Die bestrafte Königin

Die bestrafte Königin

Es war einmal ein König, der war stark und kühn. Er liebte seine Land und seine Untertanen, und er bemühte sich immer gerecht zu sein. Jeden Morgen nach der Messe streute er reichlich Almosen unter die Armen und hörte, worüber man gerade klagte. Die Königin war dagegen hinterhältig und bekannt für ihren Ehrgeiz.

Das Königspaar hatte einen Sohn, der vom Vater in strenger Zucht gehalten wurde. Wenn sich der Sohn auch nur das Geringste zu Schulden kommen ließ, wurde er wie ein Gesetzesbrecher vor den König geführt und erhielt auch allerlei Hiebe.

Eines Tages, als der Prinz schon fast erwachsen war, sprach der König zu ihm: "