Evangeline

  • Autor: Beecher Stowe, Harriet

Tom hatte während der Reise auf dem Dampfer unmerklich Haleys Vertrauen gewonnen. Toms klaglose Geduld und seine offensichtliche Ergebenheit hatten Haley davon absehen lassen, Tom nachts zu fesseln. Am Tage durfte Tom sich frei auf dem Schiff bewegen. Da er der Mannschaft gern zur Hand ging und viele Stunden am Tag mit Arbeit verbrachte, kannte und mochte ihn nahezu jedermann auf dem Schiff. War er nicht beschäftigt, saß er still auf einer Kiste und las in der Bibel. Tom hatte das Lesen spät gelernt und war ein langsamer Leser. Zu Hause hatte er sich die Bibel von den Kindern seines Herrn vorlesen lassen und hatte an den Stellen, die ihm besonders wichtig oder schön vorkamen, kühne Zeichen gemacht. So konnte er nun schnell seine Lieblingsstellen finden, ohne den Text dazwischen lesen zu müssen. Jede der Textstellen erinnerte ihn an zu Hause und so wanderten seine Gedanken zurück nach Kentucky, zu seiner Hütte und zu seiner Frau. Einige Tränen tropften auf die Bibel und Tom kehrte zurück in seine Gegenwart auf dem Schiff.

Auf dem Schiff gab es ein Mädchen von ungefähr sechs oder sieben Jahren, das mit seinem Vater und einer weiblichen Begleitung reiste. Der Vater war von Stand und Familie. Das Mädchen war von ungewöhnlicher, elfenhafter Schönheit. Dabei war es nicht die Schönheit ihrer Gesichtszüge, die jeden aufmerken ließen. Es war vielmehr die träumerische Innigkeit des Ausdrucks, der ihr alle Herzen zufliegen ließ. Sie hatte wunderschönes goldbraunes Haar und veilchenblaue Augen, die oft ernst in die Welt blickten. Eine schwerelose und unschuldige Heiterkeit begleitete sie, sie war immer in Bewegung, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Von den Sklaven bis hin zu den reichsten Passagieren kannte jeder an Bord des Schiffes dieses Kind und jeder mochte es. Auch Tom konnte das kleine Mädchen nicht übersehen. Und langsam begann er, mit dem Mädchen Freundschaft zu schließen. Tom kannte eine Menge kleiner Kunststücke und Tricks, die die Kinder zu Hause begeistert hatten. Seine Taschen waren voll von kleinen Schnitzereien, Pfeifen, Flöten und kleinen Gestalten aus Holz.

Als Tom meinte, die Dinge seien jetzt weit genug gediehen, fragte er das Mädchen: "Wie heißt du?" Die Kleine antwortete: "Ich heiße Evangeline St. Clare. Aber alle nennen mich Eva. Und wie heißt du?" "Die Kinder in meiner Heimat nannten mich Onkel Tom." "Dann will ich dich auch Onkel Tom nennen. Wo fährst du denn hin?" Tom sah sie traurig an. "Ich weiß es nicht. Ich werde verkauft, aber ich weiß nicht an wen und ich weiß nicht, wohin ich gehen werde." Evangeline dachte kurz nach. "Dann muss Papa dich eben kaufen." Eva sprang davon.

Kurze Zeit später legte der Dampfer an einem kleinen Landeplatz an. Eva und ihr Vater standen an der Reling. Bei einer plötzlichen Bewegung des Schiffes verlor Eva das Gleichgewicht und stürzte über die Reling ins Wasser. Ihr Vater war gerade im Begriff, ihr nach zu springen, als viele Hände ihn festhielten. Tom, der auf dem Zwischendeck gestanden hatte und das Mädchen an sich vorbei fallen sah, war bereits im Wasser und zog die bewusstlose Kleine heraus.

Am anderen Tag legte der Dampfer in New Orleans an. Eva war blasser als sonst, hatte aber ihren Sturz unbeschadet überstanden. Nun verhandelte ihr Vater mit Haley. Eva wollte unbedingt, dass ihr Vater Tom kaufte. Haley zeigte sich als ein zäher Verhandlungspartner, aber auch Evas Vater sparte nicht an Argumenten, um den Preis für Toms zu drücken. Es endete jedenfalls damit, dass Tom von Haley an die St. Clares verkauft wurde. "Gott segne euch!", rief Tom mit Tränen in den Augen. "Kannst du mit Pferden umgehen?", fragte St. Clare. "Ich habe mein Leben mit Pferden zugebracht.", antwortete Tom. "Dann wirst du unser Kutscher werden.", entschied St. Clare. Eva fasste nach Toms Hand. "Du sollst es gut bei uns haben.", sagte sie und lächelte.