Ödipus, der Überfall
- Autor: Schwab, Gustav
Theseus, der König von Athen, hatte dem blinden Ödipus erlaubt, zusammen mit seinen Töchtern im heiligen Hain von Kolonos zu bleiben.
Ganz in der Nähe lag eine kleines Dorf. Den Bewohnern kam aber schon bald zu Ohren, dass der gestürzte König Kreon von Theben [1] mit Bewaffneten im Anmarsch war. "Ihr seid wohl von meinem Erscheinen überrascht", sprach dieser zu den versammelten Dorfbewohnern, "doch habt keine Sorge und zürnet nicht! Ich bin nicht so jung und übermütig, gegen euren König Theseus einen Kampf zu wagen. Ich bin ein Greis, der nur gesandt wurde, um Ödipus in Güte zu überreden. Er ist mein Schwager, und das Volk von Theben wünscht seine Rückkehr in die alte Heimat."
Dann wendete sich Kreon an seinen Schwager Ödipus und redete mit lobpreisenden Worten auf ihn und seine Töchter ein. Ödipus aber erhob drohend seinen Stab. Dies tat er als Zeichen, dass Kreon ihm nicht näher kommen sollte. "Du Schamlosester aller Betrüger!", rief Ödipus. "Das fehlte noch zu meinem Unglück, dass du hierher kommst und mich gefangen nimmst! Ich werde nicht zu euch kommen, aber den Dämon der Rache werde ich euch senden. Und meine beiden Söhne, die so schamlos nach dem Throne von Theben trachten, sollen nur so viel Boden besitzen, um sterbend darauf zu liegen!"
Kreon wollte nun versuchen, Ödipus in seine Gewalt zu bringen. Doch die Dorfbewohner stellten sich gegen ihn und beriefen sich dabei auf ihren König Theseus. In dem folgenden Getümmel gelang es den Thebanern, die beiden Töchter von Ödipus zu ergreifen. Diese schleppten sie fort. Kreon aber sprach: "Deinen Stab habe ich dir wenigstens entrissen. Versuche es nur, du armseliger Blinder, und wandere weiter!"
Der Erfolg machte Kreon jetzt kühner. Er ging noch einmal mit seinen Kriegerschar auf Ödipus zu und legte Hand an ihn. Jetzt war es König Theseus selbst, der Einhalt gebot. Er war von dem bewaffneten Einfall unterrichtet worden und herbeigeeilt.
Als Theseus nun hörte und sah, was geschehen war, schickte er einen Teil seiner Männer zu Fuß und zu Rosse aus, um die Töchter von Ödipus zu befreien. Dem Kreon sagte er, seine Freilassung werde nur dann erfolgen, wenn die Töchter unbeschadet zurückkehren könnten.
"Erhabener Theseus", antwortete der beschämte Kreon, "ich bin wahrlich nicht gekommen, dich und deine Stadt zu bekriegen. Wie sollte ich wissen, dass deine Mitbürger solch einen Eifer für meinen blinden Verwandten an den Tag legen. Wie konnte ich ahnen, dass deine Mitbürger den Vatermörder, den Gatten seiner Mutter, lieber bei sich sehen, statt ihn in sein Vaterland zu entlassen!"
Damit war es genug der Worte. Theseus befahl Kreon zu schweigen. Und es verging nur eine kurze Zeit, da waren die flüchtigen Thebaner aufgespürt und die beiden Töchter in die Arme von Ödipus zurückgeführt. So konnte der ehrenhafte Theseus auch sein Versprechen halten und ließ Kreon mit all seinen Männern heimwärts ziehen.
Erklärungen:
[1] Theben ist eine Stadt in der griechischen Landschaft Böotien gewesen.