In fernem Lande
- Autor: London, Jack
Wenn ein Mann sein bisheriges Leben in der gewohnten Zivilisation hinter sich lässt und in die wilde, primitive Einfachheit des Nordens zieht, muss er Gewohnheiten annehmen, die zu dem Leben in dem neuen Land passen, ansonsten wird er keinen Erfolg dort haben. Er wird bald entdecken, dass es dort einen großen Schatz gibt - die Kameradschaft!
Als man in der ganzen Welt vom arktischen Gold hörte und der Norden Macht über die Herzen der Menschen gewann, änderte auch Carter Weatherbee sein bisheriges Leben. Er ließ die Hälfte seines ersparten Geldes seiner Frau und verbrauchte den Rest für seine Ausrüstung. Er wagte alles in der Hoffnung auf einen großen Gewinn.
Zum Frühlingsanfang eilte er ach Edmonton und schloss sich dort einer Gesellschaft von Männern an. Diese wollten wie viele andere nach Klondike, aber auf einer ungewöhnlichen Route. Selbst die kühnsten Männer, die im Norden geboren und aufgewachsen waren, schnappten nach Luft, wenn sie den Weg auf der Karte sahen.
So auch John Baptiste. Er war ein Mischling, dessen Mutter eine Indianerin und der Vater ein Franzose waren. Er war im tiefsten Norden geboren, und obwohl er ihnen seine Dienste verkaufte und sich verpflichtete, wenn es sein solle, ins ewige Eis zu ziehen, schüttelte er doch unheilverkündend den Kopf, als man ihn um Rat fragte.
Auch Percy Cuthfert schloss sich dieser Gesellschaft an. Er war ein Mensch mit großem Bankkonto und hatte nicht den geringsten Grund, sich auf ein solches Wagnis einzulassen. Er litt aber an einer anomal entwickelten Sentimentalität und verwechselte diese Sache mit Abenteuerlust.
Die erste Frühlingsschmelze fand die Gesellschaft auf dem Elchfluss. Begleitet wurden ihr imposantes Boot sowie ihre kleineren Boote und Kanus von einer ganzen Anzahl von zerlumpten Reisenden mit Weib und Kind. Tag für Tag rackerten sie sich mit den Booten ab, schlugen sich mit Moskitos, schwitzten und fluchten über die Stromschnellen. Diese schwere Arbeit zeigte, was man von jedem Mann zu halten hatte.
Carter Weatherbee und Percy Cuthfert waren Drückeberger und murrten ewig. Alle übrigen beklagten sich nicht über die Anstrengungen und Mühen. Nicht ein einziges Mal meldeten sie sich freiwillig zu den vielen kleinen Pflichten im Lager, wie zum Beispiel einen Eimer Wasser holen, Brennholz schlagen oder Teller aufwaschen. Sie waren die ersten, die abends in ihren Schlafsack krochen, obwohl noch eine Menge Arbeit zu verrichten war. Sie waren aber auch die letzten, die morgens aufstanden, wenn man sich vor dem Frühstück zum Aufbruch bereitmachen sollte. Sie waren die ersten bei den Mahlzeiten und die letzten, die bei den Vorbereitungen dafür halfen. Manchmal vergriffen sie sich sogar an den Rationen der anderen.
Sie glaubten, dass niemand es bemerkt, aber ihre Kameraden fluchten leise und hassten sie schließlich. Nur Jacques Baptiste höhnte offen und verfluchte sie von morgens bis abends.
Am Großen Sklavensee kaufte man Hudson-Bai-Hunde. Als sie am Großen Barren ankamen, verschwanden die ersten ihrer ärmlichen Begleiter, gepackt von der Furcht vor dem Unbekannten, denen bald auch alle anderen folgten.
Schließlich zog Jacques Baptiste allein das große Boot an den Zugleinen die Strömung hinauf. Die fehlerhafte, zum größten Teil nach mündlichen Berichten gezeichnete Karte wurde jetzt oft befragt. Sie mussten sich beeilen, denn die Sonnenwende war schon vorbei, und der Winter näherte sich. Sie fuhren die Küste der Bucht entlang, wo der Mackenzie ins Eismeer strömt, und drangen dann durch die Mündung in den Kleinen Peel-Fluss ein.
