Henry Jekylls Erklärung - Teil 2
- Autor: Stevenson, Robert Louis
Übrigens halte ich das Böse immer noch für das tödliche im Menschen. Und dieser Gestalt hatte ich den Stempel von Hässlichkeit und Entartung aufgedrückt. War doch diese böse Seite viel weniger entwickelt, als die tugendreiche Seite in meinem Leben. So erklärte ich mir, dass Edward Hyde kleiner geraten war, schmächtiger und jünger als Henry Jekyll. Aus dem Antlitz des einen strahlte das Gute, während im Gesicht des anderen das Böse vorherrschte. Jedoch wurde mir, wenn ich den entarteten Hyde im Spiegel betrachtete, keineswegs widerwillig zumute; eher überkam mich ein freudiges Willkommensgefühl. Hyde gehörte zu meiner Person und er erschien mir nur natürlich und machte mein Antlitz vollkommener. Wenn ich das Aussehen Hydes annahm, konnte mir niemand ohne sichtbares Grauen im Blick nahen. Ich denke, das kam daher, dass alle Menschen eine Mischung aus Gut und Böse darstellen. Edward Hyde allerdings war durch und durch böse.
Vor dem Spiegel weilte ich nur einen kurzen Moment. Es galt, festzustellen, ob ich meine Identität verloren hatte - für immer. Dann müsste ich vor Tagesanbruch aus dem Haus fliehen. In meinem Arbeitszimmer trank ich noch einmal einen Kelch leer, erduldete nochmals die Qualen auf dem Weg zurück und kam mit Gestalt, Charakter und Antlitz von Henry Jekyll wieder an.
In jener Nacht war ich am Scheideweg angekommen. Wäre ich an meine Entdeckungen mit edleren Gedanken gegangen, mit frommerem Streben, hätte alles einen anderen Lauf nehmen müssen. Dann wäre ich als Engel statt als Teufel hervorgegangen. Das Medikament selbst konnte nicht unterscheiden zwischen teuflisch und göttlich. Es öffnete lediglich die vielfältigen Wege zu meiner Veranlagung, die zugleich böse und gut war.
Zu dieser Zeit schlief meine Tugend und mein Böses war erwacht, bereit zum Sprung, jede Gelegenheit behände zu nutzen - in der Person von Edward Hyde. Ich vereinte die widersprüchliche Mischung aus dem Edelmann Jekyll und dem Monster Hyde in mir. Eine Verbesserung dieser Situation hatte ich bereits verzweifelt aufgegeben, was eine eindeutig verschlechternde Entwicklung zur Folge hatte.
Meine Abneigung gegen ein langweiliges Leben als Gelehrter hatte ich noch nicht niedergekämpft. Zuweilen überkam mich Genusssucht. Jedoch waren meine Vergnügungen (wobei mir diese Beschreibung zu banal scheint) nicht mehr ehrbarer Art, ich aber als Ehrenmann geschätzt in der Gesellschaft; zudem wurde ich älter und die Gegensätzlichkeit meines Lebens wurde mir von Tag zu Tag unangenehmer. Das dauerte an, bis ich den Verlockungen dieser neuen Macht verfiel.
Ich musste ja lediglich den Trank zu mir nehmen und sofort verwandelte sich der dicke Körper des beliebten Professors in den Körper Edward Hydes. Bei diesem Gedanken machte sich ein Lächeln über meinem Gesicht breit, erschien mir dieses Unterfangen damals doch spaßig. Ich mietete und möblierte ein Haus in Soho - das Haus, in dem Hyde von der Polizei gesucht wurde. Dann stellte ich eine verschwiegene und gewissenlose Haushälterin ein und kündigte gleichzeitig meinem Personal an, dass ein gewisser Mister Hyde ab sofort volle Freiheit und Verfügungsrecht über mein Haus hätte. Um unglücklichen Zufällen vorzubeugen beschrieb ich Hyde genau, stellte ihn sogar vor und machte mich in meiner zweiten Rolle damit als vertraute Erscheinung bekannt.
Das Testament, das ich aufsetzte, ist dir ja bekannt; du hast es heftig bekämpft. Und damit fühlte ich mich abgesichert in alle Richtungen und begann, aus meinem sonderbaren Privileg Vorteile zu ziehen.
