Eine Weihnachtsgeschichte
- Autor: Dickens, Charles
1. Marleys Geist - Teil 1
2. Marleys Geist - Teil 2
3. Marleys Geist - Teil 3
4. Der erste Geist - Teil 1
5. Der erste Geist - Teil 2
6. Der zweite Geist - Teil 1
7. Der zweite Geist - Teil 2
8. Der zweite Geist - Teil 3
9. Der dritte Geist - Teil 1
10. Der dritte Geist - Teil 2
11. Das Ende vom Lied
1. Marleys Geist - Teil 1
Zweifellos - Marley war tot. Schon deshalb, weil sein Totenschein vom Geistlichen, vom Küster, vom Leichenbestatter und vom Meistbetroffenen unterzeichnet war. Bei Letzterem handelt es sich um Scrooge, dessen Unterschrift bei den Banken, an der Börse und überhaupt bei allem und jedem, etwas galt.
Tja, der alte Marley war tot wie ein Sargnagel.
Natürlich wusste Scrooge, dass sein Geschäftspartner tot war. Immerhin war Scrooge Testamentsvollstrecker, Nachlassverwalter, rechtmäßiger Erbe und einziger Trauergast seines einzigen Freundes. Doch Scrooge war kein Mensch, der tiefe Trauer zeigte. So beging er den bedrückenden Tag der Beisetzung mit einem außergewöhnlich erfolgreichen Geschäftsabschluss.
Noch einmal erwähne ich, dass Marley tatsächlich tot war. Doch Scrooge ließ das Firmenschild mit der Aufschrift "Scrooge und Marley" nicht übermalen. So kam es, dass die Leute gelegentlich die Namen verwechselten und Scrooge mit Marley ansprachen, was ihm aber nichts ausmachte.
Oh, dieser Scrooge war ein Blutsauger und Halsabschneider. Der alte Sünder bekam immer, was er haben wollte, er entriss es den anderen, wrang es aus und raffte den Rest zusammen, um seinen Gewinn zu horten.
Äußere Temperaturen beeinflussten Scrooge wenig. Weder wärmte ihn Hitze noch konnte Frost ihn erkranken lassen. Seine innere Kälte trotzte jedem peitschenden Sturm und Schneeflocken oder Platzregen schien er gar nicht zu bemerken. Nur in einem waren Hagelschauer und Schneestürme besser als er, sie verteilten ihre Gaben freizügig. Scrooge dagegen verteilte nichts.
Niemand begegnete ihm auf der Straße, um ihm mit freundlichen Worten eine Einladung auszusprechen. Nicht einmal Bettler baten um einen Groschen, kein Kind fragte ihn nach der Uhrzeit und weder Mann noch Frau hatten ihn jemals nach dem Weg gefragt. Sogar Blindenhunde zerrten ihre Begleiter in kleine Gassen, bis Scrooge vorübergegangen war. Schwanzwedelnd signalisierten sie: "Es ist besser kein Augenlicht zu haben, als so böse Augen, mein blinder Herr!" Doch Scrooge kümmerte das nicht. Im Gegenteil, gerade das gefiel ihm.
Eines Tages saß der gute alte Scrooge eifrig beschäftigt in seinem Büro. Es war der Weihnachtsabend und das Wetter war schneidend kalt und trübe.
Scrooges Bürotüre stand offen. So konnte er seinen Gehilfen im Auge behalten, der nebenan in einer kleinen düsteren Zelle Briefe kopierte. Scrooges Kaminfeuer war schon klein, doch das seines Gehilfen glich einer einzelnen glimmenden Kohle. Hatte Scrooge ihm doch das Nachlegen untersagt. Als würde das nicht schon reichen, bewahrte er den Kohlenvorrat in seinem eigenen Zimmer auf, und sobald sein Gehilfe mit der Schaufel unter der Türe stand, drohte Scrooge dem Armen, ihn zu entlassen. Da wickelte der Gehilfe seinen weißen Schal fester um und begnügte sich damit, seine Hände an der Flamme einer Kerze zu wärmen. Dies gelang ihm nicht wirklich, da er kein besonders fantasievoller Mensch war.
"Fröhliche Weihnachten, Onkel! Gott beschütze Sie!", rief eine fröhliche Stimme, die Scrooges Neffen gehörte, der so schnell hereingekommen war, dass sein Onkel ihn erst zögernd erkannte.
"Pah! Unsinn!", brummte Scrooge.
"Aber Onkel, Sie können doch unmöglich das Weihnachtsfest für Unsinn halten", erwiderte Scrooges Neffe empört.
"Weshalb nicht", rief Scrooge übellaunig. "Wie kommst du dazu, die Weihnachtszeit für eine fröhliche Zeit zu halten? Lass mich in Ruhe damit. Weihnachten ist nichts anderes als die Zeit, in der man Rechnungen begleichen muss und kein Geld dafür hat - eine Zeit, in der du um ein Jahr alterst, während du nicht eine Stunde reicher wirst - eine Zeit der Jahresabrechnungen! Wenn ich könnte, wie ich wollte", polterte Scrooge weiter, "dann würde jeder, der es wagt mir frohe Weihnachten zu wünschen, in seinem eigenen Weihnachtspudding gekocht und mit einem Stechpalmenzweig im Herzen beerdigt werden. Ja, so stelle ich mir das vor!"
"Aber Onkel!", rief der Neffe entsetzt.
"Nein!", unterbrach Scrooge finster, "mach du an Weihnachten, was du willst, aber lass mich den Tag nach meiner Art feiern."
"Das nennen Sie feiern, Onkel? So sieht doch keine Feier aus."
"Mag sein, dann feiere ich eben nicht. Möge es dir Gutes tun, wie es dir bisher viel Gutes gebracht hat."
"Ja, Onkel. Mag sein, dass es Dinge gab, die mir nützten, ohne jemals einen Nutzen daraus gezogen zu haben. Und Weihnachten gehört sicher dazu. Aber ganz abgesehen von der Ehrfurcht vor dem heiligen Namen und der Herkunft - wenn man das überhaupt trennen kann - habe ich das Christfest immer als eine liebevolle, schöne Zeit im Jahr empfunden, in der Menschen ihre verschlossenen Herzen öffnen. Es scheint die einzige Zeit im Jahr, in der Menschen sich als Weggefährten zum Grabe sehen und nicht wie Angehörige fremder Art und fremden Ziels. Und deshalb, Onkel, bin ich mir ganz sicher, dass es mir immer Gutes gebracht hat, und wieder Gutes bringen wird - auch wenn mir nie ein Gold- oder Silberstück dabei in die Taschen hüpfte. Trotzdem sage ich: Gesegnete Weihnachten!"
Scrooges Gehilfe applaudierte in seiner Zelle.
"Wenn ich noch einen Ton von Ihnen höre, dann feiern Sie Weihnachten damit, dass Sie Ihre Stelle verlieren", sagte Scrooge.
Und zu seinem Neffen gewandt meinte er: "Du schwingst ja großartige Reden. Da wundert es mich, dass du nicht im Parlament sitzt."
"Onkel, so regen Sie sich doch nicht so auf. Kommen Sie lieber morgen zu uns zum Essen."
Scrooge keifte, dass er seinen Neffen vorher lieber in äußerster Not sehen wolle. Ja, das sagte er wirklich!
"Aber weshalb?", rief sein Neffe verzweifelt.
"Warum hast du dich verheiratet?", fragte Scrooge.
"Weil ich mich verliebt habe."
"Weil er sich verliebt hat. Ha!", knurrte Scrooge und es war klar, dass er diese Tatsache beinahe noch lächerlicher fand als das ganze Weihnachtsfest. "Guten Abend!"
"Ach Onkel, vor meiner Heirat haben Sie mich auch nie besucht. Weshalb geben Sie nun diesen Grund an, dass Sie uns nicht besuchen wollen?"
"Guten Abend!", rief Scrooge resolut.
"Ich möchte doch nichts anderes von Ihnen, als dass wir Freunde werden."
"Guten Abend!", sagte Scrooge noch einmal.
"Es tut mir von Herzen leid, Sir, Sie so hartherzig zu sehen. Nie gab es einen Streit zwischen uns, zu dem ich Anlass gegeben hätte. Allein wegen des Weihnachtsfestes startete ich diesen Versuch. Doch lasse ich mir dadurch meine Festtagsstimmung nicht verderben. Nun denn, fröhliche Weihnachten, Onkel."
"Guten Abend", rief Scrooge.
"Und ein gesegnetes neues Jahr."
"Guten Abend", rief Scrooge voller Ungeduld.
Trotz dieses Disputs verließ der Neffe das Büro ohne ein verächtliches Wort. Draußen wünschte er dem Gehilfen noch ein frohes Fest, der die Wünsche trotz seines Frierens wärmer erwiderte als Scrooge.
Als der Gehilfe Scrooges Neffe hinausbegleitete, war er so ungeschickt, zwei fremde Männer hereinzulassen. Nun standen zwei stattliche Herren im Büro, ihre Hüte, Bücher und Papiere in den Händen. Sie verbeugten sich.
Einer der beiden begann mit der Rede. "In diesen feierlichen Tagen, Mr. Scrooge, denken sicher auch Sie an die Armen und Bedürftigen. Tausende haben nicht einmal die notwendigsten Dinge und Hunderttausende entbehren jeglicher Bequemlichkeiten, Sir."
"Gibt es keine Gefängnisse mehr?", polterte Scrooge.
"Doch, es gibt genügend davon", antwortete der Herr. "Ebenso gibt es Armenhäuser!"
"So ist die Tretmühle also noch in voller Kraft", entgegnete Scrooge.
"Ja, dennoch sind wir davon überzeugt, dass diese Einrichtungen für die geistigen oder körperlichen Bedürfnisse der Menge wenig christliche Nahrung bieten. Deshalb sind einige von uns bemüht, wenigstens den Bedürftigen das Notwendigste zukommen zu lassen. Gerade in der Weihnachtszeit verspüren die Menschen diesen Mangel am heftigsten. Wie viel wollen Sie spenden?", fragte der Herr.
"Nichts, lassen Sie mich in Ruhe!", rief Scrooge. "Nun haben Sie meine Antwort. Ich kann mir auch am Weihnachtsfest nicht leisten, Faulpelze darin zu unterstützen, sich einen amüsanten Tag zu machen. Sie kosten uns genug, mit meiner Steuer unterstütze ich die Gefängnisse und Armenhäuser - dort sollen sie hingehen."
