Es geschieht, was keiner erwartet hat
- Autor: Spyri, Johanna
Am andern Morgen trat der Großvater in aller Frühe aus der Hütte um zu sehen, wie der Tag wohl werden würde. Auf den hohen Bergspitzen lag ein rötlich-goldener Schein; ein frischer Wind wiegte die Äste der Tannen hin und her; die Sonne ging gerade auf.
Der Alte noch stand eine Weile und schaute andächtig zu, wie nach den hohen Berggipfeln die grünen Hügel golden zu schimmern begannen und wie dann aus dem Tale leise die dunkeln Schatten wichen und das Land in ein rosiges Licht getaucht wurden und nun Höhen und Tiefen im Morgengolde erglänzten; die Sonne war gekommen.
Jetzt holte der Öhi den Rollstuhl aus dem Schuppen heraus, stellte ihn vor die Hütte hin und ging dann hinein, um den Kindern zu sagen, wie schön der Morgen sei, und um sie herauszuholen.
Gerade zu diesem Zeitpunkt kam Peter herauf gestiegen. Seine Ziegen kamen nicht zutraulich wie gewohnt an seiner Seite und nahe vor und hinter ihm den Berg herauf; sie schossen scheu umher, dahin und dorthin, denn Peter hieb alle Augenblicke ohne jede Veranlassung um sich wie ein Wütender, und wo er traf, tat es nicht gut. Peter war unglaublich zornig und verbittert, denn seit Wochen hatte er Heidi nicht mehr für sich gehabt, so wie er's gewohnt war. Kam er am Morgen von unten herauf, so wurde schon immer das fremde Kind in seinem Stuhle heraus getragen, und Heidi gab sich mit ihm ab. Kam er am Abend von oben herunter, so stand der Rollstuhl samt seiner Besitzerin noch unter den Tannen, und Heidi machte sich mit ihr zu schaffen. Den ganzen Sommer war Heidi noch nicht zur Weide hinaufgekommen, und nun wollte sie heute kommen, aber mitsamt dem Stuhle und der Fremden darin. Sicherwürde sie sich die ganze Zeit nur mit dieser Klara abgeben. Das sah Peter voraus, und das hatte seinen inneren Zorn auf den höchsten Punkt gebracht. Jetzt sah er den Stuhl und schaute ihn an wie einen Feind, der ihm alles zuleide getan hatte und heute noch viel mehr tun wollte. Peter schaute um sich - alles war still, kein Mensch zu sehen. Wie ein Wilder stürzte er jetzt auf den Stuhl, packte ihn an und stieß ihn mit so erbitterter Gewalt auf den Bergabhang zu, dass der Stuhl förmlich davonflog und augenblicklich verschwunden war.
Jetzt rannte Peter die Alm hinauf, als hätte er selber Flügel bekommen, und er hielt kein einziges Mal an, bis er oben zu einem großen Brombeerstrauch gelangte, hinter dem er verschwinden konnte, denn er wollte nicht, dass der Öhi ihn erblickte. Er wollte aber doch gern sehen, was der Stuhl mache, und der Strauch auf dem Bergvorsprunge war gut gelegen. Peter konnte halb verborgen die Alm hinabschauen und, sollte der Großvater kommen, hurtig sich ganz verstecken. So tat er, und was sah er! Weit unten schon stürzte sein Feind dahin, von immer größerer Gewalt getrieben. Jetzt überschlug er sich, wieder und wieder, dann machte er einen hohen Satz, dann schlug es ihn wieder auf die Erde nieder, und sich überschlagend rollte er seinem Verderben entgegen.
Schon flogen da und dort die Stücke von ihm weg, Füße, Lehnen, Polsterfetzen, alles wurde hoch in die Luft geschleudert. Peter empfand eine so unbändige Freude bei diesem Anblick, dass er mit beiden Füßen zugleich in die Luft springen musste. Er lachte laut auf, er stampfte vor Wonne, er sprang in Sätzen im Kreise herum, er kam wieder an denselben Platz und guckte den Berg hinab. Ein neues Gelächter erklang, neue Luftsprünge; Peter war völlig außer sich vor Vergnügen über diesen Untergang seines Feindes, denn er sah lauter gute Dinge vor sich, die nun kommen würden.
