem Fuß. Doch er hatte Glück, und konnte bis zum Haus des alten Walisers am Steinbruch flüchten. Dort hämmerte er wie wild an die Tür. Der alte Jones ließ Huckleberry ungern ins Haus, sein Ruf war ja nicht der beste. Trotzdem durfte Huck die ganze Geschichte erzählen und beteuern, dass er schreckliche Angst um die Witwe habe.

Drei Minuten später stiegen drei schwer bewaffnete Männer, Jones Söhne waren natürlich auch mit von der Partie, den schmalen Pfad hinauf. Huck blieb beim Busch zurück; angstvolle Stille herrschte hier. Dann plötzlich, das Knallen von Schüssen und ein Schmerzensschrei! Huck sprang auf und raste, wie vom Teufel gejagt, den Hügel hinunter.

 

 

 

27. Tom und Becky werden vermisst

Bereits am nächsten Morgen klopfte Huck wieder an die Tür des Walisers. Er und seine Söhne schliefen noch, doch bald ließen sie ihn ein. Für Huck war es völlig ungewohnt, so freundlich empfangen zu werden.

"Nun, mein Junge", begrüßte ihn der alte Mann. "Ich hoffe, du hast einen tüchtigen Hunger mitgebracht. Wir haben letzte Nacht noch auf dich gewartet - wo hast du gesteckt?"

Huck erklärte, dass er, als er die Schüsse gehört hatte, aus Angst weggelaufen sei. Und dass er so früh gekommen sei, weil er den Teufeln nicht begegnen wollte.

Der alte Mann erzählte, sie wären ganz nah an die beiden herangeschlichen. Dann musste er leider niesen, so dass die Kerle aufgescheucht wurden. Da schoss er Alte und seine Jungs blindlings in die Dunkelheit. Aber leider waren die Gauner schnell verschwunden. Nach einer Weile hätten sie die Verfolgung aufgegeben.

"Wenn wir wenigstens eine Beschreibung der Beiden hätten. Du hast sie in der Dunkelheit auch nicht erkennen können, oder?", beendete der Waliser seine Ausführungen.

"Ich habe sie gesehen. Der eine ist der taubstumme Spanier und der andere ist ein finsterer, zerlumpter Kerl…"

"Reicht schon, mein Junge. Die beiden kenne ich. Also los Jungs, das sagt ihr dem Sheriff!"

Die Söhne des Walisers brachen sofort auf. Ängstlich rief Huck ihnen nach: "Aber ihr sagt bitte keinem, dass ich die Beiden verraten habe, bitte…"

"Schon gut Huck", beruhigte ihn der eine Sohn, "wenn du es nicht willst. Aber eigentlich hättest du eine Belohnung verdient."

"Nein, nein, sagt nichts!", bettelte Huck. Sie fragten ihn noch eine Weile genau aus und Huck gab Auskunft so gut er konnte. Allerdings verstrickte er sich immer mehr in Widersprüche. Als der alte Mann das merkte, sagte er: "Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben. Im Gegenteil, ich will dich beschützen. Du weißt doch mehr über den Spanier, oder?"

Huck blickte dem Alten in die ehrlichen Augen und flüsterte: "Es ist gar kein Spanier, Mr. Jones, es ist Indianer-Joe!"

"Jetzt ist mir alles klar. Ein Weißer würde sich nie so rächen. Als du von verunstalten geredet hast, dachte ich erst, du hättest alles erfunden… Aber Indianer-Joe. Das ist was völlig anderes!"

Die Beiden setzten sich an den Tisch und frühstückten fertig. Als es an die Tür klopfte, versteckte sich Huck in Windeseile. Der Waliser ließ mehrere Damen und Herren herein, auch die Witwe Douglas. Der alte Mann musste nun die Geschichte genau erzählen und die Witwe dankte ihm herzlich.

Doch der alte Mann stellte die Situation richtig und erklärte, dass dieser Dank eigentlich einem Anderen gebührte, der aber nicht genannt werden wolle. Das erregte natürlich die Neugierde der Anwesenden. Doch der Alte gab das Geheimnis nicht preis.

An diesem Sonntag kamen die Dorfbewohner schon zeitig zur Kirche, denn die aufregenden Erlebnisse der Nacht waren in aller Munde. Nach dem Gottesdienst ging Mrs. Thatcher zu Mrs. Harper und sagte: "Ich hab mir schon gedacht, dass die Kinder müde sind, aber will meine Becky denn den ganzen Tag verschlafen?"