"Viele würden das gerne tun, viele würden aber auch lieber sterben", entgegnete der Herr.
"Na denn, wenn sie lieber sterben wollen, dann sollen sie es tun!", erwiderte Scrooge. Mit wesentlich besserer Laune nahm Scrooge seine Beschäftigung wieder auf. Draußen war es inzwischen dunkel und neblig. Die Menschen liefen mit brennenden Fackeln durch die Straßen und Kälte kroch durch die Gassen.
Endlich nahm der Arbeitstag sein Ende. Scrooge stand auf, setzte seinen Hut auf und richtete den Blick auf seinen Gehilfen. "Sie wollen morgen wahrscheinlich den ganzen Tag frei haben, oder?"
"Wenn das ginge, Sir."
"Das geht natürlich nicht! Ich darf ihnen dafür nicht einmal ein paar Groschen von Ihrem Lohn abziehen, sonst würden Sie sich schlecht behandelt fühlen."
Betreten lächelnd stand der Gehilfe vor Scrooge.
Scrooge fuhr fort: "Doch Sie haben kein schlechtes Gewissen, Lohn von mir zu erhalten, ohne dafür zu arbeiten."
"Es kommt doch nur einmal im Jahr vor", sagte der Gehilfe.
"Armselige Erklärung, um mir jedes Jahr am fünfundzwanzigsten Dezember einen Tageslohn aus der Tasche zu ziehen. Doch Sie müssen wohl den ganzen Tag freinehmen. Dafür kommen Sie übermorgen dann früher, verstanden?", maulte Scrooge.
Im Nu war das Büro geschlossen. Der Gehilfe, dem die Enden seines weißen Schals bis zur Hose baumelten - einen Mantel besaß er nicht - fuhr aus Freude und zu Ehren des Weihnachtsfestes zwanzigmal die Schlitterbahn auf Cornhill hinab. Danach begab er sich zügig in seine Wohnung nach Camdentown, um dort blinde Kuh zu spielen.
2. Marleys Geist - Teil 2
Wie gewöhnlich nahm Scrooge sein trübseliges Mahl in seinem gewohnt tristen Gasthaus ein. Er las zuerst alle Zeitungen, bevor er sich den Rest des Abends mit der Durchsicht der Rechnungsbücher beschäftigte. Danach begab er sich auf den Heimweg.
Scrooge wohnte in den düsteren Räumen, die früher sein verstorbener Partner bewohnt hatte. Es handelte sich um eine Reihe von Räumen in einem finsteren Gebäude in einem noch finstereren Hof. Dies alles schien jetzt alt und traurig, niemand außer Scrooge wohnte hier. Die übrigen Räume waren als Geschäftsräume vermietet.
So ging Scrooge in den dunklen Hof, der so düster war, dass er sich mit den Händen weitertasten musste. Bis er zu seinem Türklopfer kam. Scrooge kannte ihn genau und es war nicht mehr daran zu sehen als jeden Abend und jeden Morgen, wenn der fantasielose Scrooge nach Hause kam.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass Scrooge seit dem Tod seines Geschäftspartners vor sieben Jahren nicht mehr an Marley gedacht hatte. Wenn man all dies in Betracht zieht, ist es schwer zu erklären, dass Scrooge ausgerechnet heute in dem Klopfer nicht einfach nur seinen Türklopfer erkannte, sondern Marleys Gesicht.
Ja, tatsächlich. Marleys Gesicht. Es lag nicht im Schatten sondern strahlte in gespenstischem Schein, wie ein faulender Hummer im Kellerloch. Es blickte weder wütend noch wild, sondern sah Scrooge mit gewöhnlichem Gesichtsausdruck an. Wie Marley eben - mit gespenstischer Brille auf die geisterhafte Stirn geschoben, das Haar vom Wind zerzaust.
Als Scrooge noch einmal konzentrierter hinsah, erkannte er wieder den Klopfer vor sich. Mutig drehte er den Schlüssel, trat ein und zündete das Licht an. Dann rief er: "Blödsinn!", und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Es klang wie ein Donner durchs Haus, dass das Echo vom oberen Stockwerk bis hinunter zu den Kellern des Weinhändlers zu hören war.
Doch Scrooge ließ sich nicht von einem Echo einschüchtern. Nachdem er die Tür verriegelt hatte, ging er durch die Halle, langsam die Treppe hinauf; lediglich die Kerze diente ihm als Beleuchtung. Jedoch kümmerte Scrooge die Dunkelheit keinen Deut, denn sie war billig. Und das mochte Scrooge sehr gerne. Trotzdem kontrollierte er zuerst die Räume, denn das Gesicht spukte ihm immer noch im Kopf herum.
Wohnraum, Schlafzimmer, Rumpelkammer - alles Normal. Niemand unter dem Tisch, niemand unter dem Sofa. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, daneben lag ein Gedeck bereit und ein kleiner Topf mit Haferbrei. Niemand befand sich unter dem Bett, niemand im Schrank, keiner unter seinem Schlafrock, der in eigenartiger Haltung am Haken hing. Wie gewohnt - der alte Kaminschirm, ein Paar alte Schuhe, zwei Fischkörbe, ein Waschtisch auf drei Beinen und ein Schürhaken.
Zufrieden schloss Scrooge die Tür und drehte ausnahmsweise den Schlüssel zweimal um, was so gar nicht seiner Gewohnheit entsprach. Nun nahm er das Halstuch ab, zog Schlafrock und Pantoffeln an. Er setzte sich vor den Kamin, die Nachtmütze auf dem Kopf und begann, seinen Haferbrei zu essen.
Während Scrooge über die jüngsten Geschehnisse nachdachte, fiel sein Blick zufällig auf einen unbenutzten Klingelzug, der ohne Zweck im Zimmer hing. Irgendwie musste er mit den Räumen im Obergeschoss in Verbindung stehen, so viel wusste er jedenfalls. Erstaunt stellte er fest, dass die Klingel sich zu bewegen begann. Anfangs ganz fein, immer lauter werdend, bis alle Klingeln im Hause dem Beispiel folgten.
Tief unten hörte man ein klirrendes Geräusch, als ob im Keller des Weinhändlers jemand Ketten über die Fässer schleifte. Scrooge erinnerte sich daran, gehört zu haben, dass Geister, die in alten Häusern umherspukten, mit Ketten rasselten. Die Kellertür flog ins Schloss und er hörte, dass das Geräusch die Treppe heraufkam, bis vor seine Tür.
Obwohl Scrooge es nicht glauben wollte, wurde er blass, als der Spuk unerwartet vor seinen Augen durch die Tür ins Zimmer trat. Beim Eintritt schnellte die kleine Flamme hoch, als wollte sie rufen: "Ich erkenne ihn! Es ist Marley, Marleys Geist!" Dann nahm das Feuer wieder ein normales Ausmaß an.
3. Marleys Geist - Teil 3
Es war dasselbe Gesicht, ganz genau dasselbe! Marley mit seinem Zopf, der Weste, der Hose und den Stiefeln, die er gewöhnlich trug. Nur sein Leib war durchsichtig, sodass Scrooge lediglich die zwei Knöpfe an der Hinterseite des Rockes erkennen konnte.
Früher hatte Scrooge oft gehört, Marley besäße kein Herz. Er hatte es nie geglaubt, doch nun konnte er sich selbst davon überzeugen. Aber eigentlich glaubte er es immer noch nicht. Obwohl er durch den Geist hindurchblicken konnte, der Schauer den der Anblick der kalten, toten Augen in ihm auslöste, ihn frösteln ließ, und er das Tuch erkannte, das um Haupt und Kinn geschlungen war, und das er früher nicht bemerkt hatte, misstraute er dem Anblick immer noch.
Scrooge fragte kühl und bissig: "Was wollt Ihr!"
"Viel!"
Das war Marleys Stimme, zweifelsfrei.
"Wer seid Ihr?"
"Fragt mich, wer ich war."
"Nun denn, wer wart Ihr?", fragte Scrooge mit scharfer Stimme.
"Im richtigen Leben war ich euer Partner, Jacob Marley."
"Könnt Ihr Euch setzen?", fragte Scrooge verunsichert.
"Ja."
"Dann tue es."
Scrooge stellte diese Frage nur, weil er sich nicht sicher, war, ob ein Geist überhaupt in der Lage war, sich auf einem so gewöhnlichen Gegenstand wie einem Stuhl niederzulassen. Doch der Geist setzte sich auf die andere Seite des Kamins, als hätte er nie etwas anderes getan.
"Du glaubst nicht an mich?" fragte der Geist.
"Nein", antwortete Scrooge.
"Weshalb traust du deinen Sinnen nicht?"
Scrooge zögerte einen Moment: "Weil , weil sie durch eine Winzigkeit beeinträchtigt sein können. Eine Magenverstimmung kann schon bewirken, dass sie mich täuschen. Vielleicht bist du ein kleines Stück Rindfleisch, ein Käserindchen oder ein Stückchen schlecht gekochte Kartoffel. Vermutlich ist für deine Erscheinung eher verdorbene Brühe verantwortlich als schnöder Friedhofsumtrieb."
Scrooge war nicht spaßhaft zumute und die gespenstische Erscheinung nebst dessen Stimme ging ihm durch und durch. Trotzdem versuchte er, geistreich zu wirken, und nicht ohnmächtig zusammenzusinken. Auch wenn er sich dazu am Stuhl stützen musste. Doch als das Gespenst sein Tuch vom Kopf wickelte und sein Unterkiefer auf die Brust hinabklappte, war Scrooges Entsetzen unbeschreiblich.
"Gnade", rief er, "warum nur kommst du zu mir."
"Ein jeder Mensch muss während seines Lebens Gutes tun. Bleibt seine Seele während seiner Lebenszeit still, so trifft ihn ein Fluch und er muss nach seinem Tode die versäumten mildtätigen Taten vollbringen. Dann ist seine arme Seele dazu verdammt, durch die Welt zu irren - wie es mir nun bestimmt ist. Und das, obwohl es mir durchaus möglich gewesen wäre, auf Erden mein Glück im Vollbringen von guten Taten zu finden!"
Der Geist schepperte grauenerregend mit seiner Kette. "Du bist gefesselt?", fragte Scrooge mit bebender Stimme.
