Henry Jekylls Erklärung - Teil 3
- Autor: Stevenson, Robert Louis
Doch alles gelangt zu einem Ende und auch das größte Maß wird einmal voll; genau dieser kurze Niedergang zum bösen Ende zerstörte mein innerstes Gleichgewicht vollends. Jedoch war ich keineswegs beunruhigt. Es schien mir, als kehrte ich zurück zu alten Zeiten, vor meiner Entdeckung.
An einem schönen klaren Januartag, der Himmel war wolkenlos, der Boden feucht von Tau, war der Regentspark voll von winterlichem Vogelgezwitscher und süßen Frühlingsdüften. Während ich im Sonnenschein auf einer Bank saß, leckte das Monster in meinem Inneren die Lippen und mein geistiges Ich schlummerte ein wenig vor sich hin. Die für später versprochene Reue war nichts als leere Gedanken.
Mein Verhalten glich dem meiner Mitmenschen, so schien es mir jedenfalls während ich lächelnd diesem Gedanken folgte, und maß meinen tatkräftigen guten Willen an der trägen Grausamkeit ihrer Unterlassungen. Just in dem Moment, als mich diese überheblichen Gedanken ereilten, überkam mich ein Schwächeanfall, der eine abscheuliche Übelkeit nach sich zog; Schüttelfrost durchlief meinen Körper. Als das vorüber war, saß ich zusammengesunken da und als die Schwäche nachließ, begann ich mir der veränderten Gedankengänge bewusst zu werden. In mir breitete sich Kühnheit aus, eine gewisse Missachtung von Gefahr und ich fühlte, wie die Fesseln der Pflicht von mir ließen.
Ich blickte an meinem Körper hinab: Formlos hing mein Anzug an meinen zusammengeschrumpften Gliedern. Die Hand auf meinem Knie war haarig und hatte hervortretende Adern. Ich war wieder Edward Hyde. Im Moment zuvor konnte ich mir der Achtung meiner Mitmenschen sicher sein, ich war reich, beliebt - zuhause stand ein gedeckter Tisch für mich bereit - und nun war ich plötzlich wieder gemeine Jagdbeute für die Mitmenschen, eine gehetzte, verrufene und heimatlose Bestie auf dem Weg zum Galgen.
Mein Verstand war erschüttert, ließ mich glücklicherweise nicht ganz im Stich. Bereits mehrmals hatte ich die Erfahrung gemacht, dass in meinem zweiten Ich all meine Fähigkeiten besonders ausgeprägt schienen und meine Geisteskräfte flexibel waren. So war dort, wo Jekyll eventuell versagt hätte, Hyde auf der Höhe seiner Fähigkeiten. Meine Medizin stand im Schrank im Arbeitszimmer. Wie konnte ich daran gelangen? An die Lösung dieses Problems machte ich mich jetzt.
Die Labortür war verschlossen. Wenn ich versuchen würde, ins Haus zu gelangen, würde mein Personal mich dem Galgen übergeben. Da fiel mir Lanyon ein: Er sollte meine helfende Hand werden. Wie aber sollte ich ihn erreichen und dazu noch überzeugen? Selbst wenn ich meiner Festnahme auf offener Straße entgehen könnte, wie sollte ich zu Lanyon vordringen? Und dann fiel mir ein, dass eine einzige Eigenschaft beiden Ichs gleich war: meine Handschrift. Kaum war dieser Geistesblitz gedacht, lag der Weg, dem ich folgen musste, offen vor mir.
Ich brachte meine Kleider so gut es ging in Ordnung, hielt eine Droschke an, die beliebig vorbeifuhr und ließ mich in ein Hotel in Portland Street bringen, an dessen Namen ich mich zufällig erinnerte. Bei meinem Anblick konnte der Kutscher seine Erheiterung kaum unterdrücken. Als ich wütend mit den Zähnen knirschte, erkaltete das Lächeln auf seinen Lippen. Ein Glück für ihn und für mich - im nächsten Moment hätte ich ihn nämlich vom Sitz gezerrt.
Als ich ins Hotel ging, blickte ich mit so finsterem Gesichtsausdruck, dass die Angestellten erzitterten. Sie wagten nicht einmal, in meiner Gegenwart Blicke zu wechseln. Unterwürfig führten sie mich in ein Gastzimmer und brachten mir Schreibzeug. Hyde in Lebensgefahr war für mich ein neues Erlebnis: unmäßiger Zorn ließ ihn beben, er war bereit zu neuem Mord, scharf darauf, Schmerz zu erzeugen.