Nach Peters Meinung musste die Fremde jetzt abreisen, denn sie hatte keine Möglichkeit mehr, sich zu bewegen. Heidi war wieder allein und kam mit ihm auf die Weide, und am Abend und Morgen war sie für ihn da, wenn er kam, und alles war wieder in der alten Ordnung. Aber Peter bedachte nicht, wie es geht, wenn man eine böse Tat begangen hat, und was dann nachher kommt.
Jetzt kam Heidi aus der Hütte gesprungen und rannte auf den Schuppen zu. Hinter ihr kam der Großvater mit Klara auf dem Arm. Die Schuppentür stand weit offen, die beiden Bretter daneben waren weggestellt, bis in den hintersten Winkel war es taghell. Heidi guckte hin und her, lief um die Ecke, kam wieder zurück und schaute sehr verwundert drein. Nun trat der Großvater heran.
"Was ist das? Hast du den Stuhl weggerollt, Heidi?" fragte er.
"Ich suche ihn ja selbst, Großvater, und du hast gesagt, er stehe neben der Schuppentür", sagte das Kind, immer noch nach allen Seiten mit den Augen herumsuchend.
Der Wind war unterdessen stärker geworden; eben klapperte er an der Schuppentür herum und warf sie auf einmal krachend gegen die Wand zurück.
"Großvater, der Wind hat's gemacht", rief Heidi, und ihre Augen blitzten auf bei der Entdeckung. "Oh, wenn er den Stuhl bis ins Dörfli hinabgejagt hätte, dann bekäme man ihn erst viel zu spät wieder, und wir könnten gar nicht gehen."
"Wenn er dort hinuntergerollt ist, so kommt er gar nicht mehr zurück, dann ist er in hundert Stücken", sagte der Großvater, um die Ecke tretend und den Berg hinabschauend. "Aber merkwürdig ist das Ganze schon", setzte er hinzu, während er auf das Stück zurücksah, das der Stuhl erst um die Ecke der Hütte herum zu machen hatte.
"Oh, wie schade, jetzt können wir heute gar nicht gehen und vielleicht überhaupt nicht", jammerte Klara. "Nun muss ich sicher heimgehen, wenn ich keinen Stuhl mehr habe. Oh, wie schade! Wie schade!"
Aber Heidi schaute ganz vertrauensvoll zu ihrem Großvater auf und sagte:
"Gelt, Großvater, du kannst schon etwas erfinden, dass es nicht so geht, wie die Klara meint, und dass sie nicht auf einmal heim muss?"
"Jetzt gehen wir für diesmal auf die Weide, wie wir uns vorgenommen haben; dann wollen wir sehen, was weiter kommt", sagte der Großvater. Die Kinder jubelten.
Er trat nun wieder in die Hütte zurück, holte einen guten Teil der Tücher heraus, legte sie auf den sonnigsten Platz an die Hütte hin und setzte Klara darauf. Dann holte er den Kindern ihre Morgenmilch und führte Schwänli und Bärli vor den Stall hinaus.
"Warum der nur so lange nicht von da unten heraufkommt", sagte der Öhi vor sich hin, denn Peters Morgenpfiff war ja noch gar nicht ertönt.
Jetzt nahm der Großvater Klara wieder auf den einen Arm, die Tücher auf den andern.
"So, nun vorwärts!" sagte er; "die Ziegen kommen mit uns."
Das war Heidi sehr recht. Einen Arm um Schwänlis und einen um Bärlis Hals gelegt, wanderte Heidi hinter dem Großvater her, und die Ziegen hatten solche Freude, einmal wieder mit Heidi loszuziehen, dass sie Heidi fast zwischen sich erdrückten vor lauter Zärtlichkeit.
Oben auf dem Weideplatze angelangt, sahen sie mit einemmal da und dort an den Abhängen die friedlich grasenden Ziegen in Gruppen stehen und mittendrin den Peter, der Länge nach auf dem Boden liegend.
"Ein andermal will ich dir das Vorbeigehen vertreiben, Faulpelz, was heißt das?" rief ihm der Öhi zu.
Peter war bei dem Ton der bekannten Stimme hochgefahren.
"War noch niemand auf", gab er zurück.
"Hast du etwas von dem Stuhl gesehen?" fragte der Großvater wieder.
"Von welchem?" rief Peter störrisch zurück.
