Henry Jekylls Erklärung - Teil 1
- Autor: Stevenson, Robert Louis
Ich wurde im Jahre 18.. als Erbe eines großen Vermögens geboren. Von Natur aus war ich mit ausgezeichneten Begabungen bedacht; ich war fleißig und erlangte Achtung der Klugen und Rechtschaffenen. Es wäre anzunehmen, dies führte zu einer glänzenden Zukunft. Jedoch war mein schlimmster Fehler eine gewisse unbezähmbare Neigung zu Fröhlichkeit, eine Veranlagung, die für viele das Glück bedeutet hätte. Mir war diese Neigung mit meinen hochgesteckten Zielen und Träumen im Wege; es hinderte mich, mein Haupt stolz zu tragen und in der Gesellschaft eine mehr als ernsthafte Miene zu zeigen.
So begann ich, meine Vergnügungen zu verschweigen. In den Jahren, wo ein junger Mensch beginnt, sich umzusehen, sich über das Erreichte Gedanken zu machen, war ich bereits einem vollkommenen Doppelleben verfallen. Manch einer hätte mit den Abweichungen, die ich beging, kokettiert - doch bei den hohen Zielen, die ich mir gesteckt hatte, verbarg ich mein Tun mit fast schon krankhaftem Schamgefühl.
Es waren wohl eher tugendhafte Forderungen an mich selbst, denn eine zunehmend musterhafte Verderbtheit, die mich zu dem machten, was ich war; mein Innerstes teilte sich in Gut und Böse auf, der Beweis einer Doppelnatur, deren trennender Graben sich bei mir noch tiefer zog als bei der Mehrheit der Menschen.
In Anbetracht dieser Lage dachte ich über das harte Lebensgesetz nach, das in jeder Religion als Grundlage dient und zugleich die ergiebigste Quelle von Leid darstellt. Obwohl ich also zwei Wesen in mir trug, war ich keineswegs heuchlerisch. Ich nahm beide Seiten meines Ichs sehr wichtig. Ob ich nun alle Hemmungen zur Seite fegte und mich in Schande begab, oder mich des Tags um wissenschaftlichen Fortschritt oder die Bekämpfung von Leid und Sorge kümmerte: beides entsprach mir zu gleichen Teilen.
Es war ein Zufall, dass meine wissenschaftlichen Forschungen auf Mystik und Übersinnliches eingingen und damit das Bewusstsein um diesen ewigen Kampf in meinem Inneren festigten. Von beiden Seiten meiner Gedanken, den intellektuellen wie den moralischen, näherte ich mich täglich mehr jener Wahrheit, deren Entdeckung mich so hat abstürzen lassen. In Wahrheit ist der Mensch nicht eins, sondern zwei! Ich sage zwei, weil dies meine Erfahrungen sind. Andere werden mich in diesem Punkt überholen.
Ich erkannte, dass beide Naturen in mir wüteten und hätte dieselben schon immer gerne voneinander getrennt. Davon träumte ich bereits bevor meine wissenschaftlichen Entdeckungen ein solches Wunder auch nur wähnen ließen. Wenn jedes in unterschiedlichen Leibern einquartiert werden könnten, so sagte ich mir, dann würde das Leben von allem Schlechten befreit.
Der Ungerechte könnte frei des Wegs gehen, der Gerechte könnte glücklich machende Taten vollbringen, ohne der Schande und Reue ausgesetzt zu sein. Ein Fluch der Menschheit war es, diese ungleichen Wesenszüge in einer Gestalt zu vereinen; diese gegensätzlichen Ichs rangen in den Tiefen des gepeinigten Herzens miteinander. Was, wenn man diese feindlich gesinnten Zwillinge trennen würde?
So weit reichten meine Gedanken, als vom Arbeitstisch aus neues Licht in die problematische Sache gelangte. Eindeutiger als je zuvor jemand formuliert hat, begann ich die nebelgleiche Vergänglichkeit dieses vermeintlich so festen Leibes wahrzunehmen, in dem wir auf Erden umher wandeln. Ich entdeckte, dass bestimmte Mittel die Energie aufbringen, an diesem fleischlichen Körper zu rütteln und zu reißen, so wie der Wind die Vorhänge am Fenster verformen kann.
Tiefer will ich auf diesen wissenschaftlichen Teil meines Geständnisses nicht eingehen. Erstens musste ich einsehen, dass der Mensch die Bestimmung und Last seines Lebens für immer auf seinen Schultern tragen muss; und wollte er sie abwerfen, käme sie doppelt mit schrecklicherem Druck auf uns zurück. Zweitens waren meine Forschungsergebnisse unvollständig, wie dieses Schreiben deutlich machen wird.
