Theseus und der Minotauros
Theseus war der Sohn des Königs von Attika [1] und lebte als Erbe an seiner Seite. Es kam aber die Zeit, da zum dritten Male die Gesandtschaft von der Insel Kreta [2] eintraf. Dort herrschte König Minos, und er wollte seinen Tribut verlangen. Der Grund dafür war, dass sein Sohn durch Hinterlist auf attischem Gebiete zu Tode gekommen war. Darum entfachte König Minos einen Krieg gegen die Athener, und die Götter selbst verwüsteten das Land mit Dürre und Seuchen.
Da wendeten sich die Heimgesuchten an das Orakel des Apollon [3]. Dort erhielten sie eine Weissagung, dass der Zorn der Götter und die Leiden aufhören würden, wenn sie König Minos besänftigten und seine Verzeihung erlangten.
Die Athener folgten diesem Spruch und baten den König um Frieden. Auch versprachen sie, alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen als Tribut nach Kreta zu schicken.
Von nun an ging in Athen die Rede um, dass Minos die jungen Griechen in sein berühmtes Labyrinth sperrte, um sie dem grässlichen Minotauros zu opfern. Und niemand, der das Labyrinth betreten habe, sei auch wieder lebend herausgekommen.
Als nun die Zeit des dritten Tributes gekommen war, und die Väter um ihre jungen Söhne und Töchter bangten, da fingen die Athener Bürger an mit Wehmut zu klagen. Theseus stand dabei und konnte so viel Leid nicht ertragen. In der Volksversammlung reckte er sich auf und gelobte, als Freiwilliger nach Kreta zu fahren.
Das Volk bewunderte ihn dafür, doch der König wollte sich seinen Erben erhalten. Er bestürmte den Sohn mit bittenden und drohenden Worten, doch Theseus blieb unerschütterlich. Dann beruhigte er seinen Vater mit großer Zuversicht, dass er den Minotauros schon bezwingen werde.
Als nun das Los auch für die anderen Opfer gezogen war, führte Theseus die Knaben und Mädchen zu einem Schiff, das mit einem schwarzen Segel der Trauer gerüstet war.
Kaum waren sie auf der Insel Kreta angelangt, da zog Theseus mit seinem Heldenmut die Blicke der schönen Ariadne auf sich. Sie war die Tochter von König Minos und zeigte sich dem Theseus in Liebe zugeneigt. Heimlich traf sie sich mit dem Geliebten und gab ihm noch manchen Rat. Auch reichte sie ihm ein Knäuel aus Faden und ein eisernes Schwert, damit er den Minotauros siegreich bezwingen konnte.
Nun wurde Theseus mit seinen Gefährten in das Labyrinth geschickt. Ariadne hatte ihm geraten, den Anfang des Fadenknäuels nahe beim Eingang zu befestigen, und so geschah es auch. Bei jedem Schritt wickelte Theseus ein Stück von dem Faden ab und hinterließ eine Spur auf seinen verschlungenen Wegen.
Lange irrten sie durch das Labyrinth, da hörten sie plötzlich ein wütendes Schnauben. Theseus hielt die Anderen zurück und zog es vor, alleine das Ungeheuer zu erlegen. Vorsichtig schaute er um das nächste Mauerwerk und da stand er nun, der furchterregende Minotauros. Halb Mensch, halb Stier rannte er gegen Theseus an, doch dieser sprang geschickt zur Seite. Dann ließ Theseus sein Schert mit aller Macht niederfahren und streckte den riesigen Leib des Minotauros nieder. Der Kampf war vorüber und Theseus nahm seinen Faden wieder in die Hand, zeigte er doch den Weg in die Freiheit.
Diese List verhalf Theseus und seinen Gefährten zur Flucht, und der Held schloss Ariadne glücklich in seine Arme. Doch immer noch mussten sie die Rache von Minos fürchten. Darum stießen sie tiefe Löcher in die Schiffe des König, auf dass er sie nicht verfolge. So kehrten alle in die geliebte Heimat nach Athen zurück, wo Theseus den Thron seines Vaters erbte.
Erklärungen:
[1] Attika ist eine griechische Landschaft rund um die Stadt Athen.
[2] Kreta ist eine Insel im Mittelmeer.
[3] Apollon, ein Sohn von Zeus, ist der Gott der Weissagung. Sein berühmtestes Orakel stand im griechischen Delphi.