"Es ist die Kette, die ich mir im Leben schmiedete", antwortete der Geist. "Glied für Glied habe ich sie geschaffen und aus freiem Willen trug ich sie. Ist dir das so fremd?"
Scrooge zitterte nun am ganzen Leib, während der Geist weiterredete: "Oder willst du gar Gewicht und Länge deiner Fessel selbst erfahren? Vor sieben Jahren war sie so lang und schwer wie diese hier", ereiferte sich der Geist und schepperte mit erhobener Hand mit seiner Kette. "Und denke daran, seitdem hast du fleißig daran gearbeitet. Eine gewichtige Kette ist daraus geworden"
Scrooge blickte erschrocken zu Boden, konnte aber glücklicherweise keine Kette erkennen. "Gib mir einen Rat, Jacob Marley", rief Scrooge der Verzweiflung nahe.
"Ich habe keinen Trost für dich, Ebenezer Scrooge", erwiderte der Geist, "außerdem ist es mir nicht gestattet, zu sagen, was ich möchte. Ich darf nicht ausruhen, nirgends bleiben. Früher, als ich noch lebte, kam mein Geist nie über unser Büro hinaus. Deshalb muss ich nun wandern, lange mühevolle Wege hinter mich bringen."
Wie immer, wenn Scrooge in tiefe Gedanken versunken war, schob er die Hände in seine Hosentasche. Er ging auf und ab, während er grübelte. "Da warst du aber ziemlich langsam, Jacob", brummte er in geschäftsmäßiger Manier.
"Langsam?", empörte sich der Geist.
"Ja. Du bist sieben Jahre tot und während der ganzen Zeit gereist. Darf man fragen, wie du gereist bist?"
"Auf den Schwingen des Windes", antwortete der Geist.
"Dann müsstest du weit herumgekommen sein", sagte Scrooge.
"Oh du Blinder", rief die Spukgestalt, "es Bedarf der Jahrhunderte, ja - einer Ewigkeit, die angefüllt ist mit beharrlicher Mühe unsterblicher Geschöpfe, bevor sich das Gute, dessen diese Erde fähig ist, verwirklichen mag. Dass du nicht erkennst, dass jeder Christ, egal wie klein sein demütiges Wirken auch sein mag, unendlich Nutzvolles in der Welt vollbringt, sodass seine Lebenszeit viel zu kurz scheint für diese dienliche Tat. Aber auch ich war so, genau so."
"Jacob, du warst doch immer ein guter Geschäftsmann", murmelte Scrooge.
"Pah, Geschäftsmann?!", regte sich das Gespenst auf. "Den Menschen hätte ich dienen sollen. Wohltätig hätte ich sein sollen. Ich hätte mich Dingen wie der Liebe, Barmherzigkeit, Nachsicht und Wohlwollen annehmen sollen. Mein Beruf war nur der kleinste Teil dessen, was ich hätte bewirken sollen!"
Scrooge zitterte inzwischen am ganzen Leib, so ungeheuerlich fand er die Worte des Geistes.
Der Geist rief: "Höre mir zu! Ich habe nicht mehr viel Zeit."
"Ja, doch sei nicht zu streng mit mir. Rede geradeheraus mit mir, Jacob."
"Ich darf dir nicht sagen, weshalb ich dir in dieser Gestalt erscheinen darf. Unsichtbar verweilte ich bereits mehrmals in deiner Gesellschaft. Heute Nacht bin ich hier, um dich zu warnen. Dies ist ein kleiner Teil meiner Buße. Du kannst noch hoffen, meinem Schicksal auszuweichen - eine Möglichkeit, die ich dir geschaffen habe, Ebenezer."
"Stets bist du mir ein guter Freund gewesen", sagte Scrooge. "Ich danke dir."
"Drei Geister werden dir erscheinen", sprach das Gespenst weiter.
Scrooges Gesicht zog sich ebenso in die Länge, wie das der Erscheinung.
"Das soll der Hoffnungsschimmer sein, von dem du sprachst, Jacob?", fragte Scrooge mit holpriger Stimme.
"Nun ja."
"Dann würde ich lieber verzichten", sagte Scrooge.
"Ohne den Besuch der Geister wird es für dich keine Hoffnung mehr geben. Du willst doch den Pfad vermeiden, dem ich zu folgen gezwungen bin, oder? Also, mache dich für den ersten Geist bereit, morgen auf den Glockenschlag um eins."
"Oh, Jacob, könnte ich nicht alle drei zusammen erwarten. Dann wäre die Sache erledigt?", fragte Scrooge.
"Der zweite Geist wird in der folgenden Nacht um dieselbe Stunde erscheinen. Der Dritte wird dir übermorgen erscheinen, wenn der letzte Glockenschlag um Mitternacht verklungen ist. Mich solltest du nicht mehr wiedersehen und ich rate dir, vergiss nicht, was zwischen uns vorgefallen ist."
Mit diesen Worten wich das Spukgespenst vor Scrooge zurück. Es nahm sein Tuch und band es wieder um, und mit jedem Schritt, den es machte, schob sich das Schiebefenster ein wenig mehr zurück, bis es ganz geöffnet war. Das Gespenst wartete kurz, lauschte und schwebte in die dunkle Nacht hinaus.
Neugierig trat Scrooge ans Fenster und blickte verzweifelt hinaus. Er schloss das Fenster und untersuchte die Tür, durch die das Gespenst eingetreten war. Sie war doppelt verschlossen und das Schloss war unbeschädigt. "Unsinn", wollte er sagen, doch es kam kein Laut über seine schlaftrunkenen Lippen. Und weil er so müde war - ob von der mühevollen Arbeit oder seines Einblicks in die unsichtbare Welt oder wegen der düsteren Unterhaltung mit dem Geist oder wegen der fortgeschrittenen Stunde - ging er, ohne sich auszukleiden, umgehend ins Bett und schlief ruckzuck ein.
4. Der erste Geist - Teil 1
Als Scrooge erwachte, war es derart finster, dass er kaum zwischen Fenster und Wand unterscheiden konnte. Er versuchte mit seinen Wieselaugen die Dunkelheit zu durchdringen, als die Kirchenglocke die volle Stunde schlug. Es war ein Uhr.
Triumphierend rief Scrooge: "Nichts weiter als eine volle Stunde!"
Da blitzte Licht im Zimmer auf und die Vorhänge an seinem Bett wurden zurückgezogen. Hektisch versuchte Scrooge, sich aufzurichten. So fand er sich halb sitzend einem überirdischen Besucher gegenüber. Seltsam sah er aus - fast wie ein Kind. Oder glich er eher einem alten Mann, der die Statur eines Kindes hatte? Das weiße Greisenhaar fiel über den Rücken und der Geist hatte keine einzige Falte im Gesicht. Im Gegenteil, seine Wangen schimmerten leicht rot.
Die gespenstische Gestalt hielt einen Stechpalmenzweig in der Hand, was im Widerspruch zu dem mit Sommerblumen geschmückten Gewand stand. Das Wundersamste an dem Geist aber war das klare Licht, das vom Scheitel hinauf strömte. Dieser Lichtstrom war zuvor vermutlich durch den Löschhut verdeckt gewesen, den das Gespenst gerade unter dem Arm hielt.
"Du bist der Geist, der mir vorhergesagt wurde?", fragte Scrooge.
"Nun ja."
"Wer genau bist du und was machst du hier?"
"Ich bin der Geist der vergangenen Weihnacht und deiner Vergangenheit. Nur zu deinem Wohle verweile ich hier."
Scrooge brummelte, er sei ihm sehr zu Dank verpflichtet. Dennoch wäre eine ungestörte Nachtruhe ebenso von Vorteil gewesen.
Der Geist nahm Scrooge beim Arm und forderte ihn auf: "Komm mit mir. Steh auf!"
Scrooge führte an, dass weder das Wetter noch die fortgeschrittene Stunde zu einem Spaziergang in kalter Nacht geeignet seien. Außerdem sei er sehr erkältet und obendrein trüge er nur Pantoffeln, Schlafrock und Nachtmütze! Doch obwohl der Griff seines Besuchers sanft war, gleich der einer Frau, erhob sich Scrooge. Mit zitternder Hand griff er nach dem Gewand des Geistes, der sich bereits dem Fenster zugewandt hatte, und bemerkte: "Ich werde hinunterfallen - bin ich doch nur ein Mensch."
Doch der Geist berührte Scrooges Herz mit der Hand. Dann ging es ganz schnell. Gemeinsam schritten sie durch die Mauer und fanden sich auf offener Landstraße wieder. Von der Stadt war nichts mehr zu sehen. Auch Düsterkeit und Nebelschleier waren einem klaren, kalten Wintertag gewichen.
Während sie über die schneebedeckte Erde gingen, wirbelten Scrooge längst vergessene Gedanken durch den Kopf. Die Luft, die er einatmete, erinnerte ihn an Hoffnungen, Freuden und Sorgen, die er längst abgeschlossen glaubte.
Mitten in die Gedanken hinein fragte der Geist: "Erinnerst du dich an den Weg?"
"Und ob ich mich erinnere", rief Scrooge.
"Wie seltsam", murmelte der Geist, "dass du ihn dann so viele Jahre vergessen konntest."
Entlang der Straße durchschritten sie Scrooges Stationen der Vergangenheit. Sie trafen auf seine Schule, sahen Schatten von längst vergangenen Vorkommnissen, den alten Papagei "Ali Baba" und sogar seine liebe Schwester, die Mutter jenes Neffen, der ihn zum Weihnachtsessen geladen hatte.
Vor der Tür eines bestimmten Geschäfts stoppte der Geist und fragte: "Und - erinnerst du dich?"
"Natürlich erkenne ich es. Hier machte ich meine Ausbildung."
Der Geist ging Scrooge voran hinein. Hinter einem hohen Pult saß ein alter Mann mit Perücke, der - wäre er um einige Zentimeter größer gewesen - seinen Kopf an die Decke gestoßen hätte. Aufgeregt rief Scrooge: "Das ist ja der alte Fezziwig! Gott behüte - der alte Fezziwig wie er leibt und lebt!"
Der alte Mann blickte auf seine Uhr, die sieben anzeigte, und legte die Schreibfeder nieder. Er zog seine weite Weste zurecht, rieb sich die Hände und begann fröhlich zu lachen. "Hey, Ebenezer! Dick!" Daraufhin betrat Scrooges früheres Ich, in Gestalt eines jungen Mannes mit dem anderen Lehrling den Raum.
