Edward als König
- Autor: Twain, Mark
Völlig verwahrlost und von Taschendieben seines Geldes beraubt befand sich Miles Hendon auf der London Bridge. Dennoch wollte er nur eines - seinen Jungen wieder finden. Er würde die ärmsten Viertel Londons absuchen und in jeder Ansammlung von Pöbel gesondert nachsehen. Doch auch Stunden später war sein kleiner Freund nicht zu finden.
Am Morgen folgte er den Menschen, die dem Huldigungszug zusehen wollten. Diese majestätische Vorstellung würde sein kleiner Freund sich sicher nicht entgehen lassen. So hielt er sich auf dem Gelände um die Westminster-Abtei herum auf. Irgendwann legte er sich erschöpft unter eine Hecke. Eigentlich wollte er ja nur die Augen kurz ausruhen, doch er schlief dort einige Stunden so tief, dass selbst das Donnern der Kanonen ihn nicht aufzuwecken vermochte.
Er erwachte erst am späten Vormittag des nächsten Tages wieder. Mit knurrendem Magen begab er sich auf den Weg zum Königspalast. Er wollte den alten Freund seines verstorbenen Vaters um Hilfe bitten. Sir Humphrey Marlow würde ihm sicher ein wenig Geld borgen, damit er sich etwas zu Essen kaufen könnte.
Vor dem Palast tummelten sich viele Menschen. In seiner bunten Kleidung fiel er aus dem Rahmen und er hoffte, dass sich eine hilfsbereite Seele finden würde, die ihn bei Sir Marlow anmelden könnte. In diesem Aufzug konnte er selbst unmöglich um Einlass bitten.
Plötzlich lief der Prügelknabe an ihm vorüber. Er blieb sofort stehen, denn er glaubte in Miles den Landstreicher wiederzuerkennen, um den sich der König so sehr sorgte. Die Beschreibung passte bis auf den letzten Lumpen zu dieser Vogelscheuche. Davon konnte es nur ein Exemplar geben. Hm, wie soll ich ihn am besten ansprechen?
Doch Miles war schneller. Er fragte ihn, ob er Zutritt zum Palast hätte, weil er doch gerade aus dieser Richtung käme. Auch wenn der Name, den Miles nannte, dem Prügelknaben nicht geläufig war, so wollte er ihm doch helfen. "Setzt Euch auf diese Bank, guter Mann. Ich werde sehen, was ich für Euch tun kann. Es soll nicht lange dauern."
Miles setzte sich in die Nische der Schlossmauer. Doch ein Offizier entdeckte ihn und verhaftete ihn als verdächtiges Individuum, das sich in böser Absicht in der Nähe des Palastes aufhielt. Als sie ihn durchsuchten, fanden sie kein Geld, nur den Degen nahmen sie ihm ab. Ebenso den Brief, den seinerzeit der kleine König in einer fremdländischen Schrift und Sprache geschrieben hatte. Den hatte Miles aufbewahrt.
Als der Offizier die Worte vorlas, wurde Miles Hendon jedoch leichenblass. Nun hielten sie ihn für einen weiteren Thronanwärter. Das Papier sollte umgehend dem König vorgelegt werden. Miles dachte bereits an die nun folgende Strafe, wahrscheinlich Tod durch Erhängen. Er sah sich bereits am Strick baumeln.
Nach kurzer Zeit kam der Offizier eilig zurück. Er verlangte, den Gefangenen freizugeben, ihm den Degen wiederzugeben und sagte würdevoll, er möge ihm folgen. Hendon wunderte sich über diese Freundlichkeit, die unter diesen Umständen schon fast spöttisch wirkte. Doch beim Hauptportal übergab man ihm einem glanzvoll bekleideten Diener, der ebenso respektvoll grüßte und sich verbeugte. Auch die Lakaien, die ihnen auf dem Weg begegneten, verbeugten sich vor ihm, bis ihr Kopf fast den Boden berührte.