Der Öhi sagte nichts mehr. Er breitete seine Tücher an dem sonnigen Abhang aus, setzte Klara darauf und wollte wissen, ob's ihr so bequem sei.
"So bequem wie im Stuhl", sagte sie dankend, "und am schönsten Platz bin ich da. Da ist's so schön, Heidi, so schön!" rief sie, rings um sich blickend, aus.
Der Großvater schickte sich zur Rückkehr an. Er sagte, sie sollten sich's nun wohl sein lassen miteinander, und wenn die Zeit da sei, sollte Heidi das Mittagsmahl herbeiholen, das er, in den Sack verpackt, drüben in den Schatten gelegt hatte. Dann sollte Peter ihnen Milch dazu geben, soviel sie trinken wollten, aber Heidi sollte gut aufpassen, dass er sie vom Schwänli nehme. Gegen Abend wollte der Großvater wiederkommen; jetzt wollte er vor allem dem Stuhle nachgehen und sehen, was aus ihm geworden sei.
Der Himmel war dunkelblau, und rundherum war nicht ein einziges Wölkchen zu sehen. Drüben auf dem großen Schneefeld blitzte es wie von tausend und tausend Gold- und Silbersternen. Der Adler segelte oben im Blau, und über die Höhen strich der Bergwind und kühlte angenehm.
Den Kindern ging es unbeschreiblich gut. Von Zeit zu Zeit kam eine kleine Ziege heran und ließ sich ein wenig bei ihnen nieder; am häufigsten kam das zärtliche Schneehöppli und legte sein Köpfchen an Heidi heran und wäre da wohl gar nicht mehr weggegangen, hätte es nicht ein anderes von der Herde wieder vertrieben. So lernte Klara jetzt jede einzelne Ziegen so genau kennen, dass sie niemals mehr eine mit der andern verwechselte, denn jede hatte ja auch ein ganz besonderes Gesicht und ihre eigene Art.
Sie wurden jetzt auch so zutraulich zu Klara, dass sie ihr ganz nahe kamen und ihre Köpfe an ihren Schultern rieben; das war immer das Zeichen ihrer nahen Bekanntschaft und Zuneigung.
So waren schon einige Stunden vergangen; da kam es Heidi in den Sinn, sie könnte doch einmal an den Platz hinübergehen , wo die vielen Blumen waren, und sehen, ob sie auch alle aufgeblüht und so schön seien wie vor einem Jahr. Erst am Abend, wenn der Großvater wiederkam, konnte man auch mit Klara hinübergehen, und dann machten die Blumen vielleicht schon wieder die Augen zu. Heidi bekam immer größere Lust dazu, daher fragte sie Klara ein wenig zaghaft:
"Bist du mir böse, Klara, wenn ich geschwind von dir fortlaufe und du allein sein musst? Ich möchte so gern sehen, wie die Blumen sind. Aber warte..." Heidi war ein Gedanke gekommen. Sie sprang auf die Seite und riss ein paar schöne Büschel von den grünen Kräutern aus. Dann nahm sie das Schneehöppli um den Hals, das ihr gleich zugelaufen war, und führte es zu Klara.
"So, jetzt musst du doch nicht allein sein", sagte Heidi, während sie das Schneehöppli auf dem Platz neben Klara ein wenig hindrückte, was das Zicklein sofort richtig verstand und sich niederlegte. Dann warf Heidi die gesammelten Blätter Klara in den Schoß, und diese sagte erfreut, Heidi solle jetzt nur gehen und die Blumen ansehen, sie wolle gern allein mit der kleinen Ziege bleiben; das hatte sie ja noch nie erlebt.
Heidi rannte fort, und Klara fing nun an, Blättchen für Blättchen dem Schneehöppli hinzuhalten, und es wurde so zutraulich, dass es sich ganz an seine neue Freundin anschmiegte und die Blättchen ihr langsam aus der Hand fraß. Man konnte sehen, wie gut es tat, so ruhig und friedlich in gutem Schutze liegen zu dürfen, denn draußen bei der Herde wurde es oft von den großen und starken Ziegen verfolgt.