In alten Zeiten haben Menschen Banditen angeheuert, ihre Verbrechen auszuführen. Ich war der erste, der dies lustvoll selbst erledigte. Als erster habe ich der Welt biedere Achtbarkeit vorgegaukelt, um kurz darauf diese Fessel abzustreifen und in ein Meer aus Ungebundenheit zu stürzen. Meine undurchdringliche Maske war vollkommen sicher. Es gab mich ja nicht einmal.
Hinter meiner Labortüre brauchte ich nur den Trunk zu mischen und zu schlürfen, der stets parat stand. Und was immer Edward Hyde auch verbrochen haben mochte, seine Existenz entschwand wie ein Hauch des Atems auf einem Spiegel. An seiner Stelle saß ruhig ein Mann, die Arbeitslampe polierend, ein Mann, der über jeden Argwohn erhaben sein durfte, Henry Jekyll.
Die Vergnügungen, denen ich in meiner Tarnung nachjagte, waren widerlicher Natur. Unter Edward Hydes Einfluss wurden sie monströs. So, dass ich mich die tiefe Schlechtigkeit meines zweiten Ichs erstaunte. Aus meiner Seele löste sich ein durch und durch boshaftes Geschöpf, dessen Taten und Gedanken selbstsüchtig waren. Mit bestialischer Gier schlürfte er aus jeder Qual, die er anderen zufügte, seine Lust; gnadenlos wie ein Mann von Stein.
Bisweilen stand Dr. Jekyll fassungslos vor den Taten Edward Hydes. Jedoch fielen Hydes Taten nicht unter normale Gesetze und schwächten dadurch Jekylls Stimme des Gewissens, die mit der Zeit immer leiser wurde. Es war Hyde allein, der diese Schuld auf sich lud. Jekyll wurde nicht schlechter und zuweilen versuchte er sogar, Hydes Schaden gut zu machen, wo es ging. Das beruhigte sein Gewissen.
Die einzelnen Schandtaten will ich nicht erörtern; bin kaum in der Lage, mir heute dieselben einzugestehen. Lediglich die warnenden Zeichen möchte ich erwähnen. Die einander folgenden Schritte aufzeigen, mit denen sich meine Strafe näherte. Ich muss hierzu die Grausamkeit gegen ein Kind erwähnen, die zwar keine Folgen nach sich zog, jedoch den Zorn eines Passanten gegen mich weckte. In dieser Situation gab es Momente, in denen ich um mein Leben fürchtete. Der Arzt und die Familie des Kindes verlangten eine Zahlung. Hyde musste sie an die Hintertür führen und einen auf den Namen von Jekyll ausgestellten Scheck übergeben. Die dadurch entstandene Gefahr der Entdeckung bannte ich, indem ich auf den Namen Edward Hyde ein Konto bei einer anderen Bank eröffnete.
Ungefähr zwei Monate vor Sir Danvers Ermordung war ich wieder auf Abenteuer ausgezogen und erst spät in der Nacht zurückgekehrt. Morgens erwachte ich mit einem seltsamen Gefühl. Ich betrachtete die Ausmaße des Zimmers, das Muster der Vorhänge und die Maserung des Mahagonigebälks und erkannte, dass irgendetwas falsch sein musste. Als Psychologe begann ich über mich selbst lächelnd, die Einzelheiten aufzulösen, bis mein Blick auf meine Hände fiel. Es waren nicht die Hände Jekylls, es waren die kleinen, knochigen Hände von Hyde, mit hervortretenden Adern und Knöcheln. Mit Erschrecken schnellte ich hoch, stürzte zum Spiegel und der Anblick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich war als Henry Jekyll zu Bett gegangen - daran gab es keinen Zweifel. Jedoch als Edward Hyde war ich aufgewacht.
Die Frage nach dem "Wie" ließ mir den Schreck in alle Glieder fahren. Es war schon spät am Morgen und meine Medikamente befanden sich in meinem Labor in Jekylls Haus. Wie konnte ich die Gestalt Hydes verbergen, fragte ich mich. Doch dann fiel mir ein, dass die Dienstboten ja schon einmal meine zweite Existenz gesehen hatten und lediglich verwundert sein würden. So kam ich in diesem seltsamen Zustand in Jekylls Haus an, Bradshaw gaffte lediglich verwundert, weil Hyde zu ungewohnter Stunde durchs Haus kam. Zehn Minuten später war Dr. Jekyll wieder in seiner eigenen Gestalt, mit finsterer Stirn und erweckte den Eindruck, als frühstücke er.
