König Fu-Fu
- Autor: Twain, Mark
Miles Hendon eilte über die Brücke zum Southwarkufer. Er hoffte, jeden Augenblick seinen kleinen Freund und dessen Entführer zu sehen. Doch trotz stundenlanger Suche blieb sein Unterfangen erfolglos. Mit wehen Beinen, hungrig und müde kam er abends zum Gasthof zurück. Er beschloss, zeitig zu Bett zu gehen und am nächsten Morgen frühzeitig ganz London zu abzusuchen.
Doch dann wälzte er sich schlaflos in seinem Bett und ließ die Geschehnisse noch einmal an sich vorüberziehen. Bestimmt würde der Knabe diesem gemeinen Kerl, der behauptete sein Vater zu sein, entfliehen wollen. Und ganz gewiss würde sein Weg dann nicht mehr nach London führen. Wen außer ihm, Miles Hendon, hatte er sonst als Freund? Niemand. Wahrscheinlich würde sein Freund nach Hendon Hall gehen. Gewiss.
Deshalb beschloss Miles Hendon, keine Zeit zu verlieren und direkt nach Hause zu wandern. Auf dem Weg würde er nach dem Jungen suchen.
Währenddessen führte der Ganove den kleinen König durch sämtliche Gassen Londons, bis er schließlich auf der Landstraße stand. Der böse Kerl, den der Hausknecht gesehen hatte, schloss sich den Beiden nicht wirklich an. Er verfolgte sie lediglich.
Auf der offenen Straße blieb der König stehen und befahl, Hendon möge sofort zu ihm kommen. Er sei nicht mehr gewillt, sich weiter schikanieren zu lassen. Doch der Bursche erzählte ihm, sein Freund läge verwundet im Wald. Da kehrten die Kräfte des kleinen Herrschers wieder und er rief: "Auf, worauf wartet Ihr. Verwundert ist er? Beeilt Euch!"
Schnell gelangten sie zum nahe gelegenen Wäldchen, in dem sein Freund liegen sollte. Sie kamen zu einer Lichtung, auf der Überreste eines abgebrannten Gehöftes standen. Eine halb verfallene Scheune stand ebenfalls da. Drückende Stille lag über dieser Lichtung und als der Bursche auf die Scheune zuging, überkam den kleinen König Ungeduld. Als er in der Scheune niemanden sehen konnte, fragte er ungehalten: "Und - wo ist er?"
"Sei still! Und tu nicht so, als ob du deinen Vater nicht erkennen könntest!", rief er grob.
Der kleine König widersprach ihm und rief: "Ich kenne Euch nicht! Und falls Ihr meinem Diener Böses zugefügt habt, sollt Ihr dafür büßen!"
Canty konnte sich fast nicht mehr beherrschen. Der Junge musste verrückt geworden sein. In diesem Zustand konnte er ihn kaum bestrafen. "Dein Geschwätz schadet hier niemandem. Ich selbst habe jemanden umgebracht und muss dringend weg von hier. Du wirst mit mir kommen. Ich heiße ab heute John Hobbs und du nennst dich Jack. Verstanden? Aber nun erkläre mir schleunigst, wo deine Mutter und deine Schwestern sind. Weshalb sind sie nicht hier, am verabredeten Treffpunkt?"
"Was soll dieses unverständliche Geschwafel?" erwiderte der kleine König. "Meine Mutter lebt nicht mehr und meine Schwestern leben im Westminster-Palast."
Höhnisches Gelächter schallte über die Lichtung. Während Hobbs und der Bursche Hugo sich leise besprachen, verzog sich der kleine König in die Ecke, um nachzudenken. Edward legte sich auf dem Stroh nieder und seine Gedanken wanderten zum Tode seines Vaters. Die ganze Nation hatte vor ihm ängstlich gezittert, doch ihm war er immer ein guter Vater gewesen. Erschöpft und weinend fiel er in einen tiefen Schlaf.
Als er Stunden später wieder erwachte, erschrak er an dem lodernden Feuer, das mitten in der Hütte brannte. Drumherum saßen zerlumpte Gestalten, Bettler und Gesindel jeden Alters. Inzwischen war es dunkel und die Bande befand sich mitten in einem Trinkgelage. Gerade ging ein Krug Schnaps von Mund zu Mund und bald darauf grölten alle und erzählten sich ihre niederträchtigen Abenteuer.
