Rübezahls Rache
[von Johann Karl August Musäus]
Nach seiner unglücklichen ersten Liebe verließ der Berggeist tief enttäuscht die Oberwelt, mit dem Entschluss, nie wieder das Tageslicht zu schauen. Doch die Zeit verwischte seinen Gram, obwohl es ganze 999 Jahre dauerte. Schon begann ihn die Beschwerde der Langeweile zu drücken, da machte sein Hofnarr den Vorschlag, eine Lustpartie aufs Riesengebirge zu wagen. Das gefiel dem Berggeist, und es brauchte nur eine kleine Minute, so war die weite Reise vollbracht. Er befand sich mitten auf dem großen Rasenplatz seines alten Lustgartens, was den menschlichen Augen aber verborgen blieb. Die Wanderer, die übers Gebirge kamen, sahen nichts als eine fürchterliche Wildnis.
Beim Anblick all dieser Dinge, die er ehemals im schönsten Lichte schimmern sah, flammte die Erinnerung wieder in ihm auf. Es war ihm, als sei die Geschichte mit der schönen Emma erst gestern vorgefallen. Doch dann musste er wieder daran denken, wie sie ihn überlistet hatte, was seinen Groll gegen die ganze Menschheit weckte. "Unseliges Erdengewürm", murmelte er, als er vom hohen Gebirge die Türme der Kirchen und Klöster sah. "Treibt ihr immer noch euer Unwesen unten im Tale. Das sollt ihr mir nun büßen. Ich will euch hetzen und wohl plagen, dass es euch bange wird vor dem Treiben des Geistes im Gebirge."
Kaum hatte er dieses ausgesprochen, vernahm er in der Ferne Menschenstimmen. Drei junge Gesellen wanderten durchs Gebirge, und der keckste unter ihnen rief ohne Unterlass: "Rübezahl, komm herab! Rübezahl, Mädchendieb!"
Seit undenklichen Jahren war die Liebesgeschichte des Berggeistes von Mund zu Mund gegangen. Jeder Reisende, der das Riesengebirge betrat, unterhielt sich mit seinem Gefährten darüber. Man erfand unzählige Spukgeschichten, die sich niemals ereignet hatten und lehrte damit die Wanderer das Fürchten. Witzbolde, die am hellen Tage keine Gespenster scheuten, pflegten vor lauter Übermut den Geist mit seinem Spottnamen zu beschwören.
Nie hatte man gehört, dass der friedliche Berggeist solche Beleidigungen rügte, denn in der Tiefe des Abgrundes erfuhr er kein Wort von diesem Hohn und Spott. Umso mehr war der Berggeist jetzt tief betroffen, als er sein Unglück so kurz und bündig mit anhören musste.
Wie der Sturmwind raste er durch den düsteren Fichtenwald und war schon im Begriffe, den armseligen Spötter zu erdrosseln. Da erkannte er, dass diese Rache ein großes Geschrei im Lande erregen musste. Alle Wanderer würden das Gebirge meiden und ihm die Gelegenheit nehmen, sein Spiel mit den Menschen zu treiben. Darum ließ er die drei Wandergesellen vorerst ungeschoren ziehen.
Am nächsten Scheideweg trennte sich der Spötter von seinen beiden Kameraden und gelangte nach Hirschberg in seine Heimat. Der unsichtbare Geist war ihm bis zur Herberge gefolgt, um ihn später wiederzufinden. Zufrieden trat er seinen Rückweg ins Gebirge an und sann dabei auf die Mittel seiner Rache.
Noch auf der Landstraße begegnete ihm zufällig ein reicher Israelit, der nach Hirschberg wollte. Da kam dem Berggeist in den Sinn, diesen Mann zum Werkzeug seiner Rache zu machen. Er nahm die Gestalt des Gesellen an, der ihn verspottet hatte, und gesellte sich zu dem Juden. Nach einiger Zeit führte er ihn unbemerkt von der Straße. Dort fiel der Geselle dem Juden mächtig in den Bart, zauste ihn heftig, riss ihn zu Boden, knebelte ihn, raubte Geld und Geschmeide, und steckte es in seinem Säckel. Nachdem er den Juden dann auch noch mit Faustschlägen und Fußtritten übel zugerichtet hatte, ging er einfach davon.
