Ein Wort des Herausgebers an die Erwachsenen
Als der erste Weltkrieg ausbrach, wurde das Leben von Millionen von Menschen in Europa in Scherben geschlagen. Not und Hunger waren groß. Selbst Neugeborene wurden in Zeitungspapier gewickelt, weil es keine Kleidung gab.
In dieser schweren Zeit sammelte eine mutige Frau Geld auf Londons Straßen, um das Leid der hungernden Kinder des Erzfeindes Deutschland zu lindern. Es dauerte nicht lange und sie wurde wegen Verrats ins Gefängnis geworfen. Dennoch gelang es Eglantyne Jebb (1876 1928) eine Menge Geld zu sammeln und eine weltweite Kinderhilfsorganisation mit Namen Save the Children zu gründen. Seitdem ich ihre Geschichte kenne, lassen mich die Rechte der Kinder einfach nicht mehr los.
191 Länder haben bisher die UN-Kinderrechtskonvention unterschrieben. Sie haben sich nicht nur verpflichtet, die Rechte der Kinder zu achten, sondern auch dafür zu sorgen, dass alle Kinder ihre Rechte kennen. Das große Dilemma der Konvention ist aber, dass sie für Juristen geschrieben wurde und ein Erwachsener sie kaum versteht geschweige denn ein Kind.
Auch Deutschland hat diesen Vertrag unterschrieben und muss ihn einhalten. In Deutschland werden Kinder aber zu wenig über Ihre Rechte informiert. Das liegt daran, dass die Konvention bisher kaum Eingang in die Lehrpläne gefunden hat. Es gibt zu wenig gute Materialien und Unterrichtsideen zu den Themen Kinder und Hunger, Armut, physische und psychische Gewalt, Diskriminierung, Ausbeutung, Folter und Drogen. Es ist eben nicht einfach all die Gräueltaten, denen Kinder täglich ausgesetzt sind, in Worte zu fassen.
Wie können wir zum Beispiel die Geschichte von dem Mädchen erzählen, das von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde?
Als ich anfing, Märchen für unser Web-Magazin zu sammeln, wurde mir auf einmal bewusst, dass das Problem der Darstellung schon Jahrhunderte vor der Kinderrechtskonvention pädagogisch gelöst worden war. Denn nirgendwo wurden Bosheit, Ungerechtigkeit und Grausamkeit gegenüber Kindern so ausführlich beschrieben wie in den Volksmärchen. Generationen von Müttern erzählten ihren Kindern Abend für Abend solche schrecklichen Geschichten wie Hänsel und Gretel. Damit wollten sie ihre Kinder trösten und ihnen helfen, niemals die Hoffnung zu verlieren. Und weil Frauen damals auch noch machtlos waren, erzählten sie immer wieder diese Geschichten aus einem Gerechtigkeitsgefühl und aus stillem Protest heraus.
Märchen enthalten viele Wahrheiten und stehen auf dem Boden von Wirklichkeiten. Viele Volksmärchen beschreiben unverblümt und direkt zu Beginn bestialische Verbrechen, die an Kindern verübt werden. Danach folgt das eigentliche Abenteuer, in dem das wehrlose oder erniedrigte Kind durch Mut, Witz, Güte, Hilfsbereitschaft und Geistesgegenwart mit dem Bösen fertig wird. Und hier finden wir die Geschichte vom Vater wieder, zu der uns die Worte fehlen: Es ist das Märchen vom König, der seine Tochter Allerleirau heiraten möchte.
Selbst im grausamsten Märchen gibt es immer wieder ein Kind, das gegen die Ungerechtigkeit der Erwachsenen kämpft - ihm gehört unsere ganze Sympathie.
Bei der Durchsicht von ca. 600 Volksmärchen konnte ich einen Bezug auf 16 verschiedene Artikel finden. Wenn man nur lange genug sucht, lässt sich zu jedem Artikel der Konvention ein entsprechendes Märchen finden. Denn überall und zu allen Zeiten wurden Kinder nie ernst genommen. Mit der UN-Kinderrechtskonvention erhalten sie zum ersten Mal das Recht, ohne Gewalt groß zu werden.
Ich hoffe, dass diese Seiten dazu beitragen, die UN-Kinderrechtskonvention ein wenig bekannter zu machen und vielleicht auch ihre Umsetzung zu fördern.
Micha Labbé