Irkutsk
- Autor: Verne, Jules
Irkutsk, die Hauptstadt Ostsibiriens, zählt in Friedenszeiten ungefähr dreißigtausend Einwohner. Im Augenblick war sie jedoch durch Flüchtlinge aus der ganzen Provinz komplett überfüllt.
Die Stadt lag vollkommen isoliert am Ende der Welt. Vorräte an Lebensmitteln und Futter gab es ausreichend, denn seit der letzten Depesche aus Moskau war einige Zeit vergangen. Die Bürger arbeiteten Tag und Nacht, um ihre Stadt gegen die Feinde zu wappnen.
Schon acht Tage, bevor die ersten Tataren auftauchten, waren hohe Erdwälle aufgeschüttet und ein tiefer Wassergraben gezogen worden. Durch ihn wurde ein Teil der Angara geleitet.
Die dritte Tatarenarmee war bereits am 24. September vor Irkutsk erschienen. Sie besetzte die verlassenen Vororte. Nur einen Tag später rückten die Armeen des Emirs nach. Die völlige Eroberung der Stadt sollte nun schnell gelingen.
Aber Iwan Ogareff hatte nicht damit gerechnet, dass der Großfürst seine Stadt in erstaunlich kurzer Zeit in eine außerordentlich sichere Festung verwandelt hatte. So blieb ihnen vorerst nichts anderes übrig, als Irkutsk zu belagern.
Dieses Abwarten entsprach ganz und gar nicht seinem Charakter und so erinnerte sich Iwan Ogareff an seinen ursprünglichen Plan: Sich Zugang zur Stadt zur verschaffen und das Vertrauen des Großfürsten zu gewinnen, um dann zuzuschlagen.
Die Zigeunerin Sangarre, die nach wie vor an seiner Seite war, trieb ihn an, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Am 2. Oktober fand im großen Salon des Gouverneurspalastes unter der Leitung des Großfürsten eine Lagebesprechung statt.
Mit einem Großangriff der Tataren war jederzeit zu rechnen und jeder Bürger wurde gebraucht. Da machte der Bürgermeister den Vorschlag auch die Verbannten zu einer Armee zu vereinigen. Es seien tapfere Männer, die bereit waren für Russland zu kämpfen.
Dem Großfürsten gefiel die Idee, weil auch er, ganz wie sein Bruder den Kurs der großzügigen Justiz anstrebte. Der Bürgermeister hatte sogar einen konkreten Vorschlag, wer diese Armee befehlen sollte.
"Sein Name ist Wassili Fedor. Er lebt seit zwei Jahren in Irkutsk und hat sich durch Courage und guten Einfluss auf sein Umfeld ausgezeichnet."
Eine halbe Stunde später stand Wassili Fedor, Nadjas Vater, vor dem Großfürsten. Der ernannte ihn zum Hauptmann und entließ ihn und seine Gefolgsleute aus der Verbannung.
Dankbar drückte Wassili Fedor dem Großfürsten die Hand und ging. Er wollte kämpfen für sein Vaterland gegen die Tataren. Die Meldungen über die Invasion hatten ihn doppelt getroffen. Er wusste, dass Nadja nach dem Tod seiner geliebten Frau am 10. Juli in Riga abgereist war, um zu ihm zu kommen.
Die Invasion begann am 15. Juli. Wenn Nadja zu diesem Zeitpunkt schon Sibirien erreicht hatte, war sie bestimmt ein Opfer der Barbaren geworden.
Eben schlug es zehn Uhr. Der Großfürst wollte die Lagebesprechung für beendet erklären, als sich die Tür zum Salon öffnete und eine Palastwache meldete:
"Hoheit - ein Kurier des Zaren!"
Alle Anwesenden wandten sich der Tür hin. Ein Kurier des Zaren - in Irkutsk!
"Der Kurier soll kommen!"
Und dieser trat ein - völlig erschöpft in verdreckten und abgerissenen Kleidern eines sibirischen Bauern. Sein Gesicht trug blutige Schrammen, die noch nicht vollständig vernarbt waren.
"Hoheit - der Großfürst?", fragte er.