Als der Israelit wieder zu Bewusstsein kam und sich von seinem Schrecken erholte, fing er an zu wimmern und rief so laut er konnte um Hilfe. Da trat ein feiner, ehrbarer Herr zu ihm, dem Ansehen nach ein Bürger aus der Stadt. Er fragte, was geschehen sei, und löste ihm die Fesseln. Dann begleitete er den Geschundenen nach Hirschberg bis zur Herberge. Dort reichte der ehrbare Herr ihm noch einen Zehrpfennig und verabschiedete sich.
Der Israelit staunte nicht schlecht, als er in der Herberge seinen Räuber am Zechtisch erblickte. Frei und unbefangen saß er da, wie ein Mensch, der sich nichts vorwerfen musste. Der Geselle hatte einen Schoppen Landwein vor sich, trieb Scherze mit seinen Zechbrüdern, und neben ihm lag der Säckel, in dem das geraubte Geld und das Geschmeide verschwunden waren. Der bestürzte Israelit wusste nicht, ob er seinen Augen trauen sollte. Er glaubte aber nicht, sich zu irren. Darum ging er wieder zur Tür hinaus und brachte den Diebstahl beim Richter zur Anzeige.
Die Hirschberger Justiz stand damals in dem Ruf, dass sie schnell arbeitete, wenn es was zu verdienen gab. Wenn es aber darum ging, der Pflicht Genüge zu tun, geschah dieses eher im Schneckengang. Der erfahrene Israelit wusste dieses und drängte den unentschlossenen Richter, die Klage niederzuschreiben. Und mit der Aussicht auf Belohnung ließ sich der Richter sogar dazu herab, einen sofortigen Haftbefehl auszustellen. Die Häscher bewaffneten sich also mit Spießen und Stangen und umringten die Herberge. Sie griffen den unschuldigen Verbrecher und führten ihn vor die Schranken der Ratsstube, wo sich die weisen Schöffen schon versammelt hatten.
"Wer bist du?", fragte der Stadtrichter ernst, als der Angeklagte hereintrat. "Und woher kommst du?" Der Geselle antwortete freimütig und unerschrocken: "Ich bin ein ehrlicher Schneider, Benedix genannt. Ich komme von Liebenau und stehe hier in Arbeit bei meinem Meister." "Hast du nicht diesen Juden im Wald überfallen, übel geschlagen, gebunden und seine wertvolle Habe beraubt?" "Diesen Juden habe ich noch nie mit Augen gesehen", erwiderte der Geselle. "Ich bin ein ehrlicher Zünftler und kein Straßenräuber." "Womit kannst du deine Ehrlichkeit beweisen?" "Mit meiner Kundschaft und dem Zeugnis meines guten Gewissens."
Benedix öffnete seinen Säckel, denn er wusste wohl, dass darin nichts als sein Eigentum war. Doch wie er ihn ausleerte, klingelte es nur so vor Geld und Geschmeide. Der erfreute Jude sah es und forderte sogleich sein Eigentum zurück. Wie vom Blitz getroffen stand der überführte Wicht nun da und wollte vor Schrecken niedersinken. Seine Nase war bleich, die Lippen bebten, die Beine wankten, und er sprach kein Wort.
Die Stirn des Richters verfinsterte sich, und eine drohender Wink ließ nichts Gutes erwarten. "Was nun, Bösewicht!", donnerte er. "Willst du immer noch den Raub verleugnen?" "Erbarmen, Herr Richter!", winselte der Beschuldigte und fiel auf die Knie. "Alle Heiligen im Himmel rufe ich als Zeugen an, dass ich unschuldig bin. Ich weiß nicht, wie die Habe des Juden in meinen Säckel gekommen ist." "Du bist überführt", sprach der Richter. "Tue Gott und dir selbst die Ehre und bekenne freiwillig deine Schuld, bevor der Peiniger kommt, und dir das Geständnis abfoltert."
