Kagsaguk
Es war einmal ein Waisenknabe, der hieß Kagsaguk. Seine Pflegeeltern waren arme, aber gutmütige Leute. Sie lebten in einem Bretterverschlag, gar nicht weit weg von den Häusern der reichen Leute. Der armselige Brettervorschlag war viel zu klein, darum musste Kagsaguk am Türeingang zwischen den Hunden schlafen. So bekam er wenigstens etwas Wärme in den eisig kalten Nächten.
Wenn die Männer im Dorfe morgens die Schlittenhunde weckten, bekam Kagsaguk jedes Mal die Peitsche zu spüren. Er jaulte dann wie die Hunde vor Schmerz, worauf die Männer sich weitere Späße mit ihm erlaubten. Sie steckten ihre Finger in seine Nasenlöcher, um ihn hochzuheben, sodass die Nase mit der Zeit immer größer wurde. Auch gaben sie ihm gefrorenes Fleisch, das er ohne Messer gar nicht essen konnte. Und ein anderes Mal schlug ihm ein böser Mann sogar zwei Zähne aus und behauptete, der Junge würde viel zu viel essen.
Wenn Kagsaguk mit den anderen Kindern spielen wollte, warfen sie ihn gemeinsam auf den Boden und wälzten ihn im Schnee. Sie gaben ihm Ohrfeigen und Fußtritte und bewarfen ihn mit allerlei Schmutz, woran sich auch die Mädchen gerne beteiligten. So wurde der Junge von allen Seiten gequält und gehänselt, und konnte auch in seinem Wachstum den Anderen nicht mehr folgen.
§20 |
Alle Kinder haben das Recht, dort zu leben, wo es ihnen gut geht! Es gibt Kinder, die keine Eltern mehr haben und Kinder, die von ihren Eltern getrennt sind. Das ist sehr traurig. Diese Kinder brauchen besonderen Schutz und haben das Recht auf Hilfe. Darum muss sich auch der Staat darum kümmern, dass diese Kinder ein neues und gutes Zuhause finden. |
Eines Tages wanderte Kagsaguk ein Stück weit aus dem Dorf hinaus, um die Quälereien eine Zeit lang zu vergessen. Da begegnete ihm eine mächtige weiße Bärin. Der Junge fürchte sich und wollte weglaufen, aber das Ungeheuer ließ ihn nicht entkommen. Mit einem leichten Prankenschlag warf die Bärin Kagsaguk spielerisch zu Boden. Der Junge stand langsam wieder auf und die Bärin sprach: "Wenn du stark und kräftig werden willst, musst du jeden Tag mit mir ringen. Ich habe mein eigenes Kind verloren und wünsche mir ein wenig Gesellschaft. Dafür werde ich dir immer etwas Fleisch von meiner täglichen Beute geben." Kagsaguk war sehr froh, dass die Bärin ihn nicht fressen wollte und versprach nun jeden Tag zu kommen. Kaum war er aber im Dorf zurück, da musste er schon wieder die Quälereien der anderen Kinder ertragen.
Nun ging Kagsaguk jeden Tag hinaus vor das Dorf, um die weiße Bärin zu treffen. Sie rangen Stunde um Stunde miteinander, und der Junge spürte, wie die Kräfte in ihm wuchsen. Eines Tages gelang es ihm sogar, die mächtige Bärin niederzuringen. "Nun ist es genug!", rief die Bärin. Kein menschliches Wesen könnte dir jetzt noch widerstehen, auch wenn du es den Anderen nicht zeigen magst. Wenn aber der Winter kommt und das Meer gefriert, dann wirst du deine Kräfte gebrauchen müssen. Es werden drei wilde Bären kommen, die blutgierig nach deinem Leben trachten. Diese Bären musst du mit deinen eigenen Händen töten." Kagsaguk bedankte sich bei der Bärin und nahm Abschied von ihr. Dann lief er ins Dorf zurück, wo die Leute ihn wieder misshandelten.
Als der Winter hereinbrach, eilten die Männer des Dorfes plötzlich herbei. Sie meldeten aufgeregt, dass drei gewaltige Eisbären im Anmarsch wären. Niemand wagte hinauszugehen, um diese Ungeheuer anzugreifen. Jetzt war es Zeit für Kagsaguk, seine Kräfte den Anderen zu zeigen.