Mrs. Harper sah verständnislos auf. Dann kam auf, dass Becky gar nicht bei Harpers übernachtet hatte. Als dann Tante Polly dazukam und nachfragte, wo denn ihr Tom diese Nacht geschlafen hätte, war die Verwirrung perfekt. Mrs. Thatcher wurde blass und Mrs. Harper sah beunruhigt aus. Tante Polly runzelte die Stirn.

"Joe, hast du meinen Tom heute schon gesehen?", fragte sie schließlich.

"Nein, Madam!"

"Wann hat du ihn zuletzt gesehen?"

Joe überlegte konzentriert. Inzwischen waren andere Kirchgänger neugierig stehen geblieben. "Vielleicht sind sie ja noch in der Höhle!", überlegte einer der Jungen laut.

Mrs. Thatcher fiel in Ohnmacht und Tante Polly begann zu weinen. Die Ereignisse der Nacht waren vergessen. Minuten später läuteten die Alarmglocken durch die ganze Stadt. Rund zweihundert Leute machten sich auf den Weg zur Höhle. Doch als es Nacht wurde, gab es immer noch keine Nachricht. Erst am nächsten Morgen schickte der Suchtrupp die Botschaft nach Kerzen und Lebensmitteln.

Total erschöpft, voller Kerzentalg und Lehm kam der alte Waliser am Morgen nach Hause zurück. Huck lag immer noch im Bett und der alte Mann stellte fest, dass der Junge vor Fieber glühte und heftig fantasierte. Schnell holte er die Witwe Douglas zu Hilfe. Die nahm sich des kleinen Patienten liebevoll an.

Währenddessen wurde in der Höhle jeder Winkel und jede Spalte durchforscht. Nur eine Haarschleife hatten sie gefunden und an der Wand - mit Kerzenrauch geschrieben - die Namen Becky und Tom.

Drei furchtbare Tage und Nächte schleppten sich dahin. Die Leute verloren mehr und mehr den Mut, dass die Kinder noch gefunden werden konnten. Wie abgestumpft warteten alle auf Neuigkeiten aus der Höhle.

Huck, der immer noch fieberte, fragte in einem klaren Moment nach Tom… und ob er was gefunden hätte. Die Witwe Douglas brach in Tränen aus. "Ruhig, mein Junge. Du darfst nicht sprechen, du bist schwer krank und du braucht jetzt viel Ruhe!"

Weshalb weinte die Witwe Douglas bloß! Komisch. Ermattet fiel Huck wieder in tiefen Schlaf. Seine treue Pflegerin aber dachte: Armes Kerlchen. Wenn doch bloß jemand den Jungen fände. Es sind nicht mehr viele übrig, die genügend Kraft und Hoffnung besitzen, um weiterzusuchen!

 

 

 

28. Tom und Becky in der Höhle

Tom und Becky waren anfangs noch zusammen mit den anderen Kindern durch die dunklen Gänge der Höhle geschlendert. Als ihnen das Versteckspiel mit den anderen zu langweilig wurde, gingen sie alleine weiter. Erst stiegen sie einen kurvenreichen Gang hinunter. Interessiert entzifferten sie die verschlungenen Inschriften an den Wänden. Ins Gespräch vertieft wanderten sie weiter, bis sie bemerkten, dass es hier gar keine Inschriften mehr gab. An einem Felsüberhang schrieben sie mit Kerzenrauch ihre eigenen Namen. Sie gingen weiter, machten zur Sicherheit immer wieder Zeichen an die Wände. Sie erreichten eine weiträumige Halle mit zahllosen Tropfsteinen, die wie Eiszapfen von der Decke hingen. Ehrfürchtig staunend gingen sie weiter, einen der zahllosen Seitengänge, der sie zu einer verzauberten Quelle führte. Sie wanderten noch durch viele Gänge und einzigartigen Höhlenräumen, bis sie bemerkten, dass sie die anderen Kinder endgültig verloren hatten.

Unter der Decke hing ein Meer von Fledermäusen. Durch das Licht aufgeschreckt, kamen sie zu hunderten heruntergeschossen. Tom erkannte die Gefahr und zog Becky gerade noch rechtzeitig bei Seite, denn eine Fledermaus hatte bereits Beckys Licht gelöscht. Blindlings irrten sie durch die Dunkelheit, bis sie die lästigen Verfolger abgehängt hatten.