Ich habe meinen Körper nicht nur als Hülle und Abglanz gewisser Kräfte erkannt, die meinen Geist bildeten. Nein. Ich stellte auch mit Erfolg ein Mittel her, das diese Kräfte ihres Einflusses beraubte. Es hat Aussehen und Antlitz durch andere ausgewechselt, die nicht weniger zu mir passten, weil sie den Stempel niederer Mächte in meiner Seele trugen und ihr Ausdruck waren.
Lange zögerte ich, bevor ich diese Annahme einer praktischen Prüfung unterzog. Mir war klar, dass ich dabei meines Lebens nicht sicher sein konnte. Immerhin konnte ein Medikament, das die Festung der Identität derart umfassend beherrschte, bei der kleinsten Überdosierung oder der geringsten Störung im Moment der Verwirklichung die fleischliche Hülle, die ich zu verwandeln anstrebte, vollständig auslöschen. Jedoch vernichtete der Reiz einer so einzigartigen Entdeckung letztlich auch den furchterregendsten Gedanken. Meine Essenz hatte ich schon vor langer Zeit vorbereitet. Nur noch ein Bestandteil, eine größere Menge eines bestimmten Salzes fehlte. Diese letzte Zutat verschaffte ich mir von einer Chemikalienhandlung.
In einer verfluchten Nacht, zu ziemlich später Stunde, mischte ich diese Bestandteile, überwachte ihr Kochen, Brodeln und als das Aufwallen sich beruhigte, trank ich in einer Anwandlung von Mut die Arznei leer.
Es folgte quälende Todesangst; ein Reißen in den Knochen, bösartige Übelkeit und ein erschütterndes Angstgefühl, das in Todes- oder Geburtsstunde nicht schlimmer sein kann. Die Qualen verflüchtigten sich bald und ich fühlte mich, wie nach einer schweren Erkrankung. In meinem Empfinden fühlte ich etwas Fremdes, unbegreiflich Neues und dank dieser Neuerung unsagbar Süßes. Ich fühlte mich jünger, leichter, glücklicher; eine berauschende Sorglosigkeit tobte in meinem Inneren, eine Sammlung sinnlicher Vorstellungen in unsortierter Folge, die meine Fantasie in einen rauschenden Bach verwandelten. Ich fühlte mich frei von allen Verpflichtungen, eine bislang nie gekannte, aber deshalb trotzdem nicht unschuldige Freiheit der Seele.
Bereits beim ersten Atemzug in diesem neuen Leben, war mir verinnerlicht, zehnmal schlechter geworden zu sein; ich war Sklave meiner ursprünglich im Inneren tosenden Bösartigkeit geworden, und augenblicklich fand ich diesen Gedanken erfrischend und köstlich wie Wein. Voller Jubel, ob dieser neuen Gefühlswelt, streckte ich meine Hände aus und stellte fest, dass ich von kleinerer Statur war.
Zu diesem Zeitpunkt war mein Zimmer noch ohne Spiegel. Der, der nun neben mir steht, während ich schreibe, wurde später hereingebracht. Die Nacht war zu diesem Zeitpunkt fast vorüber, der Morgen nahte. In meinem Hause lagen noch alle Bewohner in friedlichem Schlaf; nur deshalb wagte ich, in meiner neuen Gestalt in mein Schlafzimmer zu gehen. Als ich über den Hof schritt, war ich mir selbst fremd, ich stahl mich durch die Flure, wie ein Fremder im eigenen Haus. Im Zimmer angelangt, erblickte ich im Schlafzimmerspiegel zum ersten Mal die Gestalt von Edward Hyde.
Ich bin mir über meine Erkenntnisse nicht sicher, kann nur Theorien aufstellen, über das, was ich am Wahrscheinlichsten halte. Ich hatte der schlechten Seite meines Wesens nun die greifbare Form gegeben, einen Körper; bis dahin war sie weniger stark und weniger ausgeprägt als die förderliche Seite, die ich gerade abgestreift hatte. Auch hatte ich bis dahin das Böse viel weniger geübt und damit auch weniger verbraucht. So kam es meiner Meinung nach, dass Edward Hyde wesentlich kleiner, jünger und schwächer war, als Henry Jekyll. Wie das Gute im Antlitz des einen funkelte, so stand dem das Böse des anderen deutlich entgegen.