Doch die Bestie Hyde war schlau und schaffte es unter größter Willensanstrengung, seine Wut zu kontrollieren. Er entwarf die Briefe an Lanyon und Poole und um ganz sicher zu sein, dass sie auch zur Post gelangen würden, schickte er die Briefe per Einschreiben auf den Weg.
Nägel kauend verbrachte er den Tag im Hotelzimmer neben dem Feuer; allein mit seinen Nöten, von einem zitternden Kellner bedient. Als die Nacht hereinbrach, wagte sich das Monster wieder mit der Droschke quer durch die Straßen der Stadt. "Es" muss ich sagen, nicht "Ich". Jene Bestie hatte nichts Menschliches an sich, lediglich Angst und Hass lebte in ihm und als Hyde glaubte, der Kutscher würde argwöhnisch werden, stieg er aus und wagte sich mit dem unordentlichen Anzug bekleidet als nächtlicher Spaziergänger weiter. In ihm tobte der Sturm seiner Leidenschaften. Im Selbstgespräch und von Furcht gehetzt schlich er durch die Gassen bis ihn nur noch Minuten vor der mitternächtlichen Stunde trennten. Eine Frau wagte es, ihm eine Schachtel Streichhölzer zum Kauf anzubieten. Er schlug ihr ins Gesicht, und sie floh.
Bei Lanyon kam ich wieder zu mir - das Entsetzen meines alten Freundes bewegte mich ein wenig, ich weiß es nicht. Höchstens ein kleiner Tropfen im Mehr des Ekels, wenn ich an diese Stunden zurückdachte. In mir hatte sich etwas verändert. Es war nicht länger die Angst vor dem Galgen, es war der Ekel, Hyde zu sein, der mich das Fürchten lehrte. Lanyons verurteilende Verdammung registrierte ich wie im Traum. So ging ich heim, legte mich zu Bett.
Nach dieser Anstrengung schlummerte ich fest und tief, nicht einmal die Alpträume unterbrachen meinen Schlaf. Geschwächt, zitternd aber zugleich erfrischt wachte ich am nächsten Morgen auf. Der Gedanke an das Monster in mir erfüllte mich mit Hass und furcht. Die Gefahren des Vortages hatte ich nicht vergessen. Aber daheim, in Reichweite meiner Medizin, kam Hoffnung und Zuversicht in mir auf.
Gemächlich schlenderte ich nach dem Frühstück über den Hof, sog die kühle Luft in mir auf, als ich neuerlich diese unbeschreiblichen Anzeichen fühlte, die die Verwandlung ankündigten. Gerade noch rechtzeitig erreichte ich mein Arbeitszimmer, als die Leidenschaften Hydes wieder Besitz von mir ergriffen. Um wieder mein sanftmütiges Ich zu erlangen, nahm ich gleich eine doppelte Dosis der Medizin.
Bereits acht Stunden später, als ich dasaß und traurig ins Kaminfeuer guckte, kamen die Leiden zurück und schon wieder musste die Medizin herhalten. Ab jenem Tage war es nur unter größten Bemühungen möglich, die Gestalt Jekylls zu halten. Tag und Nacht, zu jeder Stunde erfasste mich diese warnende Furcht. Egal ob ich schlief oder vor mich hin träumte - stets wachte ich als Hyde auf. Es war ein ständig schwebender Fluch, der sich über mich ausgebreitet hatte. Dieser Fluch zehrte an mir, machte aus mir eine von Hitze angegriffene Kreatur, schlaff und matt an Leib und Geist und stets in Furchtsamkeit vor mir selber schwebend. Wenn ich nicht gerade schlief, oder die Wirkung der Medizin nachließ, wurde mein Gemüt täglich mehr von einer mit grundlosem Hass überschäumenden Seele in einen Körper hinein gesogen, der nicht stark genug schien, diese tosenden Lebensenergien zu bändigen.
Je schwacher Jekyll wurde, um so mehr schienen die Kräfte Hydes überhand zu nehmen. Der gegenseitige Hass war wohl gleich stark bei beiden Gestalten. Jekyll hatte in seinem Überlebensinstinkt die Bösartigkeit seines zweiten Ichs erkannt, aber auch die wenigen Gemeinsamkeiten, durch die sie beide dem Tod ins Auge blickten. Dieses Band machte den quälendsten Teil der Schmerzen aus. Hyde empfand er als teuflisch, gar unnatürlich.