Klara genoss es, so ganz allein auf einem Berge zu sitzen, nur mit einem zutraulichen Zicklein, das ganz hilfsbedürftig zu ihr aufsah. Ein großer Wunsch stieg auf in ihr, auch einmal ihr eigener Herr zu sein und einem andern helfen zu können und nicht nur immer sich von allen anderen helfen lassen zu müssen. Mit einem mal überkamen Klara viele neue Gedanken und sie empfand eine Lebenslust, die völlig neu für sie war. Klara wollte ihr leben genießen und sie wollte für andere da sein und ihnen Freude bereiten, so wie sie jetzt im Augenblick für die kleine Ziege da war und dieser gut tat.. Mit einem mal konnte Klara alles in einem ganz anderen Licht betrachten und die Welt war schöner, als sie sie je empfunden hatte. Es ging Klara so gut, dass sie das Zicklein um den Hals nehmen und ausrufen musste:
"Oh, Schneehöppli, wie schön ist es hier oben; wenn ich nur immer da bei euch bleiben könnte!"
Heidi war unterdessen an dem Blumenplatze angekommen. Sie stieß einen Freudenschrei aus. Von leuchtendem Golde bedeckt lag die ganze Wiese da. Da waren die schimmernden Ziströschen. Dichte, dunkelblaue Büsche von Glockenblumen wiegten sich darüber, und ein so starker würziger Duft lag über der sonnigen Wiese, als wäre Parfum da oben ausgeschüttet worden. Der besonders angenehme Geruch kam aber von den kleinen braunen Kolbenblümchen her, die ihre runden Köpfchen da und dort bescheiden zwischen den Goldkelchen empor streckten. Heidi stand und schaute und zog den süßen Duft in langen Zügen ein. Auf einmal kehrte sie um und kam außer Atem vor Erregung zu Klara zurück.
"Oh, du musst unbedingt kommen", rief sie ihr schon von weitem zu. "Sie sind so schön, und alles ist so schön, und am Abend ist es vielleicht nicht mehr so. Ich kann dich vielleicht tragen, meinst du nicht?"
Klara schaute die aufgeregte Heidi ganz verwundert an; sie schüttelte aber den Kopf.
"Nein, nein, was denkst du, Heidi; du bist ja viel kleiner als ich. Oh, wenn ich nur gehen könnte!"
Jetzt schaute Heidi suchend um sich, ihr war etwas Neues eingefallen. Dort oben, wo Peter vorher auf dem Boden gelegen hatte, saß er jetzt und starrte auf die Kinder herunter. So hatte er schon seit Stunden gesessen und immerzu herabgestarrt, so als könne er nicht fassen, was er vor sich sah. Er hatte den feindlichen Stuhl zerstört, damit alles aufhören und die Fremde sich gar nicht mehr bewegen könne, und eine kurze Weile nachher erschien sie da oben und saß vor ihm auf dem Boden neben Heidi. Das konnte ja nicht sein, und doch war es immer noch so, er konnte hinsehen, sooft er wollte.
Jetzt schaute Heidi zu ihm auf.
"Komm hier herunter, Peter!" rief sie sehr bestimmt.
"Ich komme nicht", rief er zurück.
"Doch, du musst; komm, ich kann es nicht allein machen, du musst mir helfen; komm schnell!" drängte Heidi.
"Nein, ich komme nicht", ertönte es wieder.
Jetzt lief Heidi ein kleines Stück den Berg hinauf, dem Angeredeten entgegen.
Da stand Heidi mit funkelnden Augen und rief hinauf:
"Peter, wenn du nicht auf der Stelle kommst, so werde ich dir auch etwas machen, das du dann sicher nicht gern hast; das kannst du mir glauben!"
Diese Worte gaben dem Peter einen Stich, und eine große Angst packte ihn. Er hatte etwas Böses getan, das kein Mensch wissen sollte. Bis jetzt hatte es ihn gefreut, aber nun redete Heidi, als ob sie alles wüsste, und was sie wusste, sagte Heidi alles ihrem Großvater, und vor dem fürchtete Peter sich ja wie vor keinem andern. Wenn er erfahren würde, was mit dem Stuhl passiert war! Peters Angst wurde immer größer und nahm ihm fast die Luft. Er stand auf und kam der wartenden Heidi entgegen.
"Ich komme, aber dann darfst du das nicht machen", sagte er, so zahm vor Furcht, dass es Heidi schon wieder leid tat.
"Nein, nein, das tu ich nun schon nicht", versicherte sie. "Komm jetzt nur mit mir, es ist nichts zum Fürchten, was du tun musst."