Der verängstigte Benedix konnte nichts tun, als auf seine Unschuld pochen, aber er predigte tauben Ohren. Der Kriminalprozess wurde nun kurzerhand zu Ende geführt. Richter und Schöffen verurteilten den Schneider zum Strang. Dieser Rechtsspruch sollte als Zeichen einer schnellen Justiz und zur Einsparung von Gefängniskosten gleich am nächsten Morgen vollzogen werden.
Alle Zuschauer, die das überschnelle Halsgericht herbeilockte, fanden das Urteil gerecht und billig. Doch keiner rief den Richtern größeren Beifall zu, als der Mann, der dem Juden nach dem Überfall geholfen hatte. Dieser Menschenfreund, der mit unsichtbarer Hand des Juden Gold in des Schneiders Säckel gesteckt hatte war kein anderer als Rübezahl selbst. Schon am frühen Morgen lauerte er am Hochgericht in Rabengestalt auf den Leichenzug. Es regte sich bereits der Rabenappetit in ihm, wollte er dem neuen Ankömmling doch die Augen aushacken.
Der fromme Ordensbruder, der den Übeltäter im Kerker auf den Tod vorbereitete, hielt den unwissenden Benedix für einen wüsten Klotz. Aus ihm würde er in so kurzer Zeit keinen Gläubigen oder gar einen Heiligen mehr machen. Darum bat der Ordensbruder das Gericht um einen Aufschub von drei Tagen, den er unter Androhung des Kirchenbannes auch erzwang.
Rübezahl hörte davon und flog derweil ins Gebirge, um den Tag seiner Rache zu erwarten. In dieser Zeit durchstrich er wie gewohnt die Wälder und erblickte auf seinen Streifzügen eine junge Magd, die sich unter einen Baum gelagert hatte. Ihr Haupt war tief gesenkt. Von Zeit zu Zeit verwischte sie eine herabrollende Träne an den Wangen und seufzte. Der Berggeist war von den jungfräulichen Tränen so gerührt, dass er sein eigenes Gesetz vergaß, das ihm die Menschenkunde versagte. Er empfand sein Mitleid als ein wohltuendes Gefühl und beschloss, die Schöne zu trösten.
Der Berggeist nahm wieder die Gestalt eines achtbaren Bürgers an, trat der jungen Magd freundlich entgegen und sprach: "Mägdlein, was trauerst du hier in der Einsamkeit? Sage mir, wie dir zu helfen ist." Die Schöne schreckte auf, als sie die fremde Stimme hörte, schaute ihn an und sprach: "Was kümmert Euch mein Schmerz, guter Mann, Ich bin eine Mörderin, denn ich habe den Mann meines Herzens gemordet und will nun dafür büßen, bis mir der Tod das Herz zerbricht." Der ehrbare Mann staunte. "Du eine Mörderin?", rief er, "Unmöglich! Zwar sind die Menschen zu allerlei Ränken und Bosheiten fähig, aber bei dir ist es mir ein Rätsel." "Dann sollt Ihr es erfahren", erwiderte die betrübte Magd.
"Ich hatte von Jugend an einen Freund, den Sohn einer ehrbaren Witwe. Er war so lieb und gut, so treu und standhaft, das ich ihm ewige Treue gelobte. Ach, ich habe das Herz des Jungen vergiftet, habe ihn zu einer Übeltat verleitet." "Du?", rief der Berggeist abwehrend. "Ja, Herr", sprach sie, "ich bin seine Mörderin. Ich habe ihn gereizt, einen Straßenraub zu begehen und einen Juden auszuplündern. Da haben ihn die Herren von Hirschberg gegriffen, den Strang über ihn verhängt, und oh Herzeleid! Schon Morgen wird es geschehen!"
