Hendon Hall
- Autor: Twain, Mark
Bereits eine halbe Stunde später machten sich Hendon und der König auf den Weg in Richtung Osten. Zuvor wartete seine Königliche Hoheit am Dorfrand, bis Hendon im Gasthof die Rechnung beglichen und die Pferde geholt hatte. Frohen Mutes hatte der König die lumpige Kleidung gegen das Gewand gewechselt, das Hendon ihm in London gekauft hatte. Nun sah er zwar besser aus, doch bei Weitem nicht majestätischer. Und doch verschaffte dem König diese Kleidung ein wohliges Gefühl.
So ritten sie einige Tage dahin. Nachts verweilten sie immer in einem Gasthof, der am Weg lag. Wie zu Beginn ihrer Bekanntschaft machte Hendon das Spiel mit und benahm sich wie der Diener des Königs.
Tagsüber ritten sie nebeneinander her und erzählten sich ihre Abenteuer. Dabei gelangten sie immer näher nach Hendon Hall. Miles wurde aufgeregt und gegen Ende der Reise wurde er immer gesprächiger, erzählte von seinem Vater und seinem Bruder Arthur. Er schwärmte von ihrer Großmut und ihrem ehrenwerten Charakter. Und von seiner Edith träumte er, dass ihm sogar einige wohl gesonnene Worte über seinen Bruder Hugh herausrutschten.
Je näher sie zu seinem Dorf kamen, holten Hendon die Erinnerungen ein. Gelegentlich ritt er abseits des Weges auf einen Hügel, um zum Dorf blicken zu können. Trotz der Eile, die er inzwischen an den Tag legte, kamen sie erst am Nachmittag um drei im Dorf an.
Aufgeregt wie ein kleiner Junge quasselte Hendon regelrecht. "Die Kirche - bewachsen mit Efeu - wie früher!", murmelte er. "Da - der Gasthof - der gute Rote Löwe! Und der Marktplatz - alles wie früher!" Er meinte, Menschen von früher zu kennen, doch niemand schien ihn zu erkennen.
Sie ritten quer durchs Dorf und ritten über einen verschlungenen Pfad, bis sie an ein Steintor gelangten. Es war hoch und mit Wappen verziert. Dahinter lag ein Herrenhaus nebst riesigem Garten, gepflegt und recht vornehm. "Seid Willkommen auf Hendon Hall, Majestät!", rief Miles. "Oh wie wird meine Familie sich freuen und Lady Edith wird in Ohnmacht fallen! Falls sie zu Beginn nur mich beachtet, so seid nachsichtig, Sire. Sie wird Euch bestimmt ebenso verehren wie ich."
Hendon, der bereits abgestiegen war, half dem König. Mit ihm an der Hand eilte er über einige Stufen in die große Halle. Ohne viel Aufhebens setzte er den kleinen König auf einen Stuhl und lief zum Schreibtisch beim Kamin. Hier saß ein junger Mann, den Hendon ansprach: "Hugh, lass dich umarmen! Endlich bin ich daheim! Wo ist Vater, ruf ihn. Erst wenn ich ihm gegenüberstehe, bin ich angekommen."
Im ersten Moment blickte Hugh bestürzt drein, dann fasste er sich schnell und blickte abweisend auf den Fremdling. "Euer Verstand muss verletzt sein, guter Mann. Wer wollt Ihr sein?"
"Du wirst doch wohl deinen Bruder Miles wieder erkennen."
Doch Hugh bestand darauf, diesen Fremden nicht zu kennen. Schlimmer noch, er erzählte von einem Brief, der die Familie vor sechs Jahren erreichte. Darin wurde ihnen mitgeteilt, Miles Hendon sei im Kampfe auf einem fernen Kontinent gefallen.
Inzwischen waren Vater Hendon und auch Miles Bruder Arthur verstorben. So hoffte Miles noch auf ein Zusammentreffen mit Lady Edith. "Sag nicht, dass sie auch verstorben ist", fragte er Hugh mit flehendem Blick. Miles war völlig niedergeschlagen ob dieser schlimmen Nachrichten.
Doch Miles erkannte, dass Hugh wohl auch die alten, treuen Diener fortgeschickt hatte, nur die Halunken waren noch zugegen. Hugh ließ Lady Edith rufen. Währenddessen bekundete der kleine König, der völlig in Vergessenheit geraten war, sein Vertrauen zu Miles. "Ich glaube Euch, denn Ihr vertraut mir ja ebenso!", sagte der König gutmütig. Miles senkte dankbar und gleichzeitig schuldbewusst den Kopf.
Hugh betrat den Raum in Begleitung einer vornehmen Dame. Danach kamen einige Diener. Zögerlich kam die schöne Frau näher. Miles lief ihr freudig entgegen und rief: "Edith, meine liebste Edith!" Die Frau blickte ihn traurig an. Hugh mischte sich ein. "Nun, kennst du diesen Mann?", herrschte er sie an.
Die am ganzen Körper zitternde Frau zuckte zusammen. Schweigend stand sie vor Miles, es war, als ob eine Ewigkeit verginge. Dann hob sie ihren angsterfüllten Blick zu Miles. Während sie sich in die Augen blickten, wich jegliche Farbe aus ihrem Gesicht. Mit lebloser Stimme sagte sie: "Nein, ich kenne den Mann nicht." Mit belegtem Aufstöhnen verließ sie wankend den Raum.
Nun forderte Hugh die Diener auf, die Miles natürlich auch nicht mehr kannten. Erhaben blickte er zu Miles: "Nun, guter Mann, hier muss ein Irrtum vorliegen. Da weder die Diener noch meine Frau Sie erkennen "
Miles schreckte hoch. "Deine Frau!" In nächster Sekunde hatte er Hugh an die Wand gedrückt, die Hand auf seinen Hals gepresst. "Du räudiger Hund, jetzt verstehe ich. Du hast diesen verlogenen Brief geschrieben, damit meine Braut in deine Arme flüchtet und mein Hab und Gut in deine Hände übergeht. Hau ab! Ich will meine Soldatenehre nicht mit Verräterblut beschmutzen."
Hugh taumelte zum nächsten Stuhl und gab den Dienern den Befehl, diesen Verrückten zu überwältigen. Doch die Diener trauten sich nicht, gegen den bewaffneten Miles anzutreten. "Pah, fünf gegen einen! Nun macht schon!"
Miles blickte drohend in die Runde. "Ihr erinnert Euch an mich! Ich habe mich keineswegs geändert. Also - kommt zu mir, wenn Ihr Euch traut!" Diese Erinnerung zeigte Wirkung, denn keiner der Diener rührte sich von der Stelle.
Hugh schrie sie an, sie sollen sich bewaffnen. Zu Miles gewandt sagte er: "Ich warne Euch, versucht nicht zu fliehen." Doch Miles erwiderte selbstbewusst: "Flucht? Dass ich nicht lache! Ich, Miles Hendon, bin der Herr von Hendon Hall und ich werde bleiben! Darauf kannst du dich verlassen."