"Komm, Tom, wir kehren lieber um!"

"Ja, ist wohl besser."

"Findest du den Weg, Tom? Ich kenne mich überhaupt nicht mehr aus."

Da Tom die Fledermäuse umgehen wollte, begannen sie durch einen anderen Gang schweigend ihren Rückweg. Sie spähten durch Öffnungen und lugten durch Ritzen, doch alle waren ihnen fremd. Immer wieder tröstete Tom seine Freundin. "Der hier ist es noch nicht, Becky, aber der richtige kommt sicher gleich!"

Nach einer Weile blieb Tom stehen: "Horch!", sagte er.

Tiefe Stille. Nur ihr Atem war zu hören. Da stieß Tom einen Schrei aus, der durch die leeren Gänge hallte, wie höhnisches Gelächter.

"Bitte Tom", flehte Becky, "nicht noch mal! Es hört sich grässlich an."

"Ja, ich weiß. Aber vielleicht hören sie uns!"

Es dauerte nicht lange, bis ihnen klar war, dass Tom den Weg zurück nicht mehr fand. Becky sank zu Boden und weinte so herzzerreißend, dass Tom befürchtete, sie würde auf der Stelle den Verstand verlieren. Er nahm sie in die Arme und Becky verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Dabei klagte sie nur noch heftiger. Tom begann, sich heftige Vorwürfe zu machen - weshalb hatte er sie nur in diese schreckliche Lage gebracht. Doch dann rissen sie sich wieder zusammen und gingen weiter, entschlossen den Weg nach draußen zu finden. Irgendwann nahm Tom Beckys Kerze und blies sie aus. "Wir müssen sparen!", sagte er. Beckys ganze Hoffnung erstarb im Nu.

Trotz ihrer unglaublichen Müdigkeit schleppten sie sich weiter durch die Dunkelheit. Bis Beckys zarte Glieder den Dienst verweigerten. Sie mussten sich setzen, dabei erzählten sie sich ein wenig von daheim - bis Becky dann mit tränennassem Gesicht einschlafen konnte. Dankbar sah Tom sie an und ein Teil der Ruhe ging auf ihn über. Er wanderte in Gedanken in die Vergangenheit, zu schönen Abenteuern. Als Becky dann wieder erwachte, gingen sie weiter. Sie hatten jegliches Zeitgefühl verloren, waren aber immer noch davon überzeugt, dass ihre Freunde nach ihnen suchen würden.

Irgendwann aßen sie noch das letzte Stück Hochzeitskuchen, das Tom in seiner Hosentasche aufbewahrt hatte. Endlich kamen sie an eine Quelle. Das kühle Wasser tat gut. Als Tom dann vorschlug, dass sie hier bleiben müssten, wegen des frischen Wassers, brach Becky wieder in Tränen aus. "Sie werden uns sicher suchen, nicht?", fragte sie verzweifelt.

"Ja, bestimmt!"

Dann ruhten sie aus. Becky verharrte zwischen weinen und wachen. Tom wiegte sie fürsorglich in seinen Armen. Plötzlich fuhr er auf. "Hast du das gehört?"

Beide hielten den Atem an und lauschten. Sie hörten einen Laut, der so klang wie ein ferner Ruf. Tom schrie zurück, so laut er konnte. Wieder hörten sie den Laut, er kam näher. "Jetzt wird alles gut." Die Freude überwältigte sie. Sie schleppten sich den Lauten entgegen, im Dunkeln. Bald kamen sie an einen Abgrund, den sie nicht überqueren konnten. Inzwischen waren die Rufe verstummt und mutlos krochen sie zur Quelle zurück. Wieder fielen sie in tiefen Schlaf, erwachten zerschlagen. Es muss inzwischen Dienstag sein, dachte Tom.

Doch Tom wollte nicht aufgeben. Es gab noch eine ganze Reihe Seitengänge zu erforschen, die an der Quelle lagen. Er band seine Drachenschnur an dem Felsvorsprung fest und tastete sich in den ersten Gang hinein. Es war dunkel und er konnte nur Tasten. In diesem Augenblick erschien hinter dem Felsen eine Hand mit einer brennenden Kerze, keine zehn Meter entfernt. Tom stieß einen Freudenschrei aus. Doch sein Körper erstarrte, als er den dazugehörigen Mann erkannte: Indianer-Joe!