"Aber warum ist denn nun deine Schuld?" "Ach, Herr! Er zog auf Wanderschaft übers Gebirge. Als er beim Abschied an meinem Halse hing, sprach er zu mir, ich solle ihm treu bleiben. Zur dritten Blüte der Apfelbäume wollte er wieder heimkehren und mich zu seinem Weibe machen. Nun blühen die Apfelbäume zum dritten Male und Benedix ist wirklich zurückgekehrt. Ich aber neckte und verspottete ihn, wie es die Mädchen oft mit ihren Freiern tun. Ich sagte ihm, dass ich sein Weib nicht werden könne, denn er habe ja weder Haus noch Herd.
Da war er sehr betrübt und meinte: Wenn mir der Sinn nur nach Geld und Gut stehe, dann wäre ich nicht das Mädchen, das er einst liebte. Drei Jahre hätte er mit Sehnsucht auf das Wiedersehen gewartet, um mich endlich heimzuführen. Er flehte mich an, es noch einmal zu überdenken, doch ich blieb fest bei meinem Sinn. Ich sprach zu ihm, er solle Gut und Geld erwerben, dann würde ich gerne an seiner Seite bleiben. Benedix willigte schließlich ein und sprach, er wolle laufen, rennen, betteln, stehlen, borgen, bis er das Geforderte erfüllen könne. So habe ich ihn betört, den armen Benedix. Er ging übel gelaunt davon, und in dieser Zeit muss ihn sein guter Engel verlassen haben."
Der ehrsame Mann schüttelte den Kopf über diese Rede und sprach:
"Warum erfüllst du nur den leeren Wald mit deiner Wehklage, wo es niemand
nützen kann?"
"Lieber Herr", erwiderte sie, "ich war schon auf dem Wege nach
Hirschberg. Doch der Jammer wollte mir das Herz zerdrücken, darum lief ich zu
diesem Baume hier." "Und was willst du in Hirschberg tun?"
"Ich will dem Blutrichter zu Füßen fallen, will mit meinem Klaggeschrei
die Stadt erfüllen. Sollte es mir aber nicht gelingen, meinen Liebsten dem Tode
zu entreißen, will ich mit ihm sterben."
Der Berggeist war durch diese Rede so bewegt, dass er seine Rache ganz vergaß. "Trockne deine Tränen", sprach er mit sanfter Stimme. "Noch bevor die Sonne untergeht, soll dein Auserwählter frei sein. Morgen um das erste Hahnengeschrei sei wachsam und horche. Wenn ein Finger ans Fenster klopft, so öffne die Tür zu deinem Kämmerlein. Es ist dein Benedix, der vor dir stehen wird. Und hüte dich davor, ihn wieder durch deinen spröden Sinn zu verprellen. Denn wisse, er hat das Bubenstück nicht begangen, das alle ihm vorwerfen."
Die junge Magd war sehr verwundert über diese Rede und sah dem ehrbaren Herrn tief in die Augen, doch sie fand kein Anzeichen für Falschheit und gewann Zutrauen. Ihr Gesicht hellte sich auf und sie sprach: "Lieber Herr, wenn Ihr mich nicht verspottet, so müsst Ihr ein Seher oder der gute Engel sein. Wie sonst könntet Ihr das alles wissen?" "Ein guter Engel?", wehrte rief der Berggeist ab. "Nein, der bin ich wahrlich nicht. Aber ich kann es werden, und du sollst es erfahren! Ich bin ein Bürger aus Hirschberg, habe mit zu Rate gesessen, als der arme Sünder verurteilt wurde. Seine Unschuld wird schon bald ans Licht gebracht, darum fürchte nicht um sein Leben und kehre heim in Frieden." Die junge Schöne gehorchte und machte sich alsbald auf den Weg.
