Ein Fest im Neuen Palais
- Autor: Verne, Jules
"Sire - noch eine Depesche aus Tomsk. Weiter nach Osten sind die Leitungen leider seit gestern unterbrochen!"
"Lassen Sie stündlich ein Telegramm nach Tomsk schicken, General, damit wir auf dem Laufenden bleiben."
"Jawohl, Sire", antwortete Graf Kissoff und damit entstand in dem kurzen Gespräch, das gegen zwei Uhr morgens im Neuen Palais stattfand, vorerst ein längere Pause.
Eine glanzvolle Soiree hatte gerade ihren Höhepunkt erreicht. Die Kapellen der Regimenter spielten ohne Unterbrechung die schönsten Stücke aus ihren Repertoires. Der große Salon, der am üppigsten ausgestattete Raum im Neuen Palais, gab diesem Abend höchster Würdenträger und ihrer Damen einen glanzvollen Rahmen. Die mit Fresken und Stuck verzierte Gewölbedecke schien von einem Sternenmeer überflutet.
Durch die großen Rundbogenfenster drang das Licht nahezu ungedämpft in die finstere Nacht, wo es von fern betrachtet, einer Feuersbrunst glich. Die Gäste, die nicht mit Tanzen beschäftigt waren, standen in Erkern und blickten über die Dächer, hinüber zu den riesigen Silhouetten der beiden Glockentürme gegenüber.
Unten auf dem Pflaster klirrten die Wachen und ihr Gleichschritt war sicherlich sauberer als manche Tanzfigur auf dem Parkett. Noch weiter unten lagen riesige Schiffe auf dem Fluss, der am Palais vorbei glitt.
Der Herr und Gastgeber des heutigen Abend, den General Kissoff mit "Sire" angeredet hatte, ein Titel der nur dem obersten Befehlshaber zustand, war schlicht und unauffällig mit einer Offiziersuniform eines Gardejägers gekleidet. Durch diese spartanische Garderobe stach er von der prunkvollen Menge ab.
Er war ein großer, schlanker Mann mit freundlichem Gesicht und ruhigem Auftreten. Lediglich auf seiner Stirn konnte man einige Sorgenfalten erkennen. Die fielen jedoch nur dem überaus aufmerksamen Beobachter auf und so genossen alle Anwesenden die festliche Stimmung.
General Kissoff wartete nun, dass sein Vorgesetzter ihm gestattete, sich zurückzuziehen. Der hatte aber das Blatt aufmerksam studiert und sein besorgtes Gesicht für einen Moment hinter seinen Händen verborgen.
"Wir sind also", stellte er fest, "seit gestern ohne jeden Kontakt zu meinem Bruder, dem Großfürsten in Irkutsk."
"Leider ja. Und wir befürchten unsere Nachrichten werden bald auch nicht mehr über die sibirische Grenze hinauskommen."
"Aber unsere Truppen im Amurgebiet und in Transbaikalien hat der Marschbefehl nach Irkutsk noch erreicht?"
Der General nickte: "Es war das letzte Telegramm, das wir noch über den Baikalsee brachten."
"Zu unseren Hauptquartieren in Jenisseisk, Omsk und Tobolsk laufen die Drähte noch?"
"Jawohl, Sire, die Telegramme kommen zuverlässig an. Daraus schließen wir, dass die Tataren den Fluss Obi noch nicht überquert haben."
"Und noch keine Spur von dem Verräter Iwan Ogareff?"
Der General schüttelte den Kopf. Daraufhin erhielt er den Befehl, einen Steckbrief des Gesuchten an alle wichtigen Orte jenseits des Uralgebirges zu schicken. Alles unter strengster Geheimhaltung. Kissoff verbeugte sich kurz, mischte sich unter die Gäste und verließ nahezu unbemerkt den Salon.
Zwei Gästen war der Abgang des Generals allerdings aufgefallen. Sie trugen weder Uniform, noch waren sie mit zivilen Auszeichnungen geschmückt. Aber die Art und Weise, wie sie sich über die Sachlage unterhielten, ließen ein erstaunlich detailliertes Wissen erkennen.
Der eine war Engländer, hager und groß mit roten Backen und wirkte eher phlegmatisch. Sein Gehörsinn war jedoch außergewöhnlich ausgebildet. Sein Ohr registrierte jeden Laut und Ton fehlerfrei und katalogisierte ihn für alle Zeit. Eine Stimme, die er nach vielen Jahren wieder hörte, zog er einfach aus der Schublade seiner akustischen Erinnerungen. Er war Korrespondent der englischen Zeitung "Daily Telegraph" und sozusagen von Berufswegen stets gut informiert. Sein Name war Harry Blount.
Der andere war Franzose. Ebenso hager und groß, jedoch braungebrannt von der Sonne der Provence. Im Gegensatz zu seinem Gesprächspartner war er ein überaus lebhafter Zeitgenosse, der es verstand gleichzeitig mit Mund, Händen und Augen zu sprechen, ohne dabei etwas über sich zu verraten.
Seine Augen waren durch fortwährende Übung wach und scharf geworden; nichts entging ihnen. Man konnte sagen der Franzose hatte das vollkommene optische Gedächtnis. Wenn man ihn fragte, für welche Zeitung er arbeitete, antwortete er verschmitzt - "für meine Cousine Madeleine". Mehr war aus Alcide Jolivet nicht herauszubekommen.
Anlässlich der Soiree in Neuen Palais trafen sich die beiden Reporter zum ersten Mal, um für ihre Zeitungen über dieses gesellschaftliche Ereignis zu berichten. Ihr unterschiedliches Temperament und das natürliche Misstrauen einem Kollegen gegenüber ließen sie einander behutsam näher kommen. Jeder selbstverständlich in der Absicht, den anderen auszuhorchen.
Als sie feststellten, dass ihre Informationen sich glichen, waren beide beruhigt. Lediglich ein Telegramm von Jolivet war weiter östlich vorgedrungen, als das von Blount.
"Ich würde gern mal wieder über einen interessanten Feldzug berichten", sagte Jolivet.
"Ich auch!"
"Vielleicht treffen wir uns bald wieder auf weniger sicherem Parkett als hier in diesem Saal."
"Weniger sicher aber aaaauch "
" weniger glatt", lachte Alcide Jolivet und griff seinem Kollegen unter die Arme, denn dieser war beim Rückwärtsgehen ausgerutscht.
In diesem Augenblick wurden die Flügeltüren zu den Speisesälen geöffnet und die Gäste begaben sich hinein. Da kam General Kissoff zurück und ging eilig auf den Hausherrn zu.
"Immer noch unterbrochen?", fragte der Offizier.
"Östlich von Tomsk ist kein Durchkommen mehr!"
"Sofort einen Kurier!"
Beide Männer verschwanden. Ungeachtet seiner Pflichten als Gastgeber zog er sich in sein Arbeitskabinett zurück. Er trat ans Fenster und atmete schwer. Vor ihm lag im matten Licht des Mondes die Festung, aus der zwei Kathedralen, drei Paläste und das Zeughaus hervorragten. Rund um den Festungsgürtel konnte man deutlich drei Stadtteile erkennen.
Über all dem Türme und Minaretts sowie Kuppeln von dreihundert Kirchen mit silbernen und grünen Dächern. Der Fluss glänzte vom Mondschein.
Der Fluss hieß Moskwa, die Stadt Moskau, die Festung war der Kreml. Und der Hausherr in Offiziersuniform war niemand anders als der Zar.