Wie gelähmt hockte Tom in der Finsternis. Doch erleichtert stellte er fest, dass sein Feind voller Panik kehrt machte. Er wunderte sich, dass er seine Stimme nicht erkannt hatte. Aber wahrscheinlich war sie durch das Echo völlig verzerrt gewesen. Die Furcht vor dem brutalen Verbrecher schüttelte ihn. Wenn er erst einmal wieder an der Quelle war, dann brachte ihn nichts mehr dazu, noch einmal so ein Risiko einzugehen. Becky erzählte er erst gar nichts von seinem Erlebnis.

Hunger und Elend sind jedoch auf Dauer stärker als jede Furcht. Und als sie mit quälendem Hunger aus dem Schlaf erwachten, untersuchte Tom noch weitere Seitengänge. Er war sogar bereit, es mit Indianer-Joe und allen anderen Schrecken aufzunehmen.

Becky war inzwischen völlig teilnahmslos und schwach geworden. Sie wollte nur noch auf den Tod warten - es würde ja nicht mehr lange dauern, sagte sie. Tom könne ja gehen und den Gang erforschen, aber er müsse ihr versprechen, wenn der Tod käme, ihre Hand zu halten und bei ihr zu bleiben.

Toms Kehle war wie zugeschnürt, als er sich über seine Freundin beugte und sie küsste. Er tat so, als wenn bald der Suchtrupp käme oder aber er selbst einen Weg aus der Höhle fände. Dann nahm er die Drachenschnur und kroch auf allen vieren in den nächsten Gang hinein, gequält vom Hunger und vom Gefühl des nahen Todes.

 

 

 

29. Toms Geheimnis

Am Dienstag lastete die quälende Ungewissheit über das Schicksal der Kinder immer noch über ganz St. Petersburg. Trotz Bittgottesdiensten und inbrünstiger Gebete hatte man Tom und Becky noch nicht gefunden. Mrs. Thatcher und Tante Polly waren verzweifelt. Sie waren in dumpfe Schwermut versunken, aus der nichts sie aufrütteln konnte. Als sich am Abend der Ort zur Ruhe begab, gab es keinen mehr, der an eine Rettung glaubte.

Mitten in der Nacht dröhnten die Glocken. "Kommt heraus! Kommt heraus! Wir haben sie gefunden!", riefen einige Helfer. Im Nu wimmelte es auf den Straßen von aufgeregten Menschen. Lärmend zogen sie in Richtung Fluss, um die Kinder in Empfang zu nehmen. Tom und Becky saßen in einem kleinen offenen Wagen, der von freudestrahlenden Männern gezogen wurde. Die Rückkehr kam einem Triumphzug gleich. Niemand dachte daran, ins Bett zu gehen.

Mrs. Thatcher und Tante Polly konnten ihr Glück gar nicht beschreiben. Sie waren selig. Tom lag zuhause auf dem Sofa, umringt von neugierigen Zuhörern und berichtete von der dramatischen Rettung, die er natürlich großzügig ausschmückte. Er erzählte, wie er Becky zurückgelassen hatte, um weitere Gänge auszuforschen; wie er am Ende des dritten Ganges, als die Drachenschnur schon völlig gespannt war, gerade umkehren wollte, als er ganz in der Ferne einen Lichtschimmer bemerkte. Er hatte die Drachenschnur abgelegt und war auf das Licht zugekrochen. Kopf und Schultern zwängte er durch ein enges Loch und dann sah er direkt vor sich den Mississippi fließen. Welch ein Glück! Zum Glück war es Tag, sonst hätte er das Licht nie gesehen.

Er erzählte, wie er zu Becky zurückgegangen war, sie überredet hatte, noch einmal die Kraft aufzubringen, durch den Seitengang kriechen. Als er sie überredet hatte, waren sie gemeinsam zu dem Loch gekrabbelt und hinausgeklettert. Lange hatten sie da gesessen und geweint und gelacht vor lauter Seligkeit.

Schließlich waren ein paar Männer in einem Boot vorbeigekommen. Tom hatte laut gerufen. Zuerst wollten sie die Geschichte nicht glauben, weil sie sich etwa fünf Meilen unterhalb der Höhle befanden. Aber dann hatten sie Tom und Becky erst einmal zu einem Haus gerudert, wo sie sich erst mal satt essen und ausruhen konnten.