Der rätselhafte Vorfall stürzte meine bisherigen Erfahrungen mit dem Medikament und der Verwandlung von Gut in Böse über den Haufen. Mit großer Ernsthaftigkeit begann ich über die Folgen und Möglichkeiten meiner doppelten Existenz nachzudenken. Es schien mir, als wäre der Körper von Hyde stärker geworden durch die häufige Beanspruchung; als würde das Blut schneller durch Hydes Adern rauschen. Mir wurde klar, dass hierin die Gefahr lag. Wenn das so weiter ging, würde das Gleichgewicht der beiden Existenzen verloren gehen und Hyde die Oberhand gewinnen.
Das Mittel wirkte ungleichmäßig. Einmal, ganz zu Beginn der Studien, hat es sogar ganz versagt. Einmal habe ich das Mittel verdoppelt und einmal sogar unter Einsatz meines Lebens verdreifacht. Es waren diese seltsamen Unzuverlässigkeiten, die Schatten auf meine Vergnügungen warfen. Jedoch wurde durch den Vorfall klar, dass aus den anfänglichen Schwierigkeiten, Jekyll loszuwerden, allmählich die Umkehrreaktion eintrat. Ganz langsam sollte ich den Halt an meinem besseren, guten Selbst verlieren und mein zweites, böses Wesen annehmen.
Zwischen diesen Beiden musste ich nun wählen - das fühlte ich. Die Erinnerung war beiden Naturen gemeinsam. Alles andere war ungleich aufgeteilt. Jekyll war mal voll zarter Empfindungen und dann wieder voll böser Gier, er plante die Unternehmungen Hydes. Hyde jedoch stand Jekyll eher gelassen gegenüber. Während Jekyll mehr das Interesse eines Vaters besaß, schien Hyde in die Rolle des gleichgültigen Sohnes zu gehen.
Entschied ich mich für Jekylls Wesen, musste ich auf Gelüste verzichten, denen ich so lange heimlich gefrönt hatte; mein Wesen mit Hyde zu verbinden bedeutete, für immer verachtet und freudlos zu werden. Auch wenn der Handel ungleich schien, musste noch etwas überlegt werden. Jekyll würde unter den Qualen der Abstinenz leiden müssen. Hyde hingegen würde nicht einmal wissen, was er verloren hatte.
Ein alt bekannter Konflikt, der so verbreitet wie die Menschen ist hat mich eingeholt: Nahezu jeder der Verführung erlegene Sünder erleidet dieselben Verlockungen und Nöte. Wie die Mehrheit der Menschen wählte ich den besseren Teil, hatte aber nicht die Kraft, daran festzuhalten.
Ja, ich gab dem ältlichen, langweiligen Doktor den Vortritt, der von Freunden umgeben war und dem eine ehrenhafte Zukunft winkte. Der Freiheit wandte ich entschlossen den Rücken zu. Der größeren Jugend, dem leichten Gang und dem fliegenden Puls nebst den geheimen Vergnügungen, die ich als Hyde genoss, sagte ich Lebewohl. Mag sein, dass diese Wahl unter Vorbehalt stattgefunden hat, weil ich weder das Haus in Soho noch Hydes Kleider aufgegeben habe.
Während zwei Monaten führte ich ein strenges Leben wie nie zuvor. Als Ausgleich diente mir das einwandfreie Gewissen. Jedoch ließen mit der Zeit die Ängste nach, das gute Gewissen wurde Alltag und ein schmerzliches Verlangen nach Hydes Freiheit mischte sich unter. Und in einer schwachen Stunde mischte ich einen Trunk und nahm ihn ein.
Es war wie der Rückfall eines Alkoholikers, der ebenso wenig zur Einsicht seines Lasters kommt, dem die fünfhundert Gefahren dieser tierischen Sinnlosigkeit nicht klar werden. Dazu kam, dass ich die moralische Unempfindlichkeit und den unsinnigen Hang zum Bösen, die die leitenden Eigenschaften Edward Hydes waren, nicht beachtet habe. Genau das wurde mir zum Fluch.
