Ein König reist incognito
- Autor: Twain, Mark
Als ich dem König erzählte, ich hätte vor, als niederer Freier verkleidet, im Land umherzustreifen und mich mit dem bescheidenen Leben des Volkes vertraut zu machen, war er sofort Feuer und Flamme und fest entschlossen, sich selbst ins Abenteuer zu stürzen.
Er wollte zur Hintertür hinausschlüpfen und gleich losziehen. Aber ich machte ihm klar, dass es vorher einiger Vorbereitung bedarf. Um die Schlafenszeit führte ich Artus in meine Privatgemächer, um ihm das Haar zu schneiden, und ihm zu helfen, mit den armseligen Kleidern zurechtzukommen.
Eine Stunde vor Sonnenaufgang schlichen wir fort und hatten, als die Sonne am Himmel hochstieg, schon acht bis zehn Meilen zurückgelegt. Am Wegesrand fand ich für den König einen bequemen Sitz und gab ihm ein paar Brocken, um seinen Magen zu stärken. Dann machte ich mich auf die Suche nach etwas Wasser.
Etwa dreihundert Yards entfernt wurde ich fündig. Ich hatte mich ungefähr zwanzig Minuten ausgeruht, als ich Stimmen hörte, die näher kamen. Es waren elegant gekleidete Leute mit Lasteseln und Dienern. Wie der Blitz sauste ich Los.
Ich musste unter allen Umständen vor ihnen beim König sein, was mir äußerst knapp gelang.
"Verzeihen Sie, mein König, aber es bleibt keine Zeit für Förmlichkeiten. Stehen Sie schnell auf und verneigen Sie sich. Dort drüben kommt eine adelige Gesellschaft."
"So lass sie kommen."
"Aber Majestät! Sie dürfen nicht sitzen! Sie sind ein Bauer, und als solcher müssen Sie sich vor diesen Herrschaften demütig verneigen."
"Das ist wahr. Das habe ich ganz vergessen."
Er tat ehrlich sein Bestes, aber das war bei Gott nichts Großartiges! Er sah so demütig aus wie der schiefe Turm von Pisa, und erregte damit einigen Unmut bei der feinen Reisegruppe. In diesem Moment fasste ich einen Entschluss: Der König musste gedrillt werden.
Ich sagte: "Sire, Ihre Kleidung und Ihr Aussehen passen ganz gut zueinander, zwischen ihnen besteht kein Widerspruch. Aber zwischen Ihrer Kleidung und Ihrem Benehmen ist ein gravierender Unterschied. Euer Gang ist militärisch - Eure Haltung herrisch. Der Kopf zu aufrecht und der Blick zu stolz."
Geduldig führte ich dem König vor, was ich meinte und er beobachtete mich sorgfältig und versuchte, mich nachzuahmen. Er machte seine Sache ganz ordentlich, aber alles in allem passte das Gesamtbild nicht zusammen.
Nachdem wir eine Weile geprobt hatten, beschloss ich mit den Haltungsübungen eine Pause einzulegen und sagte:
"Nun stellen Sie sich vor, Sire, wir stehen vor jener Hütte dort drüben. Sie bitten das Familienoberhaupt um seine Gastfreundschaft."
Unbewusst richtete sich Artus wieder auf und begann mit strenger Stimme:
"Knappe, bring einen Sitz herbei und trage mir auf, was du an Bewirtung hast."
"Oh, Euer Gnaden, das war nicht so gut."
"Woran fehlt es?"
"Als erstes, dürft Ihr solche Leute nicht als Knappen ansprechen - Bruder, wäre die richtige Wahl. Außerdem fragtet Ihr nur nach einem Sitz."
"Wolltest du gar auch einen Sitz haben?"
"Wenn ich mich nicht setzen würde, müsste der Mann entdecken, dass wir beide nicht von gleichem Rang sind und unser Versteckspiel wäre in Gefahr aufzufliegen."
"Das ist wahr!"
Mir war bewusst, wie schwer es für einen König war, sich in die Rolle eines einfachen Bauers einzufügen. Daher begann ich, ihm von den schrecklichen Entbehrungen und der harten körperlichen Arbeit der Leute zu erzählen, die er darstellen wollte. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass meine Berichte ihn nicht wirklich bewegten, vor allem nicht in eine demütige Haltung.
Am Nachmittag erreichten wir besagte Hütte, in der es kein Lebenszeichen gab. Alles wirkte verlassen, verwahrlost und furchterregend still - es war die Stille des Todes.
Die Tür stand einen Spalt offen und wir schlichen verstohlen hinein. Undeutlich erkannte ich eine Gestalt. Eine Frau fuhr vom Boden auf und starrte mich an.
"Habt Erbarmen!", flehte sie, "alles wurde uns genommen."
"Wir sind nicht gekommen, um euch etwas wegzunehmen", beruhigte ich die verängstigte Frau. Ihre Augen waren eingesunken und ihr Körper vollkommen ausgemergelt.
"Ihr müsst diesen Ort sofort verlassen. Dieses Haus liegt unter dem Bann der Kirche. Rettet Euch!", warnte sie uns.