Drei Tage und drei Nächte hatten die beiden Kinder in der Höhle verbracht. Sie waren sehr geschwächt. Tom ging am Freitag zum ersten Mal wieder in den Ort. Becky verließ erst am Sonntag das Bett, und sie sah aus, als habe sie eine lange, schlimme Krankheit überstanden.

Inzwischen hörte Tom auch von dem Abenteuer auf dem Cardiff-Hügel und von Hucks schlimmem Fieber. Am Montag durfte er dann seinen Freund besuchen, jedoch nur in Anwesenheit der Witwe Douglas. Inzwischen hatte man den Leichnam des einen zerlumpten Verbrechers gefunden. Er war offensichtlich bei der Flucht im Fluss ertrunken.

Erst zwei Wochen später konnte Tom Huck endlich sprechen. Er brannte darauf, seine Abenteuer mit Huck auszutauschen. Da Richter Thatchers Haus auf dem Weg lag, hielt Tom kurz an, um nach Becky zu sehen. Der Richter und einige seiner Freunde zogen Tom in ein Gespräch: "Na, Tom, hättest du nicht Lust, mal wieder in die Höhle zu gehen?"

Als Tom lässig betonte: "Jederzeit!", mischte der Richter sich ein.

"Da habe ich vorgesorgt. Die schwere Eingangstür habe ich mit dicken Eisenbeschlägen und mit einem großen Schloss versehen lassen. Da geht keiner mehr verloren."

Tom wurde leichenblass. Als der Richter das bemerkte, sprach er den Jungen darauf an. Da musste Tom ihm gestehen: "Ach, Sir, in der Höhle steckt Indiander-Joe!"

 

 

 

30. Tom, Huck und die Goldmünzen

Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein. Wenig später waren einige Männer unterwegs zur McDouglas-Höhle, gefolgt vom Fährschiff, beladen mit Neugierigen.

Als die schwere Tür geöffnet wurde, fanden sie Indianer-Joe im Halbdunkel ausgestreckt am Boden liegend. Er war tot. Den Kopf dicht an der Tür, sah er aus, als habe er bis zum letzten Moment zum Licht geschaut. Tom empfand tiefes Mitleid. Er wusste, wie sehr Indianer-Joe gelitten haben musste; so dicht am rettenden Ausgang. Gleichzeitig fühlte er sich von einer schweren Last befreit.

Die tiefen Scharten in dem harten Holz der Türschwelle zeigten, dass er versucht haben musste, auf diesem Weg nach draußen zu gelangen. Nicht einmal mehr Kerzenstümpfe lagen herum, die Besucher normalerweise am Eingang der Höhle zurückließen. Selbst die musste er gegessen haben. Der Unglückliche war elendig verhungert

Nicht weit vom Höhleneingang wurde Indianer-Joe begraben. Viele Leute aus den umliegenden Dörfern kamen zu seiner Beerdigung herbei. Sie brachten sogar ihre Kinder mit und Verpflegung für den ganzen Tag. Und am Ende fühlten sie sich ebenso befriedigt, als wenn sie ihn hätten hängen sehen.

Am nächsten Morgen trafen sich Tom und Huck an einem verschwiegenen Platz, um endlich ihre Abenteuer auszutauschen. Huck hatte zwar schon das meiste über Tom und Becky von der Witwe Douglas und dem alten Waliser erfahren, doch von einer Sache konnte sein Freund noch nichts wissen.

"Ich muss dir unbedingt noch was erzählen!", begann Tom.

"Ja, ich weiß. Irgendjemand muss das Gold aus dem Zimmer mit der Nummer 2 im Wirtshaus geholt haben, weil dort nur noch Schnaps gefunden wurde!"

Tom schüttelte verständnislos den Kopf. "Wieso Huck? Das Geld war doch nie in dem Zimmer! Es ist in der Höhle!"

"Heiliger Antonius, du spinnst!"

"Nein, das ist mein voller Ernst. Holst du mit mir den Schatz da raus?"

"Na und ob! Aber ich will da drin nicht verloren gehen."

"Nein, wir markieren den Weg mit Zeichen. Dann ist es das Leichteste von der Welt!"

Sie beschlossen, gleich loszufahren. Wenn sie eine Abkürzung nehmen würden, ginge es ein wenig schneller. Sie besorgten sich noch ein bisschen Brot und Fleisch, drei Drachenleinen, jede Menge Streichhölzer und Kerzen und zwei Säcke.