Scrooge sagte zu dem Geist: "Das ist ja wirklich Dick Wilkins! Gott behüte - er mochte mich immer sehr, der brave Dick."
Fezziwig rief: "Auf, meine Jungen! Heute ist Weihnachtsabend. Christfest. Räumt auf, damit wir genügend Platz haben!" Und es gab tatsächlich nichts, was man nicht irgendwie zur Seite schieben oder verrücken konnte. Unter Fezziwigs Blick wurde der Boden gekehrt, die Lampen geputzt, Feuer gemacht und in Windeseile glich der vormals nüchterne Geschäftsraum einem gemütlichen, trockenen und hellen Ballsaal.
Ein Fiedler kam herein und ging mit seinem Notenbuch zum hohen Pult. Er stimmte seine Geige, dass es eine Freude war. Nach und nach betraten immer mehr Leute den Raum. Erst eine lächelnde Mrs. Fezziwig, dann die drei liebenswürdigen Misses Fezziwigs, gefolgt von ihren sechs Verehrern. Danach folgten alle Angestellten des Geschäfts, das Hausmädchen mit ihrem "Vetter", dem Bäcker ebenso die Köchin mit "dem besten Freund ihres Bruders", dem Milchmann. Selbst der Knabe von nebenan trat ein. Von ihm wusste man, dass sein Meister ihm nicht genug zu essen gab.
So verschieden sie waren, so traten sie auch ein - mutig, schüchtern, dreist, linkisch, schiebend oder stoßend. Im Rhythmus des Geigenspiels stoben an die zwanzig Paare den Raum hinauf und hinunter. Die Gesellschaftstänze aufs chaotischste ausgereizt standen die Paare meist an der falschen Stelle, alle wollten vorne stehen, keiner mochte das hinterste Paar sein. Fezziwig klatschte in die Hände, rief: "Bravo", als Zeichen dafür, dass der Tanz beendet war.
Schnell nutzte der Fiedler die Pause, um sein glühendes Gesicht in einem Krug Porter abzukühlen, der eigens zu diesem Zwecke da stand. Dann folgten noch viele Tänze, Kuchen und Punsch. Man brachte ein großes Stück kalten Rostbraten, gesottenes Fleisch, Fleischpasteten und Bier.
Der Knaller des Abends war jedoch, als der Fiedler zum Großvatertanz "Sir Roger de Coverley" aufspielte. Da erhob sich der alte Fezziwig, um seine Frau zum Tanz aufzufordern. Als erstes Paar hatten sie ein gehöriges Stück Arbeit vor sich - denn es folgten drei- oder vierundzwanzig Paare, die mittanzen wollten. Alles Leute, mit denen nicht zu spaßen war! Leute, die tanzen wollten - sich keinesfalls mit kleinen Schritten begnügten. Doch Fezziwig und seine Gattin waren allen gewachsen.
Pünktlich um elf Uhr wurde der Hausball beendet. Mr. und Mrs. Fezziwig stellten sich an die Tür und drückten den hinausgehenden Leuten herzlich die Hand und wünschten ihnen frohe Weihnachten. Den beiden Lehrlingen wünschten sie ebenfalls ein frohes Fest, jedoch verließen die beiden nicht das Haus, weil sich ihre Lagerstatt unter einem Zahltisch im Hinterladen befand.
"Es braucht nicht viel, um diese einfachen Menschen mit so viel Dankbarkeit zu erfüllen", sagte das Gespenst.
"Eine Kleinigkeit", erwiderte Scrooge.
"Na ja, ist es nicht so? Nur drei oder vier Pfund eures sterblichen Geldes hat er ausgegeben - verdient er deshalb so viel Lob?"
Scrooge ereiferte sich. "Das ist es nicht. Ihm allein mag es gelingen, uns glücklich oder unglücklich zu machen, uns die Arbeit zu erleichtern oder zu erschweren. Seine Macht liegt in Worten und Blicken, in geringen unbedeutenden Dingen, die unmöglich abzuschätzen sind. Trotzdem ist das Glück, das er ermöglicht, so groß, als hätte es sein ganzes Vermögen verschlungen."
Als Scrooge den Blick des Geistes sah, hielt er inne.
"Was ist los", fragte der Geist.
"Nichts."
"Aber ja doch, mir scheint, dich beschäftigt etwas."
"Nein, nein - obwohl, wenn ich vielleicht meinem Gehilfen einige Worte sagen könnte "
5. Der erste Geist - Teil 2
Der Geist erinnerte daran, dass seine Zeit nur kurz bemessen sei. "Rasch", rief er.
Da sah Scrooge abermals sein Ich - diesmal war er älter, ein Mann in den besten Jahren. Und er saß neben einem schönen jungen Mädchen in schwarzen Kleidern. Ihr Gesicht war tränennass.
"Für dich bedeutet es nicht viel", sagte sie. "ein anderes Idol hat mich von meinem Platz verdrängt, ein Idol, das dich künftig trösten und erfreuen mag. Ich hätte es ebenso versucht - doch bleibt mir kein Grund zu klagen."
"Welches Götzenbild meinst du?", fragte Scrooge, der nicht verstand.
"Ein Goldenes, Glänzendes."
Nun verstand Scrooge: "Die Welt ist gegen nichts so hart wie gegen die Armut. Gleichzeitig verdammt sie jeden, der nach Gewinn strebt."
"Du hast Angst vor der Welt", entgegnete sie sanft. "Ich weiß um deine edlen Bestrebungen, die immer mehr verschwanden, bis du ganz und gar von der Leidenschaft nach Reichtum erfüllt warst."
"Was hat das mit uns zu tun? Ich bin eben gescheiter geworden, das soll dich doch nicht stören. Oder habe ich unsere Verlobung gelöst?"
"Unsere Verbindung entstand in einer Zeit, als wir beide arm waren - und zufrieden. Damals warst du ein anderer Mann. Ja, du hast dich verändert. Würden wir uns heute wieder treffen, gäbe es keine Bemühungen mehr um mich!"
"Das glaubst du nicht wirklich", rief Scrooge.
"Zu gerne würde ich das Gegenteil glauben. Doch wärest du heute frei - wie könnte ich da sicher sein, dass du mich zur Frau nimmst und nicht ein reiches, vermögendes Mädchen", rief das Mädchen aufgeregt. "Deshalb gebe ich dich frei - wenn auch schweren Herzens. Mögest du in dem Leben glücklich werden, das du ausgesucht hast!"
Das Mädchen verschwand und Scrooge rief: "Geist! Ich will nichts mehr sehen. Weshalb quälst du mich so Bring mich nach Hause."
"Ich sagte doch, dass es die Schatten deiner Vergangenheit sind. Da darfst du mir keinen Vorwurf machen", antwortete der Geist.
"Bring mich weg von hier! Ich kann es nicht ertragen!", rief Scrooge verzweifelt. Um ihn herum vermischten sich die Gesichter. Er kämpfte mit dem Gespenst. "Umspuke mich nicht länger", polterte er und drückte seinem gespenstischen Begleiter schnell den Löschhut auf den Kopf.
Als der Geist verschwunden war, fühlte Scrooge sich seltsam schläfrig und erschöpft. Er fand sich in seinem Schlafzimmer wieder und konnte gerade noch rückwärts zu seinem Bett taumeln, bevor er in tiefen Schlaf sank.
6. Der zweite Geist - Teil 1
Aus heftigem Schnarchen heraus, erwachte Scrooge zur vollen Stunde. Es war Schlag ein Uhr, als er sich in seinem Bett aufsetzte. Scharf blickte er im Zimmer umher, denn er wollte sich nicht von einem Geist erschrecken lassen.
Er war auf fast alles vorbereitet, jedoch war er nicht darauf gefasst, nichts zu sehen. So begann er heftig zu zittern, als er niemanden im Raum vorfand. Es verging eine viertel Stunde, doch nichts tat sich. Währenddessen lag er in seinem Bett und auf ihm ruhte der Schein eines roten Lichtes, das ihn mehr beunruhigte, als jedwelcher Geist.
Nach einer Weile glaubte er zu erkennen, dass der Lichtschein vom Nebenraum herkam. Er stand auf und schlürfte in seinen Pantoffeln zur Tür. Eine eigenartige Stimme rief ihn beim Namen und befahl, er möge eintreten. So legte er seine Hand auf die Türklinke und folgte dem Ruf.
Zweifellos war es sein eigenes Zimmer, in das er eintrat. Doch es sah überraschend anders aus. Lebendiges Grün rankte von Wänden und Decke herab, rubinrote Beeren hingen an den Zweigen. Das Licht brach sich in den frischen Blättern der Stechpalme, der Mistel und des Efeus und im Kamin prasselte ein gewaltiges Feuer.
Auf dem Boden türmten sich Truthühner, Gänse, Speckseiten, Wildbret, appetitliche Schinken, Spanferkel, Würste, Pasteten, Pflaumenpudding, Austern in Fässchen, glühende Kastanien, rotbackige Äpfel, süße Orangen, glänzende Birnen, Dreikönigskuchen und Schalen mit dampfendem Punsch. Ein köstlicher Duft erfüllte den Raum.
Auf diesem grandiosen Ruhekissen saß lässig ein lustiger Riese. In seiner Hand hielt er eine Fackel, die einem Füllhorn glich und ihr Licht auf Scrooge richtete. "Nur herein, nur herein!", rief der Geist, "so lernen wir uns besser kennen! Ich bin der Geist der gegenwärtigen Weihnacht."
Scrooge trat respektvoll ein.
"Du hast mich noch nie gesehen", rief der Geist, "bist noch nie mit meinen Brüdern losgezogen? Ich meine die älteren Brüder. Ich selbst bin noch sehr jung."
"Vermutlich nicht", erwiderte Scrooge, "hast du viele Brüder?"
"Zurückblickend bis zur ersten Weihnacht waren es sicher mehr als 1800", polterte der Geist belustigt.
"Eine große Familie, die es zu versorgen gilt", brummelte Scrooge.
Der Geist erhob sich. Scrooge sagte untertänig, "Geist, du kannst mich führen, wohin du willst. Die Wanderung der letzten Nacht war mir eine Lehre, die ich noch lange spüren werde. Wenn du mich heute etwas lehren willst, werde ich es annehmen."
"Gut - so berühre mein Gewand!"