Ich machte ihr klar, dass uns der Kirchenbann nicht kümmere und wir nur helfen wollten. Der König öffnete die Klappe, die das Fensterloch verschloss, um Licht und Luft in diesen ekelerregenden Raum zu lassen. Wie die Helligkeit in ihr Gesicht fiel, erkannte ich es sofort: Pocken!
"Augenblicklich aus diesem Raum hinaus, Sire! Diese Frau stirbt an der Krankheit, die vor zwei Jahren einen Großteil der Bevölkerung von Camelot vernichtet hat!", raunte ich Artus zu.
Doch dieser rührte sich nicht von der Stelle. Alle meine Warnungen waren vergebens. Der König fühlte sich bei seiner Ehre als Ritter gepackt und war fest entschlossen, zu helfen. Doch es sollte ganz anders kommen.
Um Mitternacht war alles vorüber. Der König und ich saßen bei vier Leichen und bedeckten ihre Körper mit Lumpen.
Die Frau hatte Artus gebeten die Leiter nach oben zu klettern, und ihr die Wahrheit zu sagen, was mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern sei. Den Mann und ein Kind fand er bereits tot auf und das zweite Mädchen trug er vorsichtig zur Mutter. Diese küsste und streichelte das Mädchen. An ihren Reaktionen konnte man erkennen, dass der Tod auch hier nicht mehr fern war.
Die Mutter dankte Gott für seine Güte, dass die Qualen endlich ein Ende hätten. Dem König liefen Tränen die Wangen hinunter und auch ich konnte kaum an mich halten. Um das ganze Elend noch zu steigern, erfuhren wir, dass die drei Söhne unschuldig im Gefängnis saßen, eines Mordes angeklagt, den sie niemals begangen hatten.
Als die Frau das Todesröcheln ihrer Tochter hörte, nahm sie sie fest in ihre Arme, lehnte sich beruhigt zurück und erwartete ebenfalls den erlösenden Tod.
Wir hatten keine Wahl und mussten diese armen Kreaturen so zurücklassen. Kaum waren wir aus der Hütte getreten, hörte ich das Geräusch von Schritten auf Kies. Mein Herz schlug bis zum Hals. Keiner durfte uns hier entdecken. Ich zupfte den König am Gewand, wir zogen uns zurück und versteckten uns hinter der Hütte.
Die Schritte kamen auf uns zu. Einen Augenblick herrschte Stille, dann ein leises Klopfen an der Haustür. Es überlief mich kalt, als jemand vorsichtig sagte:
"Mutter! Vater! Öffnet - wir sind freigekommen. Wir haben nicht viel Zeit, da wir fliehen müssen. Warum antwortet ihr nicht?"
Ich zog den König davon und flüsterte:
"Kommen Sie - jetzt können wir zur Straße gelangen."
Der König zögerte, doch da hörten wir das Knarren der Tür und wussten, dass die jungen Männer gleich vor ihren Toten Angehörigen stehen würden. Wir wollten gar nicht darüber nachdenken, welch schreckliche Szene sich nun in der Hütte abspielen würde und so rannte sogar Artus, wenig majestätisch, so schnell er konnte.
Auf der Straße angekommen, fand der König erstaunlich schnell zu seinem adligen Gehabe zurück. Was ihn plötzlich am meisten besorgte, war die Tatsache, dass die Söhne aus der Gefangenschaft geflohen waren und es seine Pflicht wäre, sie zu ergreifen und ihrem Herrn zurückzubringen.
Da hatten wir es wieder. Er konnte nur seine Seite der Sache sehen. Er war so geboren und erzogen. Die arme Familie waren nur einfache Bauern und nichts wert. Jeder von höherem Stand hatte das Recht sie ohne Beweise einzusperren und zu quälen.
Ich mühte mich mehr als eine halbe Stunde, um das Thema zu wechseln. Was mir zur Hilfe kam, war ein roter Schein in der Ferne - ein Feuer. Wir standen eine Weile in der tiefen Dunkelheit und Stille und beobachteten den roten Schimmer in der Ferne.
Es gab keinen Zweifel - dies konnte nur das Herrenhaus sein, von dem die drei Söhne aus der Gefangenschaft geflohen waren. Wir tasteten uns etwa eine halbe Meile den Hügel hinab, als ich plötzlich stolperte und gegen einen weichen schweren Gegenstand stieß.
In diesem Moment zuckte ein Blitz auf und ich erkannte vor mir das Gesicht eines Mannes, der an einem Ast baumelte!
Welch grausiger Anblick. Doch es sollte nicht der letzte in dieser Nacht werden. Je näher wir dem brennenden Herrenhaus kamen, desto mehr Tumult breitete sich aus. Menschen rannten davon und wurden von anderen verfolgt. Und immer wieder erkannten wir hängende Gestalten.
Wir zogen uns zurück und warteten bis zum Morgengrauen. Endlich herrschte Stille und wir wagten uns hervor und eilten davon. Als wir den Ort des Schreckens einige Meilen hinter uns gelassen hatten, baten wir in der Hütte eines Köhlers vollkommen erschöpft und hungrig um Gastfreundschaft.