Um die Mittagszeit "liehen" sich die Jungen ein Boot und fuhren los. Sie trieben einige Meilen flussabwärts. Als Tom den weißen Fleck sah, wo der Erdrutsch gewesen war, gab er Huck das Zeichen, an Land zu gehen.

Sie standen nun unterhalb des Lochs, aus dem Becky und Tom herausgekrochen waren. Huck erkannte die Stelle natürlich nicht gleich, so dass Tom stolz das Gebüsch zur Seite drückte und Huck den versteckten Höhleneingang zeigte. Toms Gedanken schweiften bereits zu der Bande, die er gründen wollte und mit der er in dieser Räuberhöhle hausen wollte. Nur ausgewählte Jungen dürften mitmachen.

Während sie ihre Ideen für die Zukunft besprachen, leerten sie das Boot und krochen in das Loch. Die Drachenleine banden sie am Eingang fest. Tom ging voraus. Bei den Erinnerungen an die drei Tage und Nächte der Gefangenschaft rieselte Tom ein Schauer über den Rücken. Der beklemmende Ort und die unheimliche Stille bedrückten die Jungen sehr. Tom führte Huck zu dem Seitengang, den er damals nicht hatte weitergehen können. "Und jetzt pass auf. Schau so weit um die Ecke, wie du nur kannst!", flüsterte Tom. "Siehst du auf dem Felsen, mit Kerzenrauch gemalt… ein Kreuz!"

"Genau an dieser Stelle tauchte die Hand von Indianer-Joe mit der Kerze auf, Hucky!"

Huck starrte auf das magische Zeichen und flüsterte: "Ich will hier raus, Tom!"

"Und der Schatz? Soll der dableiben?"

Sie überlegten, dass der Geist von Indianer-Joe sicher nicht bei einem Kreuzzeichen verweilen würde und beschlossen, den Schatz zu holen.

Tom kroch hinüber in die kleine Grotte. Huck folgte ihm auf den Fersen. Sie verfolgten Spuren in verschiedene Seitengänge - immer ohne Erfolg. Plötzlich sah Tom Fußspuren und einige Talgtropfen. Das Geld musste unter dem Felsen sein. Die Jungen probierten es mit Graben. In einer Tiefe von zehn Zentimetern stießen sie auf Holz. Huck nahm das Messer und grub weiter. Bald hatte er ein paar Bretter freigelegt, die eine Höhlung verbargen, welche unter den Felsen führte.

Die Jungen arbeiteten sich immer weiter nach unten. Sie mussten durch eine Art Tunnel schlüpfen, bis der enge Gang einen Knick machte. Vorsichtig hob Tom die Kerze hoch und leuchtete um die Ecke. Dann rief er laut: "Hucky, sieh doch nur - die Schatzkiste!"

"Na endlich!", seufzte Huck erleichtert. Er kroch zur Kiste und ließ die Münzen durch die Finger gleiten. "Jetzt sind wir reich, Tom!"

"Ich hab immer daran geglaubt, dass wir die Kiste finden. Aber jetzt ist es noch viel schöner, als ich mir das vorgestellt habe. Komm Huck, wir bringen sie nach draußen!"

Sie versuchten, die Kiste zu heben. Doch sie wog mindestens fünfzig Pfund. Tom konnte sie zwar hochheben, aber es war nicht daran zu denken, sie nach oben zu schleppen. "Zum Glück haben wir zwei Säcke dabei!"

Sie füllten das Geld in die Säcke und krochen zurück in die Felsenhöhle. Problemlos fanden sie den Weg zurück ins Freie. Kurze Zeit später saßen die beiden Jungen in dem Boot und machten sich über ihren mitgebrachten Proviant her. Es war schon dunkel als sie mit dem Boot unterhalb des Dorfes anlegten.

Sie beschlossen, das Geld erst einmal im Schuppen der Witwe Douglas zu verstecken. So könnten sie es am nächsten Morgen in Ruhe zählen, verteilen und im Wald vergraben. Es dauerte nur wenige Minuten, bis Tom einen Handwagen organisiert hatte, mit dem sie ihre Beute transportieren konnten.

Eben als sie am Haus des alten Walisers vorbeikamen, trat dieser aus der Tür und rief die Jungen zu sich. Sie dachten schon, sie hätten etwas angestellt, doch der alte Mann zog den schweren Karren für sie den Berg hinauf. "Habt ihr da Ziegel drauf, oder Altmetall?", fragte er zwischendurch.