Dort begann wieder die Mühe sich stromaufwärts zu arbeiten. Die Anstrengungen mit Leinen und Stangen, Paddeln und Tragriemen, Stromschnellen und Passagen waren schlimmer denn je. Die Männer erkannten, wie das Leben hier wirklich war.
Eines Tages meuterten die beiden Drückeberger, und als Jacques Baptiste sie gehörig zurechtwies, kehrten sie sich wie Giftschlangen gegen ihn. Daraufhin vermöbelte er sie und schickte sie zerschlagen und blutend an die Arbeit.
Der Wettlauf mit dem Winter begann. Schließlich vertäuten sie ihre Flotte an dem dicken Eis und schafften ihre Güter an Land. In der Nacht wurde das Flusseis immer wieder krachend zusammen gepresst.
Als die Männer zur Beratung beieinander saßen, sagte Sloper, indem er die Entfernung mit dem Daumennagel auf der Karte maß: "Wir können nicht weiter als vierhundert Meilen vom Yukon entfernt sein."
Jacques Baptiste vertrat die Meinung, dass es jetzt nicht zu schaffen sei. Sein Vater hatte sich auf einer solchen Tour mehrere Zehen erfroren.
Sloper erklärte weiter, dass es den Yukon hinauf dann noch etwa fünfhundert Meilen wären, also alles in allem gut tausend Meilen von hier.
Weatherbee und Cuthfert stöhnten im Chor.
"Wie lange brauchen wir dazu, Baptiste?"
Der Mischling rechnete einen Augenblick nach. "Wenn wir wie der Teufel arbeiten, und keiner sich drückt, zehn - zwanzig - dreißig - vierzig - fünfzig Tage."
Sie hatten Unterkunft in einer Hütte gefunden, die in der ungeheuren Einöde lag. Sie war verlassen, und niemand wusste, wer sie gebaut hatte. Zwei Gräber unter freiem Himmel mit Steinhaufen enthielten vielleicht das Geheimnis. Aber wer hatte die Steine aufgeschichtet?
Nun war der Augenblick gekommen, wo sie sich entscheiden mussten. Sloper stand auf.
"Wer dafür stimmt, dass wir mit den Hunden weiter ziehen, sobald das Eis sich setzt, sagt ja."
"Ja!", ertöte es von acht Stimmen.
"Und dagegen?"
"Nein!", ertönten die Stimmen der zwei Drückeberger.
"Was werdet ihr nun tun?", fragte Weatherbee.
"Wir werden weiterziehen", verkündete Sloper unter dem Beifall der meisten Männer.
"Und was wird dann aus uns?", fragte Cuthfert ängstlich.
"Tut was ihr wollt!"
Ein anderer sagte: "Beratet euch gegenseitig! Dein Freund Weatherbee wird dir schon sagen, wie du es machen musst, wenn du Essen kochen und Holz sammeln willst."
"Dann ist es also beschlossene Sache", stellte Sloper fest. "Morgen ziehen wir los und kampieren fünf Meilen von hier, nur um alles in Ordnung zu bringen und zu sehen, ob wir etwas vergessen haben."
Die Schlitten waren bereit, und die Hunde lagen flach im Geschirr. John Baptiste stand neben Sloper und warf einen letzten Blick auf die Hütte. Der Rauch quoll zum Schornstein heraus, und die beiden Drückeberger sahen ihnen nach.
Anfangs ging es ausgezeichnet in der kleinen Hütte. Sie wetteiferten miteinander und erfüllten ihre Pflichten bereitwillig. Im Wald, der sie umgab, war genügend Holz und frisches Wasser holten sie durch ein Loch im Eis vom Fluss.
Das Loch fror allerdings immer wieder zu, und sie brauchten eine Stunde, um es wieder aufzuhacken. Das wurde ihnen bald zuviel.
Auf der Rückseite der Hütte gab es einen Vorratsraum, in dem der Hauptvorrat der Gesellschaft aufbewahrt wurde. Es war genügend Nahrung.