Scrooge hielt sich fest und augenblicklich verschwand die ganze Pracht der Speisen. Ebenso erlosch die Glut im Kamin und sie standen am Weihnachtsmorgen in der Stadt, inmitten der beschäftigten Leute. Unsichtbar gingen sie geradewegs zur Wohnung von Scrooges Gehilfen.
7. Der zweite Geist - Teil 2
Scrooge hielt den Geist immer noch am Gewand, als sie auf der Schwelle zu Bob Cratchits Wohnung standen. Das Gespenst lächelte und segnete Bobs Wohnung mit dem Tau seiner Fackel. Man denke nur! Obwohl Bob nur fünfzehn Schilling wöchentlich verdiente, segnete der Geist der gegenwärtigen Weihnacht das Haus mit den vier Zimmern.
Bobs Frau, Mrs. Cratchit, stand da, in dem armseligen, zweimal gewendeten Kleid, das von seidenen Bändern überladen war. So war es den Aufwand von sechs Pence doch noch wert. Ihre ebenfalls mit Bändern geschmückte Tochter Belinda half Mrs. Cratchit dabei, das Tischtuch aufzulegen. Master Peter Cratchit langte gerade mit der Gabel in die Kartoffelpfanne, als die Spitzen seines vom Vater geliehenen Hemdkragens - den Peter für diesen Festtag ausnahmsweise tragen durfte - zum Mundwinkel spitzten. Sie erinnerten ihn an die feine Kleidung und in ihm kam der Wunsch zutage, sein feines Weißzeug in den vornehmen Parkanlagen zur Schau tragen zu können.
Dann stürmten die beiden kleinsten Cratchits, ein Junge und ein Mädchen herein. Sie riefen, sie hätten bereits vor dem Bäckerladen die Gans gerochen und sofort erkannt, dass es die Ihrige sei. In genüsslichen Gedanken an Zwiebeln und Salbei tanzten sie um den Tisch, während Master Peter in das Feuer blies, bis es in der Kartoffelpfanne so laut zischte, dass jeder im Raum erkannte, dass es an der Zeit war, die Kartoffeln zu schälen.
"Wo bleiben nur Vater und Tiny Tim?", fragte Mrs. Cratchit. "Und Martha war im letzten Jahr auch früher hier."
"Hurra, hier ist Martha", riefen die beiden Jüngsten.
"Gott sei Dank", rief Mrs. Cratchit und küsste ihre Tochter liebevoll auf die Wangen, während sie ihr geschäftig Hut und Halstuch abnahm. "Wie spät du kommst."
"Wir mussten bis in die Nacht hinein arbeiten", erklärte das Mädchen, "und dann noch bis zum Morgen aufräumen, Mutter!"
"Wärme dich am Feuer", forderte Mrs. Cratchit ihre Tochter auf.
"Nein", riefen da die Jüngsten wieder, "Vater kommt! Schnell, versteck dich, Martha!"
Martha versteckte sich, bevor der Vater eintrat. Sein Schal hing lang um seinen Hals und der Anzug war ausgebessert und gebürstet, damit er zum Festtag noch ein wenig feierlicher aussah. Auf seinen Schultern saß Tiny Tim. Der arme Tiny Tim! Er ging an einer kleinen Krücke und sein zarter Körper war von einem Metallgestell umgeben. "Wo ist meine Martha", rief Bob Cratchit.
"Sie kommt nicht", versetzte Mrs. Cratchit.
"Was?", rief Bob Cratchit entsetzt, "unsere Martha kommt am Weihnachtsfest nicht nach Hause?"
Martha, die es nicht fertig brachte, ihren Vater so zu enttäuschen, erhob sich und eilte in seine Arme. Mrs. Cratchit neckte ihren Mann, während er seine Tochter herzlich umarmte. "Und, wie hat Tiny Tim sich aufgeführt?", fragte sie.
"Er ist ein Goldkind", erzählte Bob, "fast noch besser. Er denkt über die seltsamsten Dinge nach, wahrscheinlich, weil er so oft alleine ist. Auf dem Heimweg sagte er, es sei vermutlich gut, dass die Leute in der Kirche ihn gesehen hätten, weil er ein Krüppel wäre Immerhin sei es wichtig, sie an Weihnachten daran zu erinnern, dass Gott Lahme gehen und Blinde sehen machte."
Bobs Stimme bebte, als er das erzählte und sie erzitterte noch mehr, als er bekräftigte, dass Tiny Tim bestimmt bald stärker und kräftiger werde. Bevor er weiter reden konnte, hörten sie draußen im Flur das Klacken der Krücke und schon stand Tiny Tim im Raum und setzte sich auf einen Schemel, nahe am Feuer.
Bob krempelte die Ärmel hoch und mischte den heißen Punsch mit Gin und Orangensaft in einen Krug, rührte gut um und stellte ihn auf den Kamin, um ihn brodeln zu lassen. Währenddessen holte Master Peter die Gans aus der Küche und kam, ähnlich einer Festtagsprozession, gefolgt von den kleinen Cratchits, ins Wohnzimmer zurück.
Mrs. Cratchit ließ die Soße sprudelnd aufkochen, Master Peter zerstampfte die dampfenden Kartoffeln, Miss Belinda zuckerte die Apfelsoße, Martha wischte die vorgewärmten Teller ab, Bob setzte Tiny Tim an den Tisch, neben ihn stellten die beiden jüngsten Cratchits für jedermann Stühle auf; dann gingen Sie auf Wachposten, schoben sich Löffel in den Mund, um nicht schon vorab nach der Gans zu rufen. Endlich trug man die Schüsseln auf den Tisch und sprach das Tischgebet.
Nach einer atemlosen Pause schickte sich Mrs. Cratchit an, das Vorlegemesser der Gans in die Brust zu stoßen. Mit dem Hervorquellen der Füllung brach entzücktes Gemurmel rund um den Tisch aus. Sogar Tiny Tim rief matt: "Hurra!"
Noch nie zuvor hatte es eine solch köstliche Gans gegeben. Bob lobte die Zartheit und den Wohlgeschmack, die Größe und den vorteilhaften Preis - alle waren voll Bewunderung. Zusammen mit der Apfelsoße und den Kartoffeln gab die Gans ein vorzügliches Festmahl für die gesamte Familie ab. Und am Ende, als noch ein Knochen in der Schüssel war, freute sich Mrs. Cratchit darüber, dass jeder satt geworden war und das, obwohl der Braten noch nicht einmal ganz verzehrt war. Die Gesichter der beiden jüngsten Cratchits waren voll von Apfelsoße, Zwiebelbrühe und Salbei.
Miss Belinda wechselte die Teller und Mrs. Cratchit verließ sichtlich nervös den Raum, um den Pudding zu holen. Wenn er nicht gar wäre, oder auseinanderfiele - wie schrecklich! Womöglich hat ihn jemand gestohlen; wobei bei diesen ängstlichen Gedanken die beiden jüngsten Cratchits totenbleich wurden! Kurz und gut - jeder hatte schreckliche Furcht, dem edlen Pudding könnte etwas passiert sein.
Aber nein! Mit einer heftigen Dampfwolke nahm Mrs. Cratchit den Pudding aus dem Kessel. Es roch wie am Waschtag. Ein Geruch wie in einem Hotel, dessen Nachbarn ein Konditor und eine Wäscherin sind. Hier war der Pudding.
Kurz darauf servierte die stolze Mrs. Cratchit ihren Pudding, der wie eine marmorierte Kanonenkugel aussah, herein. Er war umgeben von entflammtem Brandy und geschmückt mit einem Stechpalmenzweig. Oh welch wunderbarer Pudding! Bob Cratchit lobte, dass seiner Frau seit der Hochzeit nichts mehr so gut geraten war. Mrs. Cratchit erklärte, wie froh sie sei, denn sie war in großen Zweifeln wegen der Mehlmenge gewesen. Jeder brachte etwas zum Pudding ein, doch niemand erwähnte mit einem Wort, wie klein der Pudding doch für so eine große Familie sei.
Nach dem Essen nahm man das Tischtuch ab, fegte den Herd und legte Feuer nach. Das Punschgemisch wurde für außergewöhnlich gut befunden. Auf dem Tisch lagen Äpfel, Orangen und geröstete Kastanien. So scharte sich die gesamte Cratchit-Familie um den Herd und neben Bob Cratchit stand der gesamte gläserne Hausstand der Familie - zwei Trinkgläser und ein Senfglas.
Doch der heiße Punsch schmeckte daraus ebenso gut, als hätte man ihn aus goldenen Bechern gekostet. Während noch Kastanien auf dem Rost über dem Feuer zischten, brachte Bob einen Trinkspruch aus: "Frohe Weihnachten, meine Lieben! Gott segne uns!" Und die ganze Familie stimmte ein. Auch Tiny Tim, der neben seinem Vater saß. Bob hielt dessen zarte Hand und wünschte, er könnte sie ewig halten.
"Geist", fragte Scrooge ergriffen, "sag, bleibt Tiny Tim am Leben?"
Der Geist richtete seinen leeren Blick in die Ferne und schüttelte den Kopf. "Wenn sich die Schatten der Zukunft nicht ändern, wird das Kind nicht leben können."
Scrooge blickte betroffen zu Boden. Er erhob aber erschrocken seinen Blick, als er seinen Namen hörte.
"Auf Mr. Scrooge", sagte Bob gerade. "Wir wollen auf ihn trinken - den Urheber dieses Festmahls."
Seine Frau hob ihm empört das Glas entgegen und rief: "Der soll nur kommen, dann spreche ich einen Toast auf ihn, den er nie mehr vergessen wird!"
"Liebe Frau!", besänftigte Bob, "es ist Weihnachten denkt an die Kinder!"
"Da muss schon Weihnachten sein, um auf einen Mann wie Scrooge anzustoßen, diesen widerwärtigen alten Geizhals. Du weißt, dass ich recht habe, Robert - gerade du weißt es."
"Meine Liebe, es ist doch Weihnachten!"
"Na gut, dann trinke ich halt. Auf ein langes Leben, eine fröhliche Weihnacht und ein glückliches neues Jahr für ihn! Bestimmt ist er glücklich und froh!"
Die Kinder taten es ihr nach. Doch es war nicht zu übersehen, dass zum ersten Mal an diesem Abend etwas nicht von Herzen kam. Allein die Erwähnung seines Namens verdüsterte die Stimmung.
