Kadmos

  • Autor: Schwab, Gustav

Kadmos, der Sohn des phönizischen Königs, hatte eine anmutige Schwester mit dem Namen Europa. Sie war so schön, dass Zeus [1] sich in einen Stier verwandelte, und sie entführte. Da schickte der phönizische König seinen beiden Söhne aus, um die verlorene Tochter zu suchen.

Kadmos wanderte mit seiner Schar von Dienern lange durch die Welt, konnte aber nicht das Geringste entdecken. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen schwand immer mehr, und er sah schon den Zorn des Vaters vor Augen. In seiner Not suchte er nun das Orakel des Apollon [2] auf. Dort wollte er in Erfahrung bringen, welches Land er zukünftig bewohnen sollte.

Und die göttliche Weisung lautete: "Du wirst einem Rind begegnen, das noch kein Joch [3] geduldet hat. Von diesem sollst du dich leiten lassen. Dort, wo das Rind im Grase ruhen wird, erbaue deine Mauern und nenne die Stadt Theben."

Kaum hatte Kadmos das Orakel verlassen, da sah er auf einer grünen Weide eine Kuh, die noch kein Zeichen der Dienstbarkeit um den Nacken trug. Lautlos folgte er den Spuren des Tieres mit bedächtigen Schritten. So waren sie schon weit über Land gekommen, als das Rind plötzlich auf der Stelle stand. Es reckte den Kopf hoch, erfüllte die Luft mit einem lauten Brüllen und kauerte sich im Grase nieder.

Voll des Dankes warf sich Kadmos auf die Knie und küsste die fremde Erde. Sogleich wollte er den Göttern ein Trankopfer darbringen und schickte seine Diener dazu aus. Sie sollten ihm frisches Wasser aus einer Quelle bringen.

Die Diener aber fanden ein altes Gehölz, das noch keine Menschenhand berührt hatte. Mitten darin war eine dunkle Felsenhöhle, aus der kristallklares Quellwasser strömte. Wie nun die Diener ihre Krüge füllten, streckte plötzlich ein Drache sein Haupt aus der Höhle. Die Augen des Drachen sprühten wie Feuer und seine riesigen Zähne waren zum Fürchten.

Die Diener ließen entsetzt ihre Krüge im Wasser treiben. Der riesige Drache aber machte sich bereit zum Sprünge, und schon war es um die Gefährten des Kadmos geschehen. Den ersten biss der Drache in Stücke, den zweiten erdrückte er mit seinem langen Schwanze, und die anderen Diener erstickten an seinem giftigen Atem.

Kadmos fragte sich, wo seine Diener geblieben waren und machte sich auf die Suche. Als er zu der Felshöhle kam, sah er die verstreuten Leiber, an denen das Untier noch leckte. "Ihr armen Genossen", rief Kadmos voller Jammer, "nun werde ich euer Rächer sein oder in den Tod euch folgen!"

Mit diesen Worten griff er ein riesiges Felsstück und warf es gegen den Drachen. Aber der Drache blieb unverwundet, denn seine harte Schuppenhaut war wie ein eiserner Panzer. Nun versuchte Kadmos es mit seinem Wurfspieß. Die stählerne Spitze schoss mit großer Wucht in den Leib des Drachen und drang tief in sein Eingeweide.

Mutig fügte Kadmos dem Drachen jetzt auch einen scharfen Schwertstreich zu, doch die Kräfte des Ungeheuers wollten nicht erlahmen. So tobte der Kampf immer weiter, bis Kadmos mit einen Lanzenstich in den Drachenhals die Oberhand gewann. Das Untier fiel im Sterben rückwärts gegen einen mächtigen Baum und fällte ihn mit seinem Gewichte.

Kadmos betrachtete noch lange den erlegten Drachen. Als er sich aber wieder umsah, stand Pallas Athene [4] an seiner Seite. Sie befahl ihm, die Zähne des Drachens herauszubrechen und in gelockertes Erdreich zu säen. Kadmos gehorchte der Göttin, wie ihm befohlen war. Doch kaum waren die Zähne eingesät, da rührte sich etwas in der Erde. Zuerst blickte nur die Spitze einer Lanze hervor, dann kam ein Helm mit farbigem Busch. Schon bald ragten Schultern, Brust und bewaffnete Arme heraus, und endlich war ein gerüsteter Krieger der Erde entwachsen. Dies geschah zugleich an vielen Orten der Saat, und eine ganze Schar bewaffneter Männer wuchs vor des Drachentöters Augen.

Kadmos erschrak und war darauf gefasst, mit einem neuen Feind zu kämpfen. Aber einer von den neuen Krieger rief ihm zu: "Halte dich fern von diesem Krieg, der nicht der Deine ist!"

Der Krieger nahm sein Schwert und schlug auf seine Brüder ein, die neben ihm aus der Erde gewachsen waren. Er selbst aber wurde von einen Wurfspieß niedergestreckt, der aus der Ferne geflogen kam. So tobte die ganze Kriegerschar in fürchterlichem Kampfe, und ihr Blut trank Mutter Erde.

Am Ende des Kampfes waren fünf Krieger noch am Leben. Einer von ihnen war Echion, der sich dem Willen der Athene beugte und die Waffen im Kampfgetümmel niederlegte. Diesem Beispiel folgten nur die vier Krieger, welche ebenfalls überlebten.

Mit Hilfe dieser fünf Krieger baute Kadmos jetzt seine neue Stadt Theben, wie das Orakel ihm befohlen hatte.

Erklärungen:

[1] Zeus ist der oberste Gott der Griechen, der Vater der Götterfamilie.

[2] Apollon, ein Sohn von Zeus, ist der Gott der Weissagung. Sein berühmtestes Orakel stand im griechischen Delphi.

[3] Das Joch ist eine Vorrichtung zum Anspannen von Rindern und Pferden.

[4] Athene ist eine Tochter von Zeus. Sie ist die Göttin der Weisheit, steht aber auch für heldenhaften Kampf und Sieg. Das heilige Tier der Athene ist die Eule.