Bei Klara angelangt, ordnete nun Heidi an, auf der einen Seite sollte Peter, auf der andern wollte sie selbst Klara fest unter den Arm fassen und aufheben. Das ging nun ziemlich gut, aber jetzt kam das Schwierigere. Klara konnte ja nicht stehen, wie sollte man sie nun festhalten und vorwärts bringen? Heidi war zu klein, um ihr mit ihrem Arm eine Stütze zu bieten.
"Du musst mich jetzt um den Hals nehmen, ganz fest, so. Und den Peter musst du am Arm nehmen und ganz fest darauf drücken, dann können wir dich tragen."
Aber Peter hatte noch nie jemandem den Arm gegeben. Klara umfasste diesen wohl, Peter aber hielt ihn ganz steif am Leibe herunter wie einen langen Stecken.
"So macht man es nicht, Peter", sagte Heidi sehr bestimmt. "Du musst mit dem Arm einen Ring machen, und dann muss die Klara mit dem ihrigen durchfahren, und dann muss sie ganz fest aufdrücken, und du musst um keinen Preis nachgeben, dann kommen wir schon vorwärts."
Das wurde nun so gemacht. Man kam aber nicht gut vorwärts. Klara war nicht so leicht, und das Gespann zu ungleich in der Größe. Auf der einen Seite ging es herab und auf der andern hinauf, das gab eine ziemliche Unsicherheit in den Stützen.
Klara probierte es abwechselnd ein wenig mit den eigenen Füßen, zog aber einen nach dem andern immer bald wieder zurück.
"Tritt einmal richtig feste auf", schlug Heidi vor, "dann tut es dir gewiss nachher weniger weh."
"Meinst du?" sagte Klara zaghaft.
Sie gehorchte aber und wagte einen festen Schritt auf den Boden und dann mit dem zweiten Fuß; sie schrie aber ein wenig auf dabei. Dann hob sie den einen wieder und setzte ihn vorsichtiger auf.
"Oh, das hat schon viel weniger weh getan", sagte sie voller Freude.
"Mach's noch einmal", drängte Heidi eifrig. Klara tat es und dann noch einmal und noch einmal, und auf einmal schrie sie auf:
"Ich kann, Heidi! Oh, ich kann! Sieh! Sieh! Ich kann Schritte machen, einen nach dem andern."
Jetzt jauchzte Heidi noch viel mehr auf.
"Oh! Oh! Kannst du ganz sicher selbst Schritte machen? Kannst du jetzt gehen? Kannst du gewiss selbst gehen? Oh, wenn nur der Großvater käme! Jetzt kannst du selbst gehen, Klara, jetzt kannst du gehen!" rief Heidi ein ums andere Mal in jubelnder Freude aus.
Klara hielt sich wohl fest auf beiden Seiten, aber mit jedem Schritt wurde sie ein wenig sicherer, das konnten alle drei empfinden. Heidi war ganz außer sich vor Freude.
"Oh, nun können wir alle Tage miteinander auf die Weide gehen und auf der Alp herum, wo wir wollen", rief sie wieder aus, "und du kannst dein Lebtag gehen, wie ich, und musst nie mehr im Stuhl geschoben werden und wirst gesund. Oh, das ist die größte Freude, die wir haben können!"
Klara stimmte mit ganzem Herzen ein. Sie kannte gar kein größeres Glück auf der Welt, als auch einmal gesund zu sein und herumgehen zu können wie die anderen Menschen und nicht mehr elend die ganzen Tage auf den Rollstuhl angewiesen zu sein.
Es war nicht weit zu der Blumenwiese hinüber. Dort sah man schon das Glitzern der Goldröschen in der Sonne. Jetzt waren sie bei den Büschen der blauen Glockenblumen angekommen, wo zwischendurch der sonnige Boden so einladend aussah.
"Können wir uns nicht hier hinsetzen?" fragte Klara.
Das war ganz nach Heidis Wunsch, und mitten in die Blumen hinein setzten sich die Kinder, Klara saß zum ersten mal, auf den trockenen, warmen Alpenboden ;das gefiel ihr unbeschreiblich gut. Und rings um sie herum waren die wiegenden blauen Glockenblumen, die schimmernden Goldröschen, das rote Tausendgüldenkraut und überall der süße Duft der braunen Kolbenblümchen, der würzigen Prünellen. Alles war so unglaublich schön.
