Fluchtpläne
- Autor: Beecher Stowe, Harriet
Tom musste an der Feldarbeit teilnehmen, lange bevor seine Wunden verheilt waren. Die Ernte war in vollem Gange und Legree zögerte nicht, seine Sklaven auch am Sonntag auf das Feld zu schicken. Tom, der sich noch nicht wieder erholt hatte, war schließlich völlig erschöpft, zu erschöpft, um am Abend auch nur einen Bibelvers zu lesen. Sein Kopf dröhnte und seinen Augen versagten, ihm blieb nichts weiter, als sich auf dem Boden auszustrecken und zu schlafen. Eines Abends saß Tom mutlos und niedergeschlagen am Feuer. Er hatte sein grobes Abendessen zu sich genommen und zog seine zerlesene Bibel aus der Tasche. All' die angestrichenen Stellen, die so oft Trost gespendet hatten. Hatte das Wort Gottes auf einmal seine Gewalt verloren?
Ein böses Lachen ließ Tom aufblicken. Legree war zu ihm getreten. "Na, funktioniert deine Religion nicht mehr? Schön, dass du's jetzt auch langsam merkst. Du hättest etwas Besseres bei mir sein können. Statt Schläge einzustecken hättest du sie verteilen können. Du könntest sogar manchmal einen Whisky-Punsch haben. Komm schon, sei kein Dummkopf. Schmeiß' den alten Plunder ins Feuer und tritt zu meiner Religion über." Trotz der Müdigkeit schüttelte Tom den Kopf. "Der liebe Gott bewahre mich! Ich wanke nicht, ob Gott mir nun hilft oder nicht. Ich bleibe bei ihm und glaube, bis zuletzt!" "Dein Gott hilft dir doch nicht! Aber wenn du es so willst? Bitte! Ich werde dich hetzten und dich schon klein kriegen." Legree spuckte Tom an und trat noch einmal mit dem Fuß nach ihm, bevor er die Hütte verließ. Der grausame Hohn Legrees drückte Toms verzagte Seele nieder. Er saß weiter beim Feuer, aber plötzlich schien alles um Tom herum zu verblassen. Er hörte eine Stimme, die sagte: "Er, der überwindet, soll neben mir auf dem Thron sitzen, denn auch ich habe überwunden und sitze neben meinem Vater auf dem Thron."
Nach diesem Erlebnis war Tom verändert. Sein starker Glaube beflügelte ihn und gab ihm Kraft, alles zu ertragen, was ihm zugemutet wurde. Er begann, den anderen beizustehen und war stets darauf bedacht, ihr Leid zu mindern. Er las wieder in der Bibel und sang sogar Choräle mit den Menschen, die ihn umgaben. Die anderen Sklaven, abgestumpft und verroht wie sie waren, bemerkten ebenfalls eine Veränderung an Tom und empfanden Dankbarkeit für seine Liebe und seinen Mut. Selbst Legree merkte, dass Tom an Kraft gewonnen hatte und sich mehr und mehr seinem Einfluss entzog.
Eines Nachts erwachte Tom davon, dass Cassy ihn ansprach. Als er aus seiner Hütte trat, erklärte Cassy, er könne heute Nacht noch fliehen. Legree läge schwer betrunken zu Bett, es gäbe eine Axt, die Legree den Garaus mache könne. Sie würde es selbst tun, aber ihr fehle die Kraft dazu. Tom schauderte. "Das tue ich nicht, Missis Cassy. Es ist unrecht. Wenn ihr fliehen könnt, dann tut es. Das hier ist mehr, als ihr ertragen könnt. Aber ich kann Legree nicht töten. Ich habe eine Aufgabe unter diesen armen Menschen. Ich verkaufe meine Seele nicht dem Teufel. Das wäre Mord!" Schließlich nickte Cassy. "Du hast, Recht, Tom. Aber ich habe schon eine neue Idee. Ich werde es versuchen!"
Cassy war der große, ungenutzte Dachboden des Hauses eingefallen. Dort lagerten viele ungenutzte Möbel des Vorbesitzers. Es wurde gemunkelt, dass dort oben eine Sklavin zu Tode gekommen sei, die Legree dort eingesperrt hatte. Genaues wusste man nicht, nur, dass ihr Leichnam von dort oben herunter getragen werden musste. Die Sklaven waren sehr abergläubisch und auch Legree neigte dazu. Und so begann Cassy, sich diese Neigung und die Furcht vor dem Dachboden zunutze zu machen. Zuerst zog sie in ein anderes Zimmer und behauptete, auf dem Dachboden nachts Stimmen, Schritte und Schreien zu hören. Sie machte Andeutungen, die Legree das Blut in den Adern gefrieren ließ, denn auch er fürchtete sich. Dann klemmte sie eine Flasche auf dem Dachboden so ein, dass der leiseste Windhauch ein Jaulen im Flaschenhals erzeugte. Wehte es etwas mehr, schienen Schreie vom Dachboden hinunter zu wehen. Sie trieb das Spiel so lange, bis niemand sich auch mehr in die Nähe der Treppe wagte, die zu dem verhexten Dachboden führte. Als es so weit war, schaffte sie Lebensmittel, Wasser und Decken hinauf und begann mit der eigentlichen Flucht.
"Sie müssen uns sehen!", beschwor sie Emmeline, die sich nur widerstrebend mit Cassy auf die Flucht begeben hatte. "Vertrau' mir!" Emmeline nickte ängstlich. Wie Cassy es vorausgesagt hatte, wurde ihre Flucht beobachtet. Die Häscher mussten allerdings erst zur Farm zurück, um die Hunde zu holen. Diesen Moment nutzen Cassy und Emmeline aus, um einen Bogen zu schlagen und einen Fluss zu durchwaten. So konnten die Hunde ihrer Spur nicht mehr folgen und während alle anderen die beiden Flüchtlinge in den Sümpfen suchten, kehrten Cassy und Emmeline unbehelligt ins Haus zurück, stahlen noch ein paar Dollar aus Legrees Schreibtisch und versteckten sich dann auf dem Dachboden. "Wir hätten das Geld nicht stehlen sollen. Es gehört uns nicht.", meinte Emmeline unsicher. "Und ob es uns gehört. Legree hat all dieses Geld uns gestohlen, uns und all den anderen Sklaven."