Aber nachdem der dunkle Schatten Scrooges endlich verschwunden war, wirkte die gesamte Familie fröhlicher als zu vor. Bob erzählte, er habe Arbeit für Master Peter in Aussicht, dazu noch eine gut bezahlte. Die beiden Jüngsten lachten bei dem Gedanken, dass aus Peter ein Geschäftsmann werden sollte. Peter selbst lugte aus seinem Hemdkragen hervor und überlegte, wie er seinen ersten Lohn anlegen sollte - diese ungeheure Summe von fünf Schilling und sechs Pence.
Martha, die eine Ausbildungsstelle bei einer Putzmacherin hatte, erzählte von ihrer Arbeit und dass sie am folgenden Tag erst einmal ausschlafen wolle. Sie hatte nämlich frei. Am Vortag hätte sie eine Gräfin und einen Lord gesehen und dass der Lord ungefähr so groß wie Peter gewesen sei; da reckte sich Peter und zupfte die Ecken seines Kragens.
Während sie miteinander sprachen, aßen sie die gerösteten Kastanien und Tiny Tim sang mit seiner feinen Stimme ein wehmütiges Lied von einem Kind, das sich im Schnee verlaufen hatte.
Die Familie sah keineswegs fein aus, ihr Schuhwerk war durchnässt, die Kleider ärmlich und Peter kannte den Laden des Pfandleihers auch von innen. Dennoch saßen sie glücklich und zufrieden in ihrer kleinen Runde, als das Licht der Geisterfackel das Haus von Scrooges Gehilfen verließ.
8. Der zweite Geist - Teil 3
Scrooge und der Geist wanderten weiter durch die Straßen, blickten in hell erleuchtete Küchen und Wohnzimmer, bis Scrooge plötzlich überrascht aufblickte. Gerade hatte er die Stimme seines Neffen wahrgenommen, da fand er sich in einem hellen trockenen Raum wieder. An seiner Seite weilte der Geist, der Scrooges Neffen mild lächelnd anblickte.
"Haha", lachte Scrooges Neffe laut auf. "Hahaha!"
Es ist eine ausgleichende Einrichtung der Natur, dass nicht nur Krankheit und Schmerz ansteckend sind, sondern dass vor allem unwiderstehliches Gelächter und gute Laune mindestens ebenso infizieren. Genau so ein Lachen verbreitete Scrooges Neffe durch den behaglichen Raum. Und es dauerte nicht lange, da lachte seine Frau ebenso herzlich - ebenso die versammelten Freunde. "Hahaha!", klang es durch den Raum.
"So wahr ich hier stehe", rief der Neffe, "er sagte wortwörtlich, dass Weihnachten dummes Zeug wäre und er glaubt das auch noch!"
"Die Schande ist um so schlimmer für ihn", sagte Scrooges Nichte.
Gott segne die Frauen - sie tun nichts halb und es ist ihnen immer Ernst.
Sie war hübsch anzusehen, hatte ein zierliches Gesicht mit neckischen Grübchen. Stets blickte sie überrascht drein und ihr kirschroter Mund lud zum Küssen ein. Ihre sonnigen Augen unterstrichen den liebenswerten Eindruck, den sie machte. Sie war das, was man bestrickend nennt.
"Ein knurriger alter Kauz ist er", rief Scrooges Neffe, "und bei weitem nicht so angenehm, wie ich mir wünschen würde. Doch seine Fehler strafen ihn immer selbst, so habe ich nichts gegen ihn einzuwenden. Seht doch, da hat er sich vorgenommen, uns zu ärgern und kommt deshalb nicht her, um mit uns zu speisen. Und was hat er jetzt davon?"
"Na, ihm entgeht ein hervorragendes Essen", bestätigten die Anwesenden. Sie waren gerade fertig und saßen vor ihrem Nachtisch bei Lampenschein um den Kamin.
Das freute Scrooges Neffe und es begann eine Unterhaltung über die Kochkünste der jungen Hausfrauen und die Bedürfnisse der Junggesellen. Nach dem Tee machten sie Musik und sangen einen Kanon. Vor allem Topper konnte außergewöhnlich gut Bass brummen, ohne dass seine Adern auf der Stirn hervortraten oder er gar errötete.
So verging eine Weile, dann spielten sie Pfänder und Blindekuh. Und es schien, als habe Topper keine Augen im Kopf, denn die Art und Weise, wie er der rundlichen Schwester hinterherstiefelte, sprach für sich. Er war fast schon eine Zumutung für die leichtgläubige junge Frau. Überall stieß er an und verwickelte sich - doch irgendwie fand er sie immer. Das Spiel war lustig und spannend und sehr vertraulich.
Scrooges Nichte saß derweil auf einem großen Stuhl in der Ecke, wo der Geist und Scrooge direkt hinter ihr stand. Sie beobachteten, wie die zwanzig anwesenden Personen miteinander Spaß hatten. Es war so ansteckend, dass Scrooge mitspielte - zum Glück konnte niemand seine Stimme hören. Als der Geist zum Aufbruch mahnte, rief Scrooge: "Jetzt kommt ein neues Spiel - lass uns noch eine halbe Stunde bleiben!"
Nun folgte das Spiel: Ja und Nein! Scrooges Neffe musste sich etwas ausdenken und die anderen sollten es erraten. Auf ihre Fragen durfte er aber nur mit Ja oder mit Nein antworten. Unter viel Gelächter grenzten die Mitspieler das Ausgedachte ein. Es war ein Geschöpf, das weder in einem Zirkus lebe noch auf dem Markt geschlachtet werde. Es war weder Esel, Pferd, Kuh, Stier, Tiger noch Hund. Auch die Katze schloss man aus, ebenso Schwein und Bär. Scrooges Neffe musste bei jeder Frage noch mehr lachen, dass er stampfend vom Sofa aufstand und sich auf die Schenkel klopfte. Endlich war es so weit - die rundliche Schwester rief: "Ich hab es! Es ist dein Onkel Scro-o-o-o-oge."
Die anderen bewunderten sie - denn eigentlich waren sie der Meinung, dass man in diesem Fall den Bären hätte gelten lassen müssen.
Fred hob sein Glas und rief: "Nun wäre es aber äußerst unschicklich, nicht auf die Gesundheit des alten Herrn zu trinken!"
Einträchtig antwortete die ganze Runde: "Auf Onkel Scrooge. Frohe Weihnachten und ein glückliches neues Jahr! Mag der Alte sein, wie er will."
Scrooge war bester Laune, ohne dass er bemerkt hätte, wie er immer vergnügter wurde. Und hätte der Geist ihm mehr Zeit gelassen, dann hätte er eine Rede gehalten. Doch mit dem letzten Wort des Neffen verließen Geist und Scrooge die fröhliche Runde und begaben sich noch einmal auf Wanderschaft.
Sie wanderten weit und in viele Häuser traten sie ein. Der Geist besuchte Kranke, die dann froh wurden; er brachte Menschen, die in schweren Situationen steckten, Zuversicht; die Armen konnte er reich machen. Im Armenhaus, im Krankenhaus, im Gefängnis, überall wo es Elend gab, ließ der Geist frohe Stimmung zurück und zeigte Scrooge, was zu tun war.
Während dieser langen Nacht fiel Scrooge auf, dass der Geist sichtbar alterte, während Scrooge selbst so blieb, wie er war. Er fragte: "Ist das Leben eines Geistes kürzer als meines?"
"Mein Leben auf Erden ist sehr kurz und endet mit dieser Nacht", erwiderte der Geist.
Scrooge erschrak, während der Geist weiterredete. "Ja, um Mitternacht. Meine Zeit ist bald gekommen, hörst du?" Und tatsächlich hörte Scrooge das Glockengeläut - es war Viertel vor zwölf.
"Ich weiß, dass es mir nicht zusteht, dich das zu fragen", stotterte Scrooge verlegen, "aber - was hast du da unter deinem Gewand?" Während er diese Frage stellte, blickte er auf etwas Seltsames, das aussah wie eine Klaue. Es lugte unter dem Gewand des Geistes hervor.
"Schau her", meinte der Geist traurig und brachte zwei hässliche, armselige Kinder zum Vorschein. Sie kauerten zu seinen Füßen und klammerten sich an seinen Mantel. Der Knabe und das Mädchen sahen zerlumpt, schwefelfarbig und abgemagert aus. Statt erfüllt von jugendlicher Frische blickten sie welk und schrumpelig, gleich einem Greis hohen Alters, drein.
Scrooge fuhr entsetzt zurück. Sichtlich erbleicht wollte er sagen, es seien schöne Kinder. Doch die Worte blieben ihm im Halse stecken, ob so einer unglaublichen Lüge. "Sind das deine Kinder, Geist?", fragte er.
"Oh, sie gehören der Menschheit. Sie klammern sich nur an mich, um gegen ihre Väter zu klagen", erklärte der Geist. "Das Mädchen ist die Ungewissheit und der Knabe ist der Mangel. Du solltest dich vor beiden hüten und vor ihrer gesamten Sippe. Auf der Stirn des Mädchens sehe ich geschrieben, was Verdammnis und Tod ausrichten, wenn die Schrift nicht verschwindet. Verleumde diejenigen, die euch davon zurufen. Und wenn es zu euren aufwieglerischen Zwecken gerade passt, dann gebt es zu und macht alles noch schlimmer. Harret auf das Ende!", rief der Geist eindringlich und provozierend.
"Haben sie keinen Zufluchtsort?", fragte Scrooge.
"Gibt es keine Gefängnisse und keine Arbeitshäuser?", erwiderte der Geist, zum letzten Mal seine Worte entgegenhaltend.
Es schlug zwölf.
Scrooge sah sich nach dem Geist um und konnte ihn nicht mehr sehen. Nachdem der letzte Glockenschlag verklungen war, fiel ihm der alte Marley wieder ein und seine Prophezeiung. Als er aufblickte, kam eine feierliche Erscheinung, bis zum Kopf in Tücher verhüllt, wie eine Nebelwolke auf ihn zugeweht.
9. Der dritte Geist - Teil 1
Die Erscheinung kam langsam und schweigsam näher. Als sie direkt vor Scrooge stand, fiel dieser auf die Knie. Die Luft im Zimmer schien auf schlagartig düster und geheimnisvoll. Der Geist war von einem schwarzen Gewand umhüllt und es war nichts anderes von ihm zu sehen, als seine ausgestreckte Hand.