Auch Heidi war überglücklich und ganz außer sich vor Freude darüber, dass Klara jetzt gesund war. Klara wurde ganz still vor Freude und Begeisterung über alles, was sie sah, und über alle die Aussichten, die sich ihr nun durch das eben Erlebte eröffneten. Sie hätte vor lauter Freude fast platzen können, und der Sonnenglanz und Blumenduft dazu überwältigten sie mit einem Glücksgefühl, dass sie völlig verstummen ließ.
Auch Peter lag still und regungslos mitten in dem Blumenfelde, denn er war fest eingeschlafen.
Leise und lieblich wehte hier der Wind hinter den schützenden Felsen hervor und säuselte oben in den Büschen. Von Zeit zu Zeit musste Heidi wieder aufstehen und dahin laufen und dorthin, denn es war immer irgendwo noch schöner, die Blumen noch dichter, der Wohlgeruch noch stärker, weil ihn da der Wind hin und her wehte; überall musste sie sich wieder hinsetzen.
So vergingen die Stunden.
Die Sonne war längst über den höchsten Stand am Mittag hinaus, als ein Trüppchen der Ziegen ganz entschlossen auf die Blumenwiese zugelaufen kam. Es war nicht ihr Weideplatz, sie wurden nie dahin geführt, denn es gefiel ihnen nicht, in den Blumen zu grasen. Sie sahen aus wie eine Gesandtschaft, der Distelfink voran. Die Ziegen waren offensichtlich losgezogen, um ihre Gesellschafter zu suchen, die sie so lange im Stich gelassen hatten und entgegen aller Gewohnheit nicht wiedergekommen waren, denn die Ziegen kannten ihre Zeit ganz genau. Als der Distelfink die drei Vermissten in dem Blumenfelde entdeckte, stieß er ein überlautes Meckern aus, und auf der Stelle stimmte der ganze Chor ein, und fortmeckernd kamen sie alle dahergetrabt.
Jetzt erwachte Peter. Er musste sich aber erst einmal die Augen reiben, denn er hatte geträumt, der Rollstuhl stehe wieder schön rot gepolstert und unversehrt vor der Hütte, und noch beim Erwachen hatte er die goldenen Nägel um das Polster herum in der Sonne blitzen gesehen, aber jetzt entdeckte er, dass es nur die gelben Glitzerblümchen auf dem Boden gewesen waren.
Jetzt kam bei Peter die Angst zurück, die er beim Anblick des unbeschädigten Stuhles ganz verloren hatte. Wenn auch Heidi versprochen hatte, nichts zu machen, so war doch nun die Furcht in Peter lebendig geworden, die Sache könnte auch sonst noch auskommen. Er ließ sich jetzt ganz zahm und willig zum Führer machen und tat alles perfekt so, wie Heidi es haben wollte.
Als nun wieder alle drei auf dem Weideplatz angekommen waren, holte Heidi hurtig ihren vollen Speisesack herbei und schickte sich an, ihr Versprechen einzulösen, denn auf den Inhalt des Sackes hatte sich ihre Drohung bezogen. Heidi hatte nämlich am Morgen bemerkt, wie viel gute Sachen der Großvater da hineinpackte, und mit Freuden hatte sie vorausgesehen, dass dem Peter davon ein guter Teil zufallen werde. Als er dann aber so störrig war, wollte Heidi ihm zu verstehen geben, dass er nichts davon abbekomme; Peter hatte das aber ganz falsch verstanden und anders gedeutet. Nun holte Heidi Stück für Stück aus ihrem Sack heraus und machte drei Häufchen davon, die wurden so hoch, dass sie voller Befriedigung vor sich hinsagte: "Dann bekommt er noch alles, was wir zuviel haben."
Jetzt trug Heidi jedem sein Häufchen zu, und mit dem ihrigen setzte sie sich neben Klara, und die Kinder ließen sich's gut schmecken nach der großen Anstrengung.
Es ging aber, wie Heidi vorausgesehen hatte: Als sie beide völlig satt waren, blieb noch so viel übrig, dass dem Peter noch einmal ein Häufchen, so groß wie das erste, zugeschoben werden konnte. Er aß still und beharrlich alles auf und dann noch die Krumen, aber er vollzog sein Werk nicht mit der gewohnten Befriedigung. Denn Peter lag etwas auf dem Magen, das nagte und schnürte ihm die Kehle zu, so dass ihm fast der Bissen im Hals stecken blieb.