Tom antwortete beiläufig: "Altmetall."

Im Wohnzimmer des Walisers war alles anwesend was Rang und Namen hatte. Die Thatchers, die Harpers, die Rogers, Tante Polly, Sid, Mary, der Pfarrer, der Zeitungsverleger und viele mehr. Alle in ihren besten Kleidern. Die Witwe empfing die beiden Neuankömmlinge herzlich und schickte sie nach draußen um sich zu waschen. Außerdem sollten sie sich im Schlafzimmer neu kleiden. Gerade als sie überlegten, ob sie nicht lieber abhauen sollten, kam Sid zu ihnen.

"Sid, was soll denn diese Veranstaltung?", fragte Tom seinen Halbbruder. Der erklärte, dass die Witwe Douglas heute eine Einladung hatte zu Ehren von Mr. Jones und seinen Söhnen, weil sie die Witwe doch gerettet hatten.

Sid schwieg kurz, dann gab er das große Geheimnis preis. Der alte Waliser wollte heute allen mitteilen, dass es eigentlich Huck war, der die Räuber verfolgt hatte und dass der Dank ihm gebühre. "Und eigentlich ist es auch kein Geheimnis mehr, denn er hat es Tante Polly zugeflüstert und jetzt wissen es eh schon alle!", schloss er seinen schadenfrohen Beitrag. Wie immer, freute er sich, wenn er jemandem eins auswischen konnte.

"Pfui, Sid! Du kannst wohl keinem ein Lob gönnen, oder?" Tom packte Sid, versetzte ihm ein paar schallende Ohrfeigen und beförderte ihn mit Fußtritten zur Tür hinaus. Nun könne er Tante Polly alles petzen, schrie er ihm noch nach!

Wenig später saßen sie an der vornehmen Tafel in schönen Kleidern. Alles verlief wie vorauszusehen war. Der Waliser dankte, gab die gute Tat von Huck preis und die Witwe überschüttete alle mit Lob und Dank. Allen voran dankte sie Huck, der sich mehr als unwohl fühlte, schon wegen der Kleidung. Außerdem wollte die Witwe ihn in ein Heim bringen, ihn später einen guten Beruf lernen lassen.

Jetzt war Toms Augenblick gekommen. "Huck hat das alles gar nicht nötig. Er ist reich!"

Alle hielten das natürlich für einen gelungenen Witz. Doch als Tom die beiden Säcke mit Geld hereinschleppte und ausschüttete, sagte er triumphierend: "Da, was hab ich gesagt? Die eine Hälfte gehört Huck, die andere mir."

Wie gebannt starrten die Anwesenden auf die goldenen Münzen. Es hatte ihnen die Sprache verschlagen. Doch bald brach der Tumult los. Alle wollten eine Erklärung. Tom tat ihnen gerne den Gefallen und erzählte.

Schließlich wurde das Geld gezählt. Es waren etwas über zwölftausend Dollar. So viel Geld hatte noch keiner der Anwesenden auf einem Haufen gesehen.

 

 

 

31. Tom und Huck werden Räuber

Der Geldsegen von Tom und Huck brachte das arme, kleine Städtchen St. Petersburg ganz durcheinander. Eine so riesige Summe, und alles in Münzen… Nun wurde jedes Spukhaus in St. Petersburg und Umgebung zerlegt und nach verborgenen Schätzen durchwühlt. Und das nicht nur von Jungen - nein, von erwachsenen, ernsthaften Männern!

Nach ihrem Abenteuer wurden Tom und Huck mit ganz anderen Augen angesehen. Alles was sie taten, war irgendwie von Bedeutung. Die Menschen waren ungewöhnlich freundlich und verständnisvoll. Hin und wieder veröffentlichte die kleine Lokalzeitung sogar Ereignisse aus dem Leben der beiden Freunde.

Die Witwe Douglas kümmerte sich um Hucks Anteil, der zu sechs Prozent gut angelegt wurde. Richter Thatcher machte es für Tom ebenso - auf Bitten von Tante Polly. So hatte jeder Junge ein gigantisches Einkommen: einen Dollar je Wochentag und einen halben am Sonntag!