Es schien, dass Canty hier bekannt war. Er erzählte, wie er durch Zufall einen Mann getötet hatte, der zudem noch Priester gewesen war. Die anderen klatschten Beifall und schäumten über vor Freude. Canty fragte nach, wie viele Leute derzeit in der Bande seien. Der Anführer, von allen nur der "Kraftprotz" genannt, erklärte: "Fünfundzwanzig, wenn man zu den handfesten Schlägern noch die Weiber und Kinder dazuzählt." Ein Teil von uns ist bereits unterwegs ins Winterlager. Wir ziehen morgen nach.
Canty erkundigte sich nach einigen Namen. Die einen hatten den Sommer nicht überlebt, wieder andere hatten schlimme Narben davongetragen, die sie nun voller Stolz präsentierten. Einige Neue stellten sich vor. Alle vom grauenvollen Gesetze Englands betroffen, ihrer Frauen und Kinder beraubt, schuldlos in Armut geraten. Einer erzählte: "Ich bin ein englischer Sklave und meinem Herrn weggelaufen. Wenn sie mich finden, werde ich gehängt! Versteht Ihr - gehängt! Gottes Fluch soll auf allen Ländern liegen, die solche Gesetze haben."
Eine helle Stimme erklang aus dem düsteren Eck der Scheune: "Du wirst nicht hängen! Ab heute ist dieses Gesetz nicht mehr gültig."
Alle blickten überrascht in die Ecke, in der im Schein des Feuers wie durch ein Wunder der kleine König auftauchte. "Was ist denn das?", riefen die Bettler durcheinander.
Der Knabe stellte sich vor: "Ich bin Edward, König von England."
Das Gesindel lachte laut über diesen Witz. Der kleine König reagierte verletzt: "Ist das der Dank für die königliche Gnade? Plumpes Volk!" Zornig sprach er weiter, aber niemand hörte mehr zu. John Hobbs versuchte, die Leute zu beruhigen. "Leute, mein Sohn ist ein Träumer. Er ist so närrisch zu glauben, er wäre der König."
"Ich bin der König!", rief Edward. "Und du, du hast jemanden umgebracht - dafür wirst du hängen!"
"Was, du willst mich auffliegen lassen, die kleine niederträchtige Wanze ", entgegnete Hobbs. Doch bevor er zuschlagen konnte, mischte sich der "Kraftprotz" ein. Er verpasste Hobbs einen Schlag gegen die Brust und rief: "Wirst du wohl vor dem König Respekt zeigen, hä?" Und zu Edward meinte er beruhigend: "Du darfst niemandem drohen, Knabe. Wenn es deinem verwirrten Verstande dient, dann sei König. Aber richte keinen Schaden an. Weißt du, du darfst niemanden sagen, du seist der König - das wäre Hochverrat. Wir mögen zwar elende Kreaturen sein, aber unseren König würden wir nie beleidigen. Und weil wir treu und ergeben sind, trinken wir jetzt auf sein wohl. Lang lebe Edward, der König von England!"
Daraufhin erhoben alle ihre Gläser. Der kleine König strahlte und sagte mit bescheidener Würde: "Ihr seid ein gutes Volk. Danke!"
Das Gesindel wollte sich vor lauter Lachen gar nicht mehr beruhigen. Doch "Kraftprotz" versuchte Edward noch einmal zu erklären, dass er solche Aktionen unterlassen möge.
Ein Kesselflicker rief: "Fu-Fu der Erste, König der Banausen!" Die anderen lachten und riefen ebenfalls: "Lang lebe Fu-Fu der Erste!" Und bevor Edward richtig denken konnte, stand er auf einem umgestülpten Fass und starrte mit einem Zinnkrug als Krone und einer zerfetzten Decke als Umhang auf das Gesindel. Als Zepter diente der Lötkolben des Kesselflickers. Alle warfen sich auf die Knie und huldigten spottenderweise dem armen kleinen König. "Habt Erbarmen mit uns armen Würmern, Erlauchter! Geliebte Majestät, gebt uns einen königlichen Fußtritt!"
Die Bande wollte gar nicht mehr aufhören. Der kleine König spürte, wie ihm Tränen der Erniedrigung in die Augen stiegen. Als hätte ich ihnen ein großes Unrecht zugefügt. Dabei wollte ich lediglich nett zu ihnen sein, und das ist nun der Dank dafür!