Der Ordensbruder hatte derweil den Schneider gehörig bearbeitet, um seine arme Seele der Hölle zu entreißen. Denn der gute Benedix war ein unwissender Laie, der um Nadel und Schere ungleich besseren Bescheid wusste als um den Rosenkranz. Den Engelgruß und das Paternoster brachte er stets durcheinander, und vom Credo wusste er keine Silbe. Der eifrige Mönch hatte alle Mühe, ihm das Letztere zu lehren. Darum fand der fromme Bruder es auch angebracht, dem verlorenen Schaf die Hölle recht heiß zu machen. Es gelang ihm so gut, dass der verängstigte Benedix kalten Todesschweiß schwitzte und zur Freude seines Bekehrers selbst sein Liebste vergaß. Die angedrohten Qualen in der Hölle folterten ihn so unablässig, dass er nichts als gehörnte Teufel vor Augen sah, die mit Harken und Hacken die nackten Scharen verdammter Seelen in den Rachen des höllischen Feuerschlundes schaufelten.
Als der unerbittliche Mönch dann endlich den Kerker verließ, war der Berggeist unsichtbar zur Stelle und überlegte, wie er sein Vorhaben angehen sollte. In diesem Augenblick fiel ihm etwas ein, das so recht nach seinem Sinne war. Er schlich dem Mönch ins Kloster nach, stahl aus der Kleiderkammer ein Gewand, fuhr hinein und begab sich in der Gestalt des Ordensbruders zum Gefängnis, wo man ihm bereitwillig öffnete.
"Das Heil deiner Seele treibt mich nochmals hierher", sprach er zu dem Gefangenen. "Sage an, mein Sohn, was hast du noch auf dem Herzen, damit ich dich trösten kann." "Ehrwürdiger Vater", antwortete Benedix, "mein Gewissen beißt mich nicht, aber das Fegefeuer presst mir das Herz zusammen, als läge es zwischen den Daumenstöcken." Der Berggeist war in kirchlichen Dingen nicht besonders sattelfest und rief: "Du Narr! Wenn dir das Bad zu heiß ist, dann halte dich davon fern." Benedix schaute dem Pfaffen so verwirrt ins Gesicht, dass dieser seine Ungeschicklichkeit bemerkte. Er räusperte sich kurz und sprach: "Davon ein andermal. Nun sage mir, ob du auch noch an dein liebes Klärchen denkst? Liebst du sie immer noch wie eine Braut? Und hast du ihr noch etwas zu sagen, so vertraue es mir an."
Benedix staunte bei diesem Namen noch mehr. Der Gedanke an seine Liebste war auf einmal wieder da und trieb ihm die Tränen in die Augen. Da beschloss der Berggeist, dem Spiel ein Ende zu bereiten. "Armer Benedix", sprach er, "gib dich zufrieden und sei unverzagt. Du sollst nicht sterben. Ich habe in Erfahrung gebracht, dass du unschuldig bist, darum bin ich gekommen, dich aus dem Kerker zu befreien." Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und befreite den Häftling von seinen Fesseln. Darauf wechselten sie die Kleider und der Pfaffe sprach: "Gehe langsam wie ein frommer Mönch durch die Schar der Wächter und durch die Straßen, bis du die Stadt verlassen hast. Dann schreite rüstig zu, bis du in Liebenau vor Klärchens Tür stehst. Klopfe leise an, und deine Braut wird dir gerne öffnen."
Der gute Benedix glaubte, das alles nur ein Traum sei, rieb sich die Augen und zwickte sich in die Arme und Waden. Der hilfreiche Pfaffe trieb ihn aber zur Eile an. Mit wankenden Knien schritt der Freigelassene über die Schwelle seines Kerkers und fürchtete, erkannt zu werden. Aber sein ehrwürdiger Rock gab ihm den Wohlgeruch von Frömmigkeit und Tugend, sodass die Wächter nichts merkten.