Richter Thatcher hielt große Stücke auf Tom. Er war davon überzeugt, dass kein anderer Junge seine Tochter so selbstlos gerettet hätte. Er wollte sich persönlich dafür einsetzen, dass Tom auf der Militärakademie zugelassen wurde und später einmal die beste Juristenschule besuchen konnte.

Die Witwe Douglas kümmerte sich geradezu aufopfernd um Huck. Dadurch wurde er zwar in die Gesellschaft aufgenommen, fast schon hineingezerrt; gleichzeitig begann für Huck eine Leidenszeit, die er kaum ertragen konnte. Er musste sich sauber kleiden, mit Besteck essen, Servietten benutzen, ganz zu Schweigen von der gewählten Sprache, die er sich zulegen musste. Er fühlte sich gefangen in den Fesseln der Zivilisation.

Drei Wochen lang ertrug er tapfer die Bemühungen der Witwe, dann war er plötzlich verschwunden. Achtundvierzig Stunden lang, ließ die Witwe ihn suchen - ohne Erfolg. Das ganze Dorf suchte mit, sogar den Fluss suchten sie nach einer Leiche ab

Als Tom Sawyer am dritten Tag zielsicher zum alten Schlachthaus hinunterging, fand er seinen Freund im alten Fass. Huck sah wieder aus wie in den Tagen, als er noch frei und glücklich gewesen war; und er benahm sich auch so. Tom berichtete von der Suchaktion und er drängte den Freund, wieder nach Hause zu gehen.

Da wurde Hucks Gesicht düster und traurig. Er klagte Tom sein Leid und dass das geregelte Leben bei der Witwe, so gut sie es auch meinte, eben nichts für ihn sei. "Ich bin eben nicht so wie die andern. Ich halt das nicht aus! Schrecklich, so eingesperrt zu sein und so leicht was zu essen zu kriegen; da schmeckt es mir überhaupt nicht. Und wegen jedem Mist muss ich fragen. Wenn ich mich nicht jeden Tag für ein paar Minuten auf dem Speicher verkrochen hätte, um ein Pfeifchen zu rauchen und nach Herzenslust zu fluchen, dann wäre ich bestimmt gestorben!"

Huck machte eine Pause und seine Wut war ihm deutlich anzumerken. Dann schimpfte er noch eine Weile weiter und schloss damit, dass Tom das jetzt der Witwe erklären möge.

"Du weißt genau, dass ich das nicht machen kann", rief Tom und versuchte Hucky zu erklären, dass es ihm auf Dauer vielleicht sogar gefallen könnte.

"Gefallen? Tom, ich will nie mehr reich sein und in stinkenden Häusern wohnen. Ich gehöre in den Wald, den Fluss und das Fass hier. Verdammt, nun könnten wir endlich Räuber werden und jetzt verdirbt uns das blöde Geld alles."

Tom sah seine Gelegenheit gekommen: "Mich hält der Reichtum nicht davon ab, Räuber zu werden. Doch ich kann nur anständige Menschen in meine Bande aufnehmen. Stell dir vor, die Leute würden über uns reden; dass in meiner Bande die verkommensten Typen drin sind. Und damit würden sie dich meinen… das würde mir gar nicht gefallen. Und dir?"

Huck focht einen schweren inneren Kampf aus. Eine ganze Weile später sagte er zögernd: "Du hast gewonnen! Ich gehe zurück zur Witwe. Einen Monat lang probiere ich es noch einmal, das feine Leben. Aber nur, wenn du mich in deine Bande aufnimmst, Tom!"

"Na klar, Hucky. Und der Witwe sage ich, sie soll nicht so streng mit dir sein!"

Das fand Huck toll und er versprach Tom, dass er nur noch heimlich rauchen und fluchen wolle. "Und wann fängst du mit deiner Räuberbande an?", fragte er.

"Sofort! Wir trommeln die Leute zusammen und können heute Nacht schon den Räuber-Eid ablegen…"

Das gefiel Huck. Sie verabredeten, dass sie sich an einem verlassenen, unheimlichen Ort treffen wollten; dort wollten sie dann um Mitternacht den Eid ablegen, mit allem Drum und Dran - am Besten noch mit Blut unterschreiben!

Huck rief euphorisch: "Das ist tausendmal toller, als Pirat zu sein! Da bleib ich bei der Witwe, bis ich verfaule. Und wenn ich dann ein richtig toller, berühmter Räuber bin, dann wird die Witwe sicher mächtig stolz auf mich sein!"