Der Großfürst ging ihm entgegen.
"Du bist der Kurier des Zaren?"
"Ja, Hoheit. Ich habe am 15. Juli Moskau verlassen. Mein Name ist Michael Strogoff."
Vor dem Großfürsten stand in Wahrheit Iwan Ogareff, der wieder einmal in eine Rolle geschlüpft war, um mit Verrat und List an sein Ziel zu kommen.
Er überreichte dem Großfürsten den Brief des Zaren. Dieser las ihn aufmerksam.
"Hast du den Brief gelesen?"
"Ja, Hoheit. Ich war in einer Lage, wo ich glaubte, ihn vernichten zu müssen."
"Dann weißt du, dass mein Bruder befiehlt, in Irkutsk eher zu sterben als zu kapitulieren?"
"Ja, das weiß ich."
Dann begann er, von seinen Erlebnissen zu berichten und vergaß dabei nicht, die schwierige Lage der Russen noch viel schlechter darzustellen.
"Vor den Toren von Irkutsk liegen alle tatarischen Armeen. Ich schätze es sind vierhunderttausend Mann - mindestens! Außerdem ist keine Hilfe von Westen zu erwarten!"
"Hör zu, Michael Strogoff. Auch wenn wir keine weiteren Truppen erwarten können: Irkutsk wird niemals aufgegeben!"
Eine viertel Stunde lang stand der Großfürst am Fenster und blickte auf die Angara hinunter. Dann nahm er den Brief erneut zur Hand.
"Du weißt, dass hier von einem Deserteur die Rede ist, vor dem ich mich in acht nehmen soll?"
"Ja, Hoheit. Dieser Iwan Ogareff soll geschworen haben, sich am Bruder des Zaren zu rächen."
"Warum das?"
"Man sagt, er sei vom Großfürsten persönlich degradiert worden."
"Ja, richtig - ich erinnere mich. Offenbar traf ich damals die richtige Entscheidung. Nun, Kurier, du hast deine Aufgabe vorbildlich gelöst. Du darfst einen Wunsch äußern."
"Ich möchte nur kämpfen - an der Seite Eurer Hoheit!"
"Das will ich dir nicht abschlagen. Du wirst hier im Palast wohnen und in meine persönlichen Dienste treten."
Der erste Auftritt in seiner neuen Rolle war Iwan Ogareff geglückt. Da er nun im Palast wohnte, hatte er die Lage völlig im Überblick. Nur durfte er keine Zeit verlieren, denn er wusste, dass die russischen Ersatzeinheiten nur noch wenige Tage brauchen würden, bis sie in Irkutsk eintrafen.
Gleich am nächsten Tag begann er damit gezielt und doch sparsam die Situation vor den Toren schwarzzumalen. Er versuchte die Lage so hoffnungslos wie möglich darzustellen, um den Leuten den Mut zu nehmen.
Dabei hatte er aber nicht mit dem Patriotismus der Bevölkerung gerechnet. Denn weder Garnison noch Bürger ließen sich von seinen Meldungen einschüchtern.
Im Verlauf der beiden folgenden Tage, des 3. und 4. Oktober, ließ der Großfürst den vermeintlichen Michael Strogoff mehrfach kommen und erkundigte sich bei ihm eingehend über alles, was er vor seiner Abreise von Moskau im Neuen Palais noch gesehen oder gehört hatte.
Iwan Ogareff fand auf jede Frage erstaunlich schnell eine Auskunft. In seiner freien Zeit begann er die Stadt genau zu studieren und kam zu dem Ergebnis, dass der schwächste Punkt das Tor von Bolchaia zu sein schien.
Dieses Tor war am einfachsten zu durchbrechen und der Weg in die Stadt damit frei. Sein Plan stand bald fest und musste nur noch den Tataren zugespielt werden. Dafür hatte er seine treu ergebene Sangarre. Sie setzte wieder einmal ihr Leben ein, um ihrem Gebieter zu helfen.
Er übergab ihr die Nachricht, dass in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober der Angriff auf die Stadt erfolgte. Außerdem sollten sich einige tausend Mann vor dem Tor von Bolchaia verschanzen.