Klärchen saß indes einsam in ihrem Kämmerlein und horchte auf jeden Fußtritt eines Vorübergehenden. Da pochte es dreimal leise an ihrem Fenster. Sie sprang auf, tat einen lauten Schrei, denn eine Stimme flüsterte durch die Luke: "Liebste, bist du wach?" Husch, war sie an die Tür und sprach: "Ach Benedix, bist du es selbst oder ist es dein Geist?" Wie sie aber den Bruder Graurock erblickte, sank sie zurück und erstarb vor Entsetzen. Da umschlang sie ein sanfter treuer Arm, und der Kuss der Liebe brachte sie bald ins Leben zurück. Darauf segneten beide den edelmütigen Wohltäter, verließen ihre Vaterstadt und zogen gen Prag, wo Meister Benedix mit Klärchen, seinem Weibe, lange Jahre als ein geachteter Mann in friedlicher Ehe und mit reichem Kindersegen lebte.
In der frühen Morgenstunde, da Klärchen mit ungeduldiger Freude noch das Klopfen ihres Bräutigams erwartete, klopfte auch in Hirschberg ein Finger an die Türe des Gefängnisses. Es war der wahre Ordenbruder, der den Anbruch des Tages kaum erwarten konnte. Nun wollte er die Bekehrung des armen Sünders vollenden und ihn als einen Heiligen dem Henker übergeben. Der Häftling schien den Tod mit Fassung zu tragen, und der fromme Mönch freute sich darüber. Diese Standhaftigkeit sah er als gesegnete Frucht seiner Arbeit an und sprach: "So viele Menschen du bei deiner Hinrichtung erblicken wirst, so viele Engel stehen schon bereit. Sie werden deine Seele in Empfang nehmen und sie in das schöne Paradies führen."
Darauf ließ er dem Gefangenen die Fesseln abnehmen, denn er wollte die Beichte hören und die Absolution erteilen. Doch da kam es ihm in den Sinn, die Lektion vom vorherigen Tag noch einmal zu wiederholen, damit der arme Sünder unterm Galgen sein Glaubensbekenntnis aufsagen konnte. Wie erschrak der Ordensmann, als er merkte, dass der Verurteilte sein Credo in der Nacht von vorne bis hinten ausgeschwitzt hatte! Dafür gab es nur eine Erklärung: Der Satan musste mit im Spiele sein. Der Ordensbruder fing auch kräftig an, den Teufel zu beschwören, aber das Credo ließ sich nicht in den hohlen Kopf des Übeltäters zwängen.
Die Zeit schritt voran, und das hohe Gericht entschied, dass es nun die rechte Stunde sei, den Leib des Verurteilten zu töten. Der Berggeist wurde nun als ein verstockter Sünder vorgeführt und unterwarf sich willig allen Formalitäten. Wie er von der Leiter gestoßen wurde, zappelte er nach Herzenslust am Strange und trieb das Spiel so arg, dass sogar dem Henker übel wurde. Plötzlich erhob sich ein großes Getöse im Volk und einige schrieen, man solle den Henker steinigen, weil er den armen Sünder über Gebühr martere. Da streckte sich Rübezahl ganz lang, um weiteres Unglück zu verhüten. Er stellte sich einfach tot, bis sich die Leute verlaufen hatten.
Als dann aber doch noch einige Leute nach dem Gehenkten schauen wollten, fing der Scherztreiber am Galgen sein Spiel von neuem an und erschreckte die Beschauer durch fürchterliche Grimassen. So lief dann auch am Abend schon ein Gerücht in der Stadt herum, der Gehenkte könne nicht sterben und tanze noch immer munter am Hochgericht.
Am nächsten Morgens kamen in aller Frühe die Abgeordneten der Stadt, um die Sache genauer zu untersuchen. Sie fanden nur ein Häuflein Stroh am Galgen, mit alten Lumpen bedeckt, wie man es für gewöhnlich in die Erbsen stellt, um die Spatzen zu vertreiben. In aller Stille ließen die Herren von Hirschberg den Strohbalg abnehmen und verstreuten überall das Gerücht, der Wind habe in der Nacht den leichten Schneider vom Galgen über die Grenze geweht.