Er sprach nichts, aber Scrooge fragte: "Bist du gekommen, mir die Dinge zu zeigen, die in naher Zukunft geschehen werden?"
Doch der Geist schwieg.
"Du bist doch der Geist der zukünftigen Weihnacht! Dich fürchte ich mehr, als jede mir bisher erschienene Gestalt. Doch weiß ich, dass du mir Gutes tun willst. Ich will von nun an ein anderer Mensch sein und bin bereit, dir voll Dankbarkeit zu folgen", versprach Scrooge.
Wieder gab der Geist keine Antwort, doch diesmal wies er mit seiner Hand den Weg.
"Geh voraus!", wies Scrooge an, "die Nacht ist schnell vorbei und die Zeit ist kostbar für mich."
Scrooge und der Geist gingen in die Stadt. Dort angekommen standen Sie im Herzen der Stadt, auf der Börse, mitten unter den Händlern. Der Geist hielt in der Nähe einer Gruppe von Geschäftsleuten, um ihr Gespräch zu belauschen.
"Nein, viel weiß ich nicht von der Sache", sagte ein fetter Mann, "ich weiß nur, dass er tot ist."
"Wann starb er denn", fragte ein anderer.
"Ich glaube, gestern Nacht."
"Was hat ihm denn gefehlt", fragte wieder ein anderer.
"Woher soll ich das denn wissen", sagte der Erste gähnend.
"Was ist aus seinem Geld geworden?"
"Keine Ahnung. Vielleicht hat er es seiner Firma hinterlassen. Mir hat er jedenfalls nichts vererbt, das hätte ich ja wohl bemerkt."
Die Unterhaltung wurde durch herzhaftes Gelächter wegen dieses Scherzes unterbrochen. Anfänglich war Scrooge verwundert, welch nichtssagenden Gesprächen der Geist lauschte. Doch er war sich sicher, dass dahinter eine bestimmte Absicht steckte. Mit dem Tod seines alten Geschäftspartners Jacob Marley konnte das hier ja nun wirklich nichts zu tun haben, überlegte Scrooge. Denn dieser Geist hier befasste sich mit der Zukunft und nicht mit der Vergangenheit.
Er blickte sich um und suchte vergebens nach sich selbst. Doch stand ein anderer Mann an seiner gewohnten Stelle, obgleich die Uhrzeit bewies, dass er normalerweise anwesend sein müsste.
Scrooge suchte nach sich selbst; aber in seiner gewohnten Ecke stand ein anderer Mann, obwohl gerade die Zeit war, in der er gewöhnlich anwesend war. Auch unter den vielen Leuten, die durchs Tor hereindrängten, war niemand, der auch nur annähernd so aussah wie er selbst. Im Grunde war er darüber aber wenig überrascht; hatte er doch schon lange vor, sein Geschäft aufzugeben. Er hoffte, dass dies ein Zeichen sei, dass es bald zur Verwirklichung seines Planes kommen könnte.
Sie entfernten sich vom geschäftigen Platz und wanderten in einen Teil der Stadt, der durch seine Düsterheit einen schlechten Ruf hatte. Deshalb kannte Scrooge diese Straßen auch nicht.
Sie gingen zu einem niedrigen Laden, in dem alte Lumpen, Flaschen, Knochen, Eisen und schmieriger Abfall gekauft werden konnten. Mittendrin saß ein alter Mann, Pfeife rauchend, ungefähr siebzig Jahre alt, der gegen den Frost schmutzige Lumpen aufgehängt hatte anstatt Gardinen.
Scrooge trat gemeinsam mit der Gestalt auf den Mann zu, als eine Frau zur Tür hereinwankte, in ihrer Hand ein schweres Bündel. Ihr folgte eine in gleicher Weise beladene Frau und hinterher wankte ein Mann, der einen abgewetzten schwarzen Anzug trug. Als die Drei sich ansahen, erschraken sie, ebenso der alte Mann. Doch dann brachen sie in schallendes Gelächter aus.
"Die Putzfrau kommt als Erste an", rief diejenige, die als Erste den Raum betreten hatte; "gleich danach kommt die Waschfrau und dann folgt der Sargträger. Sieh her, Joe, welch ein Zufall, dass wir hier alle zusammentreffen, ohne dass wir vorher davon wussten."
"Es gibt kaum einen besseren Ort dafür", sagte der alte Joe. "Kommt ins Wohnzimmer. Ihr habt schon lange Zutritt und die beiden anderen sind auch nicht fremd."
In der Wohnstube fragte er: "Also, was wollt ihr verkaufen."
Die Putzfrau legte, als Erstes ihr Bündel auf den Boden und sagte: "Seht her, was ich hier habe. Wem soll der Verlust dieser Sachen denn schaden? Doch nicht diesem toten Mann da, oder?"
"Nein, dem bestimmt nicht", entgegnete Mrs. Dilber.
"Wollte der gottlose alte Knauserer sie nach seinem Tode einem bestimmten Zwecke zukommen lassen, dann hätte er sich zu Lebzeiten darum bemüht", sagte die Putzfrau. "Und hätte er sich bemüht, dann hätte er nicht so einsam sterben müssen."
"Ja, das ist wahr", erwiderte Mrs. Dilber, "es ist das Gottesgericht."
"Meinetwegen könnte die Strafe ein wenig schwerer ausfallen", raunte die Putzfrau, "doch leider hatte ich hier nichts zu sagen. Doch nun öffnet das Bündel, Joe, und nennt uns den Wert. Sag es geradeheraus."
Joe kniete vor dem Bündel und löste die vielen Knoten. Er zog eine große schwere Rolle hervor, die aus dunklem Stoff bestand. Verwundert blickte er das Ding an und sagte: "Bettvorhänge?"
Das Weib lachte: "Ja, Bettvorhänge! - Halt, pass auf, dass kein Öl drauftropft."
"Sind das seine Decken?", fragte Joe.
"Na, wessen sonst? Doch bin ich mir sicher, dass er sich auch ohne sie nicht mehr erkälten wird. Seht mal her", rief das Weib und hielt den Stoff hoch, "hier ist sein bestes Hemd, kein Loch zu sehen und wenn ich nicht gewesen wäre, dann hätte man es ihm auf seine letzte Reise noch übergezogen. Welch eine Verschwendung, diesem alten Geizkragen das beste Hemd ins Grab anzuziehen!"
Entsetzt lauschte Scrooge dieser Unterhaltung. "Geist", rief er mit zitternder Stimme, "ich habe erkannt, dass das Schicksal dieses Mannes auch meines sein könnte. Mein Leben verlief bisher in gleichen Bahnen. Grundgütiger Himmel, was ist das?"
Scrooge wich zurück, denn die Szene veränderte sich blitzartig. Er stand vor einem Bett, auf dem zugedeckt mit einem schäbigen Leintuch die Leiche eines unbekannten Mannes lag - geplündert, unbewacht und unbeweint.
"Geist, lass mich erkennen, dass irgendwo jemand um diesen Toten trauert", sagte Scrooge, "oder die Erinnerung daran wird mich allezeit heimsuchen."
10. Der dritte Geist - Teil 2
Der Geist führte Scrooge durch mehrere Straßen, die er bereits kannte. Schließlich standen sie vor dem Haus des armen Bob Cratchit, das Scrooge früher schon einmal besucht hatte. Mrs. Cratchit saß mit ihren Kindern ums Feuer. Stille beherrschte den Raum.
Selbst die sonst lärmenden jüngsten Cratchits saßen still in der Ecke und lauschten Peter zu, der ein Buch vor sich hatte. Die Mutter und ihre Töchtern beschäftigten sich mit ihren Näharbeiten und lauschten ebenfalls.
"Und er nahm ein Kind und stellte es in ihre Mitte."
Wo nur hatte Scrooge diesen Satz schon einmal gehört? Geträumt hatte er es nicht. Wahrscheinlich hatte der Knabe gerade gelesen, als er mit dem Geist über die Schwelle getreten war. Weshalb las Peter nicht weiter?
Mrs. Cratchit legte ihre Arbeit nieder und stützte den Kopf mit ihrer Hand ab. "Die Farbe schmerzt in meinen Augen", sagte sie. "Das Kerzenlicht schwächt sie. Doch um nichts auf der Welt möchte ich, dass euer Vater meine rot geränderten Augen sieht. Er wird bald nach Hause kommen."
"Es ist schon an der Zeit", sagte Peter, der gerade das Buch schloss. "Doch während der letzten Abende ist er langsamer gegangen als sonst, Mutter."
Wieder war es still im Raum. Peter sprach weiter: "Früher, als er immer mit Tiny Tim auf seiner Schulter galoppiert ist, war er schneller. Ich habe es oft beobachtet."
Die anderen bestätigten das und die Mutter murmelte: "Tiny Tim war aber auch sehr leicht zu tragen. Und sein Vater liebte ihn so sehr, dass es keine Mühe machte Hört, Vater kommt!"
Sie eilte ihrem Mann entgegen, die Kinder taten es ihr nach. Der Tee stand bereit, die kleinen Cratchits kletterten auf ihres Vaters Knie und legten ihre Wangen an sein Gesicht mit den Worten: "Gräm dich nicht so, Vater. Sei nicht traurig."
Bob sprach liebenswürdig und frohgemut mit seiner Familie, lobte die fleißigen Frauen und meinte, dass die Näharbeiten sicher bis Sonntag fertig sein würden.
"Sonntag?", fragte seine Frau. "Du warst also heute dort, Robert?"
"Ja und ich wollte, du wärest dabei gewesen. Es hätte dir gut getan zu sehen, welch ein schöner grüner Platz es ist. Ich habe ihm versprochen, ihn jeden Sonntag zu besuchen. Mein armes kleines Kind." Bob schluchzte auf. "Mein armer kleiner Tiny Tim."
Er brach zusammen, denn die Verbindung zwischen ihm und seinem Sohn war so herzlich gewesen. Er ging ins obere Zimmer, in dem Kerzen leuchteten und alles mit weihnachtlichem Grün geschmückt war. Es war nicht zu übersehen, dass kurz zuvor noch jemand da gewesen war, bei dem Kind, das hier lag.