Er wurde in einen Saal gebracht, in dem Edelleute versammelt waren, die seine vogelscheuchenartige Erscheinung lediglich belustigt wahrnahmen. Miles war verwirrt. Wenige Schritte vor ihm saß der junge König und sprach mit einem der hohen Herren.
Doch als der König den Kopf hob und Miles sein Gesicht erkennen konnte, da stockte ihm der Atem. "Oh großer Gott", stammelte er und noch mehr Verwirrendes kam über seine Lippen. Er blickte hilflos umher, aber es schien wirklich zu passieren. Dies hier war kein Traum. Ist das nun wirklich der König von England, dieser armselige Straßenjunge?
Zum Test holte er sich einen Stuhl und setzte sich einige Meter vom König entfernt darauf. Empört liefen sofort die Wachen zu ihm: "Aufstehen, du ungebildeter Irrer! Du befindest dich in Gegenwart des Königs, da sitzt man nicht."
Da hob der junge König die Hand und rief: "Lasst ihn. Dies ist sein gutes Recht." Er nutzte die Verblüffung seiner Diener und der hohen Herren. "Nehmt zur Kenntnis, meine Damen und Herren, dieser Mann ist mein geliebter Diener Miles Hendon. Er bewahrte mich vor großem Schaden und vor dem Tod. Er ließ sich für mich auspeitschen. Nach Willen des Königs wurde er zum Ritter geschlagen. Jetzt ernenne ich ihn zum Grafen von Kent und es soll ihm so viel Besitz zukommen, wie es sich für einen Grafen gebührt. Auch darf er künftig in Gegenwart des Königs immer sitzen. Ebenso dürfen seine Nachfahren den Titel weiterführen, solange die Krone besteht. Belästigt diesen Mann nicht!"
Unter den Gästen befanden sich Sir Hugh und Lady Edith, die sich vor Staunen gar nicht mehr beruhigen konnten. Er flüsterte: "Mein Wahnsinniger mit seinem Bettelknaben! Oh großer Gott, ich wollte, ich könnte mich irgendwo verstecken."
Doch inzwischen hatte der König Sir Hugh erkannt. Zornig befahl er seinen Leuten, diesen Verbrecher hinter Schloss und Riegel zu setzen. Er wolle später über das Schicksal dieses Mannes entscheiden.
Am anderen Ende des Saales erschien Tom Canty in eigentümlicher Aufmachung. Er kniete vor seinem König nieder. Mit freundlicher Stimme sprach Edward zu ihm: "Du hast die Regierungsgeschäfte geschickt geführt. Ich bin zufrieden mit dir und deinen weisen Entscheidungen. Ich hoffe, dass du deine Mutter und deine Schwestern wieder gefunden hast. Ja? Für sie soll gesorgt werden und wenn du möchtest, dann lasse ich deinen Vater hängen, vorausgesetzt das Gesetz erlaubt dies."
Zur Gesellschaft zugewandt erklärte er weiter: "Ich mache bekannt, dass ab diesem Tag alle jene, die im Christ Hospital leben, Obdach und Nahrung bekommen sollen. Aber auch Geist und Gemüt sollen dort nicht mehr zu kurz kommen. Dieser Junge wird für immer im Christ Hospital leben und fortan erstes Mitglied im Vorstand sein. Außerdem gebührt ihm weiterhin höhere Ehre, da er immerhin mehrere Wochen der König von England war. Er wird eine eigene Tracht tragen, die niemand nachmachen darf und wo er hinkommt, sollen die Menschen ihm mit Ehrerbietung entgegentreten. Er steht dem Thron nahe und genießt unseren besonderen Schutz. Wir verleihen ihm den achtbaren Titel: Mündel des Königs!"
Glücklich erhob sich Tom Canty. Er küsste des Königs Hand, bevor er aus dem Saal geführt wurde. Danach besuchte er umgehend seine Mutter und seine Schwestern, die sich mit ihm über das unerwartete Glück freuen würden.