Die Kinder waren so spät zu ihrer Mahlzeit gekommen, dass schon gleich danach der Großvater zu sehen war, der die Alm heraufstieg, um sie abzuholen. Heidi stürzte ihm entgegen; sie musste ihm zuerst sagen, was sich ereignet hatte. Heidi war aber so erregt von ihrer beglückenden Nachricht, dass sie kaum die richtigen Worte fand, um sie dem Großvater mitzuteilen. Er verstand aber sogleich, was das Kind berichtete, und eine helle Freude kam auf sein Gesicht. Er beschleunigte seinen Schritt, und bei Klara angekommen, sagte er fröhlich lächelnd:
"So, hast du's gewagt? Nun hast du's auch gewonnen!"
Dann hob er Klara vom Boden auf, umfasste sie mit dem linken Arm und hielt ihr seine Rechte als starke Stütze für ihre Hand hin, und Klara marschierte, mit der festen Wand im Rücken, noch viel sicherer und unerschrockener dahin, als sie vorher getan hatte.
Heidi hüpfte und jauchzte nebenher, und der Großvater sah aus, als sei ihm ein großes Glück widerfahren. Jetzt nahm er aber Klara mit einemmal auf seinen Arm und sagte: "Wir wollen's nicht übertreiben, es ist auch Zeit zur Heimkehr", und er machte sich gleich auf den Weg, denn er wusste, dass nun der Anstrengungen für heute genug waren und Klara der Ruhe bedurfte.
Als Peter spät am Abend mit seinen Ziegen ins Dörfli herunter kam, standen eine Menge Leute in einer Gruppe zusammen, und einer stieß den anderen ein wenig weg, um besser sehen zu können, was mittendrin am Boden lag. Das musste Peter auch sehen; er drückte und drängte rechts und links und bohrte sich hinein.
Da, jetzt sah er's.
Auf dem Grase lag das Mittelstück vom Rollstuhl, und noch ein Teil des Rückens hing daran. Das rote Polster und die glänzenden Nägel zeugten noch davon, wie prächtig der Stuhl ausgesehen hatte, als er noch ganz war.
"Ich war dabei, als sie ihn hinauftrugen", sagte der Bäcker, der neben dem Peter stand; "wenigstens 500 Franken war er wert, das wett ich mit jedem. Es wundert mich nur, wie das passieren konnte."
"Der Wind kann ihn heruntergejagt haben, das hat der Öhi selbst gesagt", bemerkte die Barbel, die nicht genug das schöne rote Zeug bewundern konnte.
"Es ist gut, dass es kein anderer ist, der's getan hat", sagte der Bäcker wieder; "dem ging's schlecht! Wenn es der Herr in Frankfurt vernimmt, wird er schon untersuchen lassen, wie's zugegangen ist. Ich für mich bin froh, dass ich seit zwei Jahren nie mehr auf der Alm war; der Verdacht kann auf jeden fallen, der um die Zeit dort oben gesehen wurde."
Es wurden noch viele Meinungen ausgesprochen, aber Peter hatte genug gehört. Er kroch ganz zahm und sachte aus der Menschenmenge heraus und lief mit aller Kraft den Berg hinauf, so als wäre einer hinter ihm her, der ihn packen wollte. Die Worte des Bäckers hatten ihm eine furchtbare Angst eingejagt. Er wusste ja jetzt, dass jeden Augenblick ein Polizeidiener aus Frankfurt ankommen konnte, der die Sache untersuchen musste, und dann konnte es doch rauskommen, dass er es getan hatte, und dann würden sie ihn packen und nach Frankfurt ins Zuchthaus schleppen. Das sah Peter vor sich, und seine Haare sträubten sich vor Schrecken.
Ganz verstört kam er daheim an. Er gab keine Antwort, auf gar nichts, er wollte seine Kartoffeln nicht essen; eilends kroch er in sein Bett hinein und stöhnte.
"Peterli hat wieder Sauerampfer gegessen, er hat's im Magen, dass er so ächzen muss", meinte seine Mutter Brigitte.
"Du musst ihm ein wenig mehr Brot mitgeben, gib ihm morgen noch ein Stück von dem meinen", sagte die Großmutter mitleidig.