"Geist", rief Scrooge, "ich fühle, dass wir uns bald trennen werden. Sag mir zuvor, wer dieser tote Mann war, den wir sahen." Der Geist der künftigen Weihnacht gab keine Antwort, er brachte Scrooge wieder in die belebtere Gegend der Stadt.
Sie gingen zum Friedhof. Es war ein würdiger Platz, an dem der unglückliche Mann lag, dessen Namen Scrooge immer noch nicht kannte. Sie gingen durch die Gräberreihen, bis der Geist stehen blieb und mit dem Finger auf einen Stein zeigte.
Scrooge machte einen Schritt auf das Grab zu, zögerte und fragte: "Geist, ehe ich diese Grabstätte genauer ansehe. Sag mir, ob du mir die Ereignisse gezeigt hast, die noch eintreten werden, oder jene, die eintreten könnten?"
Das Gespenst hatte den Finger immer noch in Richtung Stein gerichtet als Scrooge sich selbst antwortete. "Die Taten der Menschen führen unweigerlich zum beabsichtigten Ziele, wenn der Mensch sein Leben nicht verändert. Wenn der Lebensweg sich aber ändert, muss auch das Ziel ein anderes werden. Sag, soll dies der Zweck unserer Reise sein?"
Der Geist antwortete nicht. Scrooge kniete vor dem verwahrlosten Grab, kroch zitternd näher und las auf dem Stein seinen eigenen Namen - EBENEZER SCROOGE.
Scrooge erschrak. "Nein, Geist. Nein! Hör zu, ich will mich ändern. Was ich gesehen habe, hat mich verändert. Weshalb zeigst du mir das alles, wenn es doch keine Hoffnung mehr für mich gibt."
Scrooges Hand bebte, doch er redete weiter: "Ich will Weihnachten künftig von Herzen ehren und es stets würdevoll feiern. Mein Leben soll aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schöpfen. Alle drei Geister sollen mich innerlich lebendig halten; auch ihren Lehren will ich folgen. Bitte Geist, sag mir, ob ich diese Inschrift auf dem Stein wieder auslöschen kann?"
Scrooge versuchte in seiner Panik den Arm des Geistes zu fassen, doch er griff ins Leere, der Geist hatte ihn zurückgestoßen. Und während er bittend die Arme hob, in der Hoffnung, das schreckliche Schicksal noch einmal von sich abwenden zu können, erkannte er, dass die Kopfbedeckung und das Gewand des Geistes sich veränderte. Das Gespenst wurde kleiner und verschwand wie durch einen Nebelschleier im Bettpfosten.
11. Das Ende vom Lied
Ja, es war sein eigener Bettpfosten, sein eigenes Bett, sein Zimmer und zu seinem größten Glück gehörte die Zukunft ihm. Er konnte sich also noch bessern! "Ich will in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft leben", wiederholte Scrooge. Aufgeregt schlüpfte er aus seinem Bett.
"Alle drei Geister sollen in mir sein. Oh Jacob Marley - die Weihnachtszeit sei gepriesen! Das rufe ich auf Knien, alter Jacob!", rief Scrooge so aufgewühlt, dass ihm fast die Stimme versagte. Tränen rannen über sein Gesicht.
Er ging zum Fenster, öffnete es und sah hinaus. "Was ist heute für ein Tag?", rief er einem vorbeigehenden Jungen zu.
"Heute? Heute ist Weihnachten!", antwortete der sonntäglich gekleidete Junge.
"Oh, Weihnachten - ich habe das Fest nicht versäumt", sagte Scrooge zu sich selbst, "die Geister haben mich nur eine Nacht lang heimgesucht."
"He, du!", rief Scrooge dem Jungen nochmals zu, "kennst du den Geflügelhändler um die Ecke?"
"Selbstverständlich."
"Guter Junge!", lobte Scrooge. "Weißt du, ob der große Truthahn dort noch hängt?"
"Der, der ungefähr so groß ist wie ich?", fragte der Junge.
"Genau. Du bist ein toller Knabe!"
"Der hängt noch da", antwortete der Junge.
"Tatsächlich! Dann lauf schnell und kaufe ihn."
"Oh. Wer so was glaubt!"
"Nein, wirklich, ich meine es ernst", rief Scrooge, "kauf den Truthahn und lasse ihn herbringen. Ich will ihn verschenken. Komm mit dem Verkäufer her und du bekommst einen Schilling. Wenn ihr schneller als in fünf Minuten wieder da seid, sei dir eine halbe Krone sicher."
Der Junge rannte los, als wäre ein Löwe hinter ihm her. Scrooge murmelte: "Diesen Festtagstruthahn soll Bob Cratchit bekommen, ohne je zu erfahren, wer ihm diesen Braten geschickt hat, der zweimal so groß ist wie Tiny Tim. Oh, wie ich mich freue!"
Mit zitternder Hand schrieb er die Adresse auf einen Zettel, ging die Treppe hinunter, um dem Geflügelhändler die Tür zu öffnen. Das war ein Truthahn! Nie hätte dieser Vogel auf seinen dürren Beinen stehen können; bereits beim ersten Versuch wären sie abgeknickt wie zwei Stangen Siegelwachs. Er schickte den Dienstboten mit einer Droschke zu Bob Cratchit, weil der Truthahn zu schwer war, um ihn diese weite Strecke zu tragen.
Scrooge rasierte sich, obwohl seine Hände immer noch zitterten. Nachdem er seinen besten Anzug angezogen hatte, ging er auf die Straße. Ihm bot sich ein Bild, wie er es in Begleitung der Geister gesehen hatte. Die Menschen strömten an ihm vorbei und Scrooge stand - die Hände auf dem Rücken - mit einem entzückten Lächeln am Straßenrand und beobachtete sie. Dabei wirkte er so freundlich, dass manche Menschen ihm fröhlich: "Guten Morgen, Sir", entgegenriefen. "Frohe Weihnachten." In diesem Moment glaubte Scrooge, es wären die fröhlichsten Laute gewesen, die er je in seinem Leben gehört hatte.
Scrooge ging die Straße hinunter in Richtung Kirche und er blickte in die Küchen der Häuser. Nie hatte er es sich träumen lassen, dass ihn einmal ein Spaziergang so glücklich machen könnte. Nachmittags schlug er den Weg zum Haus seines Neffen ein. Mehr als zwölf Mal ging er am Haus vorbei, bis er mutig genug war, anzuklopfen.
Ein Mädchen öffnete und Scrooge fragte: "Ist Ihr Herr zu Hause, liebes Kind?"
"Ja, Sir!"
"Wo befindet er sich, mein Fräulein?"
"Er sitzt mit seiner Gattin im Speisezimmer", antwortete das Mädchen.
"Darf ich hereinkommen?", fragte Scrooge freundlich. "Er kennt mich." Ohne Umstände ging er hinein und drückte sachte auf die Klinke. Er streckte vorsichtig den Kopf ins Zimmer und rief: "Fred!"
Seine Nichte zuckte zusammen. Fred aber rief: "Meine Güte, wer ist denn das?"
"Dein Onkel Scrooge! Ich bin zum Essen gekommen - gilt die Einladung noch?"
"Natürlich!", rief Fred hocherfreut und es war ein Wunder, dass er seinem Onkel nicht vor Freude den Arm aus dem Leib riss. Scrooge fühlte sich innerhalb kürzester Zeit wohl und herzlich aufgenommen. Seine Nichte strahlte freundlich und Topper war ebenso erfreut, als er kam. Auch die rundliche Schwester und alle Gäste, wie sie nacheinander eintrafen - waren fröhlich, genau so wie er es in der Nacht, in Begleitung des Geistes, beobachtet hatte. Oh, es war eine wundervolle Gesellschaft, lustige Spiele, himmlische Harmonie und ein wundervolles Glücksgefühl!
Am nächsten Tag begab er sich früh in sein Büro - sehr früh. Er wollte unbedingt vor Bob Cratchit eintreffen, um ihn beim Zuspätkommen zu ertappen. Und es gelang! Sein Gehilfe kam volle achtzehn und eine halbe Minute zu spät. Scrooge hatte seine Tür weit offen gelassen, um die verspätete Ankunft ja nicht zu versäumen.
Bob warf Schal und Hut über den Haken und saß schnurstracks an seinem Schreibtisch. Sein Stift flog nur so übers Papier, als wolle er die versäumte Zeit wieder einholen.
"Hallo!", rief Scrooge, der sich bemühte, in seiner gewohnt barschen Stimmlage zu rufen. "Hallo, weshalb erscheinen Sie so spät", grollte er.
"Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe", stotterte Bob, "doch es ist nur einmal im Jahr Weihnachten. Es soll nicht wieder vorkommen. Wir waren gestern Abend so lustig beisammen." Bob stand jetzt vor Scrooges Schreibtisch.
"Nun will ich Ihnen aber mal was sagen, Freundchen", donnerte Scrooge, "so kann es nicht weitergehen. Und weil es so nicht geht", er gab Bob einen freundschaftlichen Schubs, "habe ich mir vorgenommen Ihr Einkommen zu erhöhen."
Bob bebte; gleichzeitig zerrte er verlegen an seinem Pullover herum.
"Frohe Weihnachten, Bob", setzte Scrooge unmissverständlich hinzu, und klopfte ihm auf den Rücken. "Ich hoffe, diese Weihnachten sind besser als die, die ich Ihnen in den letzten Jahren geboten habe. Sie sollen mehr Gehalt bekommen und ich will Ihre Familie unterstützen. Wie wäre es, wenn wir diese Angelegenheit heute Nachmittag bei einem Punsch besprechen, Bob. Machen sie ein wärmendes Feuer, kaufen Sie noch einen zweiten Kohlenkasten, damit wir es recht gemütlich haben, Bob."
Scrooge hielt sein Wort - und mehr. Für Tiny Tim, der nicht sterben musste, war er wie ein zweiter Vater. Er wurde ein so freundlicher Mensch und ein so guter Vorgesetzter, wie ihn die Stadt zuvor nie gesehen hatte. Zwar machten sich einige Leute über ihn lustig, doch das verunsicherte ihn nicht.
Mit Geistern hatte er fortan keinen Kontakt mehr. Doch lebte er in Bescheidenheit und man sagte ihm nach, dass niemand sonst auf Erden es so verstünde, Weihnachten zu feiern, wie Ebenezer Scrooge. Es wäre schön, man würde das von uns auch behaupten können. Deshalb möge, wie Tiny Tim so schön betonte, Gott jeden von uns segnen!