Es gab mehr als genug Zucker. Die beiden mischten ihn mit warmem Wasser und tunkten ihre Pfannkuchen und ihr Brot in den weißen Sirup. Sie tranken viel Kaffee und Tee und aßen Dörrobst.
Es dauerte nicht lange, bis es zu den ersten Streitigkeiten kam. Außer dem Kampf ums Dasein hatten sie nichts gemeinsam. Weatherbee war Kontorist und hatte sein Leben lang nichts als Geschäftsbücher gekannt. Cuthfert war akademisch gebildet, malte etwas und hatte allerhand geschrieben. Der Kontorist erschien dem Akademiker wie ein schmutziges, unkultiviertes Tier, und das sagte er ihm auch. Dafür bekam er zu hören, dass er ein Muttersöhnchen sei.
So lebten sie meist schweigend nebeneinander und ignorierten sich. Dabei wurden sie immer fauler. Eines Tages beschlossen sie, dass jeder sein Essen allein zubereiten solle.
Als der Zucker und die anderen Leckereien zur Neige gingen, begann jeder zu fürchten, dass er nicht mehr genug erhalten würde. Sie stopften sich den Bauch voll bis zum Brechen. Aber die Männer ertrugen diese Fresserei nicht. Aus Mangel an frischem Gemüse und Bewegung wurde ihr Blut dick, und ekelhafte Blutknoten bildeten sich unter der Haut. Allerdings beachteten sie diese Warnung nicht. Das nächste war, dass ihre Muskeln und Gewebe anzuschwellen begannen, das Fleisch wurde schwarz, Mund, Kinn und Lippen wurden gelblich wie fette Sahne. Statt sich zu helfen, erfreute sich jeder an den Symptomen der Skorbut beim anderen.
Sie verloren jeden Sinn für ihr Äußeres und für Wohlanständigkeit. Haar und Bart wurden lang und wirr, und ihre Kleider hätten sogar den Abscheu eines Lumpensammlers erregt. Dazu kam, dass der Frost unerbittlich war, und der Herd viel Holz verschlang.
Und es kam noch eine neue Plage hinzu - der Schrecken des Nordens. Die Sonne glitt zum letzten Mal hinter den südlichen Horizont, und die Finsternis des Dezembers war geboren.
Weatherbee fiel abergläubischen Vorstellungen zum Opfer und beschwor Geister. Er sah sie in der Hütte und fühlte sie unter seiner Decke. Wenn sie seine Glieder berührten und ihm von kommenden Dingen ins Ohr flüsterten, hallte die Hütte wider von seinen entsetzten Schreien.
Cuthfert wusste nicht, was mit ihm war, denn sie sprachen nicht miteinander. Er glaubte, dass der andere verrückt wird und fürchtete um sein Leben. Oft saß er dann aufrecht im Bett, zitterte und richtete seinen Revolver auf den Träumenden.
Doch auch Cuthferts Phantasie hielt ihn zum Narren. Er erregte sich über eine Wetterfahne auf dem Dach der Hütte, die immer nach Süden zeigte. Er drehte sie in andere Richtungen, aber immer wieder nahm sie die gewohnte Stellung ein. Zuweilen folgte er der Richtung quer durch die Einöde. Er kämpfte sich durch den tiefen Schnee und verfolgte Spuren, die es nur in seiner Phantasie gab. Spätabends schleppte er sich auf Händen und Knien, mit erfrorenen Wangen und gefühllosen Füßen wieder in die Hütte.
Weatherbee grinste boshaft, bot ihm aber keine Hilfe an. Es stach wie Nadeln in den Zehen, und schließlich entzündeten sie sich.
Weatherbee hatte seine eigenen Sorgen. Die Geister kamen immer häufiger. Eines Nachts zogen sie ihn hinaus. In wildem Entsetzen erwachte er und floh in die Hütte. Er musste aber eine zeitlang draußen gelegen haben, denn auch seine Füße und Wangen waren erfroren.
Zuweilen machte ihn die ständige Anwesenheit der Toten ganz toll. Er tanzte in der Hütte herum, hieb mit einer Axt durch die Luft und zerschmetterte alles, was in seinen Bereich kam.
Während dieser Spukkämpfe verfolgte ihn Cuthfert mit gespanntem Revolver, bereit ihn niederzuschießen, wenn er ihm nahe käme. Einmal, als Weatherbee nach einem solchen Anfall erwachte, sah er die Waffe auf sich gerichtet. Von nun an beobachteten sie einander genau, jeder in ständiger Furcht, dem anderen den Rücken zu kehren.
Wegen ihrer Angst voreinander ließen sie stets die ganze Nacht die Tranlampe brennen und schliefen kaum noch. Bald sahen sie wie wilde, gejagte, verzweifelte Tiere aus. Ihre Wangen und Nasen waren erfroren gewesen und schwarz geworden. Die Zehen begannen beim ersten oder zweiten Gelenk abzufallen. Jede Bewegung bereitete Schmerzen.
Aber der Herd war unersättlich, das Feuer forderte neue Nahrung. Sie schleppten sich in den Wald und sammelten, auf den Knien rutschend, Holz. An einem Tag stießen sie dabei in einem Dickicht von zwei Seiten aufeinander. Sie starrten sich an und erkannten sich nicht. Sie sprangen auf, schrien vor Entsetzen und stürzten auf ihren kranken Füßen fort. Als sie vor der Tür der Hütte zusammenbrachen, erkannten sie ihren Irrtum.
Es gab zuweilen auch noch Augenblicke, in denen sie zu sich kamen. Dann teilten sie den Zucker in gerechte Teile. Jeder bewachte seinen Vorrat mit eifersüchtigen Blicken, denn es waren nur noch wenige Tassen voll übrig.
Eines Tages jedoch irrte sich Cuthfert. Krank vor Schmerzen und mit geblendeten Augen kroch er mit der Zuckerdose in der Hand in die Vorratskammer und verwechselte seinen Sack mit dem Weatherbees.
Gerade an diesem Tag, es war Anfang Januar, hatte die Sonne ihren tiefsten Stand im Süden passiert und warf jetzt blitzende Streifen gelben Lichtes über den Himmel. Als die Mittagszeit sich näherte und der Tag heller wurde, schleppten sie sich hinaus. Sie hatten Tränen in den Augen, als sie sich ansahen. Eine seltsame weiche Stimmung überkam sie, und zum ersten Mal dachten sie wieder an die Zukunft.
Dann kam der Moment, in dem Weatherbee in der Vorratskammer rumorte. Plötzlich stieß er einen Strom von Verwünschungen aus, der aber mit erschreckender Plötzlichkeit abbrach. In seinen Wahnvorstellungen waren die zwei Toten unter den Steinhaufen hervor gekrochen, führten ihn leise zum Holzstapel und legten ihm die Axt in die Hände. Dann halfen sie ihm, die Tür zur Hütte aufzuschieben.
Cuthfert war entsetzt über den Ausdruck im Gesicht des anderen. Der aber folgte ihm mit der Zielbewusstheit eines Menschen, der eine bestimmte Arbeit zu verrichten hat.
Cuthfert überlegte einen Augenblick, machte dann eine blitzschnelle Bewegung nach seinem Bett und griff nach seiner Waffe.Der Schuss traf Weatherbee gerade ins Gesicht, aber er schwang weiter seine Axt. Diese schnitt Cuthfert tief unten ins Rückgrat, und er spürte, wie jedes Gefühl in seinen unteren Gliedmaßen schwand. Da fiel der Kontorist über ihn und fasste mit schwachen Fingern nach seiner Kehle. Cuthfert fühlte seine Kräfte schwinden. Der untere Teil seines Körpers war unbrauchbar. Ob jemals einer seiner Freunde in der Heimat erfahren würde, was hier geschah? Was würden seine Freunde dazu sagen? Sie würden es wohl beim Kaffee lesen oder im Klub darüber sprechen.
Viele Gedanken gingen ihm im Kopf herum, bis er schließlich die Augen schloss und einschlief.