Ödipus, Ende der Wanderschaft

  • Autor: Schwab, Gustav

Nach langer Wanderung kam der blinde Ödipus mit seiner Tochter Antigone in einen Hain mit anmutigen Bäumen, der nahe bei einem Dorfe stand. Nachtigallen flatterten durch das Gebüsch und sangen mit süßem Schall. Rebenblüten dufteten und die rauen Felsstücke waren mit Oliven- und Lorbeerbäumen überkleidet. Auch der blinde Ödipus spürte das Besondere und entnahm den Worten seiner Tochter, dass hier ein geheiligter Ort sein müsse.

In der Ferne stiegen die mächtigen Türme einer Stadt auf. Es war Athen, wie Antigone von Fremden erfahren hatte. Müde von der langen Wegstrecke setzte sich Ödipus auf ein Felsstück. Da kam ein Bewohner aus dem nahen Dorf vorüber und forderte ihn auf, diesen Sitz zu verlassen. Der Boden sei geheiligt und dulde kein fremdes Betreten. So erfuhren Ödipus und Antigone, dass sie im Haine von Kolonos waren, wo die Athener die Erinyen [1] verehrten.

Nun erkannte Ödipus, dass er das Ziel seiner Wanderung erreicht hatte und das Ende seines Ungemachs nahte. Die Worte von Ödipus machten den Mann aus dem Dorfe nachdenklich. Er wagte es jetzt nicht mehr, den Fremdling zu vertreiben und gab vor, er wolle den König des Landes unterrichten. "Wer gebietet denn hier?", fragte Ödipus, dem die Verhältnisse der Welt fremd geworden waren. "Kennst du den großen und edlen Theseus nicht?", fragte der Dorfbewohner. "Die ganze Welt ist doch voll von seinem Ruhm!"

"Wohlan", erwiderte Ödipus, "dann sei du mein Bote und bitte den König, mich hier an diesem Orte aufzusuchen. Für diese Gunst verspreche ich ihm großen Lohn." "Welche Wohltat könnte ein blinder Mann unserem König denn bieten?", rief der Bauer und lächelte mitleidig. Dann aber setzte er hinzu: "Du bist sonderbar, Fremdling! Wärest du nicht mit Blindheit geschlagen, so könnte mich dein edles Aussehen zwingen, dir Ehre zu erweisen. Darum will ich dein Verlangen erfüllen und dem König deine Bitte vortragen. Er mag dann entscheiden, ob du hier verweilen kannst oder dich entfernen sollst."

Als Ödipus mit seiner Tochter wieder alleine war, warf er sich zu Boden und richtete ein Gebet an die furchtbaren Töchter des Dunkels, die Erinyen: "Ihr Grauenvollen und doch Gnädigen", sprach Ödipus, "seid gnädig mit mir, ihr Kinder der Nacht. Und du, du ehrenwerte Stadt der Athene [2], habe Erbarmen mit dem Schattenbild von König Ödipus."

Doch es dauerte nicht lange, da war die Kunde vom blinden Manne allseits bekannt. Die Ältesten aus dem nahen Dorf versammelten sich um ihn, wollten sie die Entweihung des Ortes doch verhindern. Sie fürchteten den Zorn der Götter auf sich zu laden, wenn sie einen Mann hier duldeten, der vom Schicksal gezeichnet war. Ödipus aber bat sie inständig, ihn nicht zu verstoßen. Die Götter selbst hätten ihm dieses Ziel seiner Wanderung zugewiesen.

Während sie so miteinander sprachen, sah Antigone ein Mädchen auf einem kleinen Rosse heraneilen. Ein Diener, gleichfalls zu Rosse, folgte ihr. "Es ist meine jüngere Schwester Ismene", rief sie in freudigem Schrecken. "Gewiss bringt sie uns neue Kunde aus der Heimat!"

Ismene hatte sich mit einem einzigen Knechte von Theben [3] aufgemacht, um dem Vater Nachricht zu bringen. Die beiden Söhne von Ödipus waren in große, selbstverschuldete Not geraten. Anfangs hatten sie noch die Absicht, ihrem Onkel Kreon den Thron auf ewig zu überlassen. Das Verlangen nach Herrschaft und Königswürde wurde mit der Zeit aber stärker und weckte den Neid.

Polyneikes, der ältere Bruder von beiden, setzte sich zuerst auf den Thron. Damit gab sich Eteokles, der jüngere, nicht zufrieden. Er verführte das Volk von Theben, und stieß seinen Bruder Polyneikes vom Thron. Dieser floh zunächst aus dem Lande, verschaffte sich aber Bundesgenossen und bedrohte nun seine Vaterstadt mit Eroberung und Rache. Zu dieser Zeit war auch noch eine neue Weissagung der Götter bekannt geworden. Sie besagte, dass die beiden Söhne ohne ihren Vater Ödipus nichts erreichen könnten. Vielmehr sollten sie ihn suchen, wenn ihnen ihr Seelenheil lieb und teuer wäre.

All diese Nachrichten brachte Ismene ihrem Vater. Die Dorfbewohner horchten staunend, und Ödipus erhob sich von seinem Sitze: "Das ist also der Wille des Schicksals", sprach er mit königlicher Würde. "Bei einem Verbannten, einem Bettler suchen sie Hilfe? Jetzt, wo ich nichts bin, werde ich erst ein wichtiger Mann?" "So ist es", rief Ismene und sprach: "Vater, ihr müsst auch noch wissen, dass unser Onkel Kreon bald kommen wird, um eine Entscheidung herbeizuführen. Kreon will dich überreden oder sogar fangen, damit er dich an die Grenzen von Theben bringen kann. Dies will er tun, weil er Seite an Seite mit Bruder Eteokles steht."

"Von wem weißt du es?", fragte der Vater. "Von Opferpilgern, die zum Apollon [4] nach Delphi ziehen." "Und wenn ich mitgehe und dort sterbe", fragte Ödipus weiter, "werden sie mich in der Erde von Theben begraben?" "Nein", erwiderte Ismene, "das lässt deine Blutschuld nicht zu." "Wenn es denn so steht", rief Ödipus entrüstet, "werde ich mich nicht in ihre Hände begeben! Ist die Herrschsucht für meine beiden Söhne das Einzige, was sie kennen, dann soll keiner von ihnen sein Vaterland regieren!"

Nun wendete sich Ödipus wieder den Dorfbewohner zu. Er bat sie um Schutz und Beistand für seine Töchter, und auch für sich selbst.

Erklärungen:

[1] Die Erinyen sind die Rachegöttinnen. Sie verfolgen Mörder und Meineidige, und treiben diese mit ihrem fürchterlichen Anblick in den Wahnsinn. Bei den Römern sind es die Furien.

[2] Athene ist eine Tochter von Zeus. Sie ist die Göttin der Weisheit, steht aber für heldenhaften Kampf und Sieg. Das heilige Tier der Athene ist die Eule.

[3] Theben ist eine griechische Stadt, die rund 50 Kilometer nordwestlich von Athen liegt.

[4] Apollon, ein Sohn von Zeus, ist der Gott der Weissagung. Sein berühmtestes Orakel stand im griechischen Delphi.