Als die Kinder heute von ihren Betten in den Sternenschein hinausschauten, sagte Heidi:
"Hast du nicht heut den ganzen Tag denken müssen, wie gut es doch ist, dass der liebe Gott nicht nachgibt, wenn wir noch so sehr um etwas beten, wenn er etwas viel Besseres weiß?"
"Warum sagst du das jetzt auf einmal, Heidi?" fragte Klara.
"Weißt du, weil ich in Frankfurt so sehr gebetet habe, dass ich doch auf der Stelle heimgehen könne, und weil ich das immer nicht konnte, habe ich gedacht, der liebe Gott habe nicht zugehört. Aber weißt du, wenn ich so bald fortgelaufen wäre, so wärest du nie gekommen, und du wärest nicht gesund geworden auf der Alp."
Klara war ganz nachdenklich geworden. "Aber, Heidi", fing sie nun wieder an, "dann müssten wir ja um gar nichts beten, weil der liebe Gott ja schon immer etwas viel Besseres im Sinn hat, als wir wissen und wir von ihm erbitten wollen."
"Ja, ja, Klara, meinst du, es geht so einfach?" eiferte jetzt Heidi. "Alle Tage muss man zum lieben Gott beten und um alles, alles, denn er muss doch hören, dass wir es nicht vergessen, dass wir alles von ihm bekommen. Und wenn wir den lieben Gott vergessen wollen, so vergisst er uns auch, das hat die Großmama gesagt. Aber weißt du, wenn wir dann nicht bekommen, was wir gern hätten, dann müssen wir nicht denken, der liebe Gott hat nicht zugehört; wir dürfen dann nicht aufhören zu beten, sondern dann müssen wir so beten: Jetzt weiß ich schon, lieber Gott, dass du etwas Besseres im Sinn hast, und jetzt will ich nur froh sein, dass du es so gut machen willst."
"Wie ist dir das alles so in den Sinn gekommen, Heidi?" fragte Klara.
"Die Großmama hat es mir zuerst erklärt, und dann ist es auch so gekommen, und dann hab ich's gewusst. Aber ich meine auch, Klara", fuhr Heidi fort, indem sie sich aufsetzte, "heute müssen wir unbedingt dem lieben Gott noch richtig danken, dass er das große Glück geschickt hat, dass du jetzt gehen kannst."
"Ja sicher, Heidi, du hast recht, und ich bin froh, dass du mich noch erinnerst; vor lauter Freude hätte ich es fast vergessen."
Jetzt beteten die Kinder noch und dankten dem lieben Gott jedes in seiner Weise für das herrliche Gut, das er der so lange krank gewesenen Klara geschenkt hatte.
Am andern Morgen meinte der Großvater, nun könnte man einmal an die Frau Großmama schreiben, ob sie nicht jetzt auf die Alp kommen wolle, es wäre da etwas Neues zu sehen. Aber die Kinder hatten einen andern Plan gemacht. Sie wollten der Großmama eine große Überraschung bereiten. Erst sollte Klara das Gehen noch besser lernen, so dass sie, allein auf Heidi gestützt, einen kleinen Gang machen könnte; von allem aber sollte die Großmama keine Ahnung haben. Nun wurde mit dem Großvater beraten, wie lange das noch währen könnte, und da er meinte, kaum acht Tage, so wurde im nächsten Briefe die Großmama dringend eingeladen, um diese Zeit auf die Alp zu kommen; von etwas Neuem wurde ihr aber kein Wort berichtet.
Die Tage, die nun folgten, waren noch schöner als bisher. Jeden Morgen erwachte sie mit besonders großer Freude und guter Laune: "Ich bin gesund! Ich bin gesund! Ich muss nicht mehr im Rollstuhl sitzen, ich kann selbst umhergehen wie die anderen Menschen!"
Dann folgte das Umhergehen, und jeden Tag ging es leichter und besser, und immer längere Gänge konnten gemacht werden. Die Bewegung brachte dann einen solchen Appetit mit sich, dass der Großvater seine dicken Butterschnitten täglich ein wenig größer machte und mit Wohlgefallen sah, wie sie verschwanden. Er brachte jetzt auch immer einen großen Topf voll von der schäumenden Milch herbei und füllte Schüsselchen um Schüsselchen. So kam das Ende der Woche heran und damit der Tag, der die Großmama bringen sollte!