"Mutter", sprach er, "gib mir deine Stiefel. Ich will hinausgehen und die Bären aus der Ferne betrachten. Die Pflegemutter fand, es wäre keine gute Idee, doch sie gab ihm die Stiefel und sprach: "Mein Sohn, hüte dich vor den Ungeheuern, denn sie sind listig und stark. Und halte dich von ihren Pranken fern, sie können dich mit einem Schlage zerschmettern." Da lächelte Kagsaguk, nahm die Stiefel und eilte den Bären entgegen.
Die Leute im Dorf wunderten sich und riefen: "Was ist denn in den Jungen gefahren?" Und die Mädchen tuschelten: "Jetzt hat er auch noch den Verstand verloren!" Kagsaguk bahnte sich aber seinen Weg mitten durch die Leute, als wären sie ein Schwarm aus lauter kleinen Fischen. Mit langen Schritten eilte er zum Dorf hinaus, bis ihm der erste Bär begegnete. Dieser stellte sich sogleich auf den Hinterbeine, um mit seinen Pranken tödlich zuzuschlagen. Kagsaguk aber sprang vor und packte den Bären bei seinen Armen. Dann warf er ihn mit aller Macht kopfüber auf das Eis, worauf die Knochen des Bären furchtbar krachten. Kurz darauf kamen schon die ersten Männer aus dem Dorf gerannt. "So mache ich das mit üblen Gesellen!", rief Kagsaguk und hielt Ausschau nach den anderen Bären.
Die Männer staunten nicht schlecht und sprachen: "Der Junge hat nur Glück gehabt. Der nächste Bär wird ihn sicher zerfetzen." Kagsaguk wusste aber nur zu gut, wie er diese Ungeheuer bezwingen konnte. Er sprang den zweiten Bären einfach an, als dieser sich aufrichten wollte. Da fiel der Bär auf die Seite, worauf der Junge ihm mit einem Ruck den Hals umdrehte. Nun packte Kagsaguk den dritten Bären bei seinen Pranken und wirbelte ihn viele Male im Kreis herum. Dann ließ er los und schleuderte den Bären mit aller Macht den Männern aus dem Dorf entgegen. "Das ist der Lohn, weil ihr mich so schlecht behandelt habt!", rief Kagsaguk, und die Dorfbewohner flüchteten mit lauten Geschreie.
Kagsaguk zog jetzt den toten Bären ihre Felle ab, brachte sie seinen Pflegeeltern und sprach: "Diese Felle sollen euch in den kalten Nächten wärmen. Das Fleisch von den Bären werde ich auch noch holen, und die Not wird nun eine Ende haben."
Am Tag darauf waren alle im Dorf sehr höflich zu Kagsaguk. Er wurde in die Häuser der reichen Leute eingeladen. Einer sprach zu ihm: "Ich habe schöne Stiefel für dich." Ein Anderer wollte ihm neue Hosen geben, und die Mädchen machten ihm plötzlich schöne Augen.
Eines Abends war er bei einer vornehmen Familie zu Gast. Nach dem Abendbrot befahl der Hausherr seiner Tochter, Wasser für den tapferen Gast zu holen. Kagsaguk nahm ein Schluck und zog das Mädchen freundlich an sich. Doch dann drückte er plötzlich so stark zu, dass das Mädchen nicht mehr atmen konnte und Blut aus ihrer Nase kam. Kagsaguk ließ die Tote einfach niedersinken und sprach: "Das ist die Strafe für ihre Hänseleien!" Die Eltern aber sprachen: "Du hast Recht, unsere Tochter hat dir sehr geschadet." Später kamen die drei Söhne herein, und Kagsaguk zerquetschte einen nach dem anderen. Da wurden die Eltern leichenblass und wagten nichts mehr zu sagen.
So geschah es im ganzen Dorf, wobei Kagsaguk nur die armen Leute schonte. Er versorgte sie den ganzen Winter über mit Vorräten, doch dann wählte er sich die besten Boote, um auf dem Meer zu jagen. Mit der Zeit wagte er sich sogar auf die hohe See hinaus und fuhr von Küste zu Küste. Schon bald erzählte man sich überall von seinen Taten, aber Freunde hat Kagsaguk nie gefunden.