Der in meinem Inneren eingesperrte Dämon brach donnernd hervor. Wie ich den Trank schlürfte, überkam mich ein ungezügelter Hang zum Bösen. Feierlich erkläre ich vor Gott, dass sich kein moralisch gesunder Mensch eines solchen Verbrechens durch einen derart erbärmlichen Anlass schuldig macht. Und ich handelte mit weniger Klarsicht als ein Kind, das sein Spielzeug zerbricht. Das mochte daher kommen, dass ich alle einen Gegenpol bildenden Eigenschaften von mir gestreift hatte und jede Festigkeit in meinem Charakter abhanden gekommen war. So kam es, dass ich jeder Versuchung, auch der allerkleinsten, sofort erlag.
In mir erwachte direkt der Geist des Höllenreichs und tobte. In wahrem Freudentaumel zertrampelte ich den widerstandslosen Körper, jeder Schlag erzeugte neue Lust in mir. Von der Anstrengung ermüdet, auf dem Höhepunkt meines Deliriums durchfuhr ein eisiger Schauer des Schreckens mein Herz. Durch einen dunstigen Schleier sah ich mein Leben zerstört, floh von dem Schauplatz dieser schrecklichen Vorkommnisse, frohlockend und zitternd zugleich. Mein Hang zum Bösen war befriedigt und zugleich meine Lebensgeister erweckt.
In meinem Haus in Soho vernichtete ich alle Papiere, um in gespenstigem Rausch durch die erleuchteten Straßen zu gehen. Ich weidete mich an den begangenen Verbrechen und plante für die Zukunft neue, zugleich horchte ich scharfsinnig den Schritten etwaiger Rächer. Ein Lied auf den Lippen pfeifend, mischte Hyde den Trank, den er auf das Wohl des toten Mannes nahm. Die Krämpfe der Verwandlung waren noch nicht vorbei, lag Henry Jekyll bereits auf den Knien, tränenüberströmt und voller Reue, die gefalteten Hände zu Gott gestreckt. Der Schleier der Selbstbeschönigung war zerrissen und mein Leben lag offen:
Ab den Tagen meiner Kindheit verfolgte ich es. An der Hand meines Vaters durchschritt ich die Tage, um wieder und wieder mit demselben Gefühl des Dunstbilds zu den verfluchten Schrecken dieses Abends zu gelangen. Ich hätte laut schreien mögen. Mit Tränen und Gebeten versuchte ich die grausamen Bilder zu verdrängen, doch das grässliche Angesicht meiner Bosheit starrte in meine Seele.
Der heftigen Reue Herr geworden, folgte ein Gefühl der Freude. Das Problem meines künftigen Lebens war gelöst. Hyde konnte unmöglich weiter existieren; ob ich wollte oder nicht, ich war auf den besseren Teil meines Ichs beschränkt. Freudig erkannte ich das und mit strebender Demut klammerte fügte ich mich erneut der Beschränkung natürlichen Lebens. Mit aufrichtigem Gefühl des Verzichts schloss ich die Tür, durch die ich so häufig gegangen war, und trampelte den Schlüssel in den Boden.
Der Mörder sei beobachtet worden, hieß es am kommenden Tag in den Nachrichten; und das Opfer sei ein Mann hoher öffentlicher Stellung gewesen. Damit lag die Schuld Hydes vor aller Welt offen. Eine Wahnsinnstat von größter Tragik. Mir brachte diese Nachricht fast Erleichterung. Jekyll war nun mein Zufluchtsort. Hyde brauchte sich nur einmal blicken zu lassen, und die Hände der ganzen Welt würden ihn ergreifen und ihn erschlagen.
Mit meinem künftigen Verhalten wollte ich das Vergangene wieder gut machen. Meinem Entschluss entspross manch Gutes. Du weißt, wie sehr ich in den vergangenen Monate darum bemüht war, Leid zu lindern. Vieles habe ich für andere getan, so verstrichen die Tage nahezu ruhig und fast schon glücklich. Auch wurde ich dieses wohltätigen Lebens nicht überdrüssig. Im Gegenteil, ich genoss jeden Tag vollkommener. Dennoch lastete der Fluch zweierlei Wollens auf mir.
Als die erste Phase der Reue verblasste, wollte der böse Teil meines Ichs wieder ans Tageslicht, begehrte um Freiheit, nachdem es zuvor in Ketten gelegt war. Ich träumte nicht von einem Wiederauferstehen Hydes, der bloße Gedanke machte mich unruhig. Nein, in mir regte sich die Versuchung, mit meinem Gewissen zu spielen. Und weil ich ein gewöhnlicher Sünder war, erlag ich dem Ansturm der Versuchung schließlich doch.