Es schien ihm fürchterlich, dass diese Bestie Stimmen und schreie erzeugen konnte, dass dieser formlose Staub sündigte und dass das, was tot war sich des Lebens bemächtigen sollte. Und dass dieses Monster ihm mehr verbunden war, als eine Ehefrau, fester in sein Wesen geprägt als sein Auge. Hyde lag ihm im Blut, er murrte und machte Anstrengungen, geboren zu werden. Jeder schwache Moment ließ das Monster siegen und stieß Jekyll aus dem Leben hinaus.
Der Hass Hyde gegenüber Jekyll war besonders, die Angst vor dem Galgen wollte ihn in den Selbstmord treiben, damit er zum untergeordneten Teil seines Ichs zurückkommen konnte. Auch verachtete Hyde die Mutlosigkeit, die Jekyll zwischenzeitlich überkommen hatte und er hasste die Abneigung, mit der er betrachtet wurde. Nicht umsonst spielte er sich lächerlich auf, indem er in Jekylls Handschrift Schlechtigkeit auf die Seiten der Bücher kritzelte, Briefe verbrannte und das Bild meines Vaters vernichtete. Und wäre nicht die Angst vor dem Tod gewesen, hätte er sich schon lange selbst gerichtet, um mich zu vernichten. Seine Liebe zum Leben ist bewundernswert. Gleichzeitig fürchtet er meine Macht sehr, wenn ich daran denke, durch Selbstmord auch ihm ein Ende zu bereiten; ja, dann fühle ich fast so etwas wie Mitleid mit ihm.
Die Zeit drängt und ich kann den Brief nicht verlängern. Noch nie musste jemand solche Qualen erdulden. Selbst für diese Pein erzeugte die Gewohnheit ein Maß an Gefühllosigkeit, ein gewisses verzweifeltes sich Abfinden und meine Bestrafung hätte womöglich noch länger gedauert, wenn nicht dieser letzte Unglücksfall über mich hereingebrochen wäre. Der Vorrat meines Salzes begann zu schwinden. Nach verzweifeltem Suchen habe ich den Trank neu mischen können, doch das Aufwallen nach der zweiten Färbung bleib aus. Ich trank den Sud, aber er zeigte keinerlei Wirkung. Poole wird dir bestätigen, wie ich ganz London abgesucht habe; vergeblich. Inzwischen bin ich fest davon überzeugt, dass mein erster Salzvorrat verunreinigt war. Und gerade diese unreine Mischung hat dem Trunk seine phänomenale Wirkung verliehen.
Das war vor einer Woche. Nun schließe ich meinen Bericht unter dem Einfluss des letzten ursprünglichen Pulvers. Falls kein Wunder geschieht, richtet sich Henry Jekyll ein letztes Mal mit seinen Gedanken an die Welt. Jekyll wird letztmals sein eigenes Antlitz im Spiegel sehen. Ich darf nicht zu lange zögern, muss die Zeilen beenden. Der Tatsache, dass mein Bericht bisher der Vernichtung entgangen ist, liegt das Zusammenwirken von Klugheit und Glück zugrunde. Sollte der reißende Schmerz während des Schreibens mich verwandeln, dann wird Hyde die Papiere in Stücke zerfetzen. Wenn jedoch einige Zeit verstreichen mag, nachdem ich sie aus der Hand gelegt habe, wird Hydes unglaublicher Egoismus und seine Beschränkung auf den Moment den Brief vor seiner grausamen Wut verschonen. Denn das Verhängnis, das uns beide bedroht, hat auch ihn bereits verwandelt und zu Boden gerissen.
In einer halben Stunde werde ich wieder jene schreckliche Persönlichkeit annehmen und das für immer. Dann werde ich weinend und fröstelnd in meinem Stuhl sitzen. Vielleicht werde ich auch angespannt und furchterfüllt in diesem Zimmer, meinem letzten Zufluchtsort, auf und ab rennen, auf jeden drohenden Laut achtend.
Nur Gott allein weiß, ob Hyde am Galgen enden wird oder ob er den Mut finden kann, sich im letzten Moment selbst zu befreien. Mich kümmert das nicht mehr. Dies ist meine wahre Todesstunde. Was danach folgt, berührt mich nicht mehr. Hier und jetzt, da ich den Stift niederlege und mich aufraffe, mein Bekenntnis zu versiegeln, beschließe ich das Leben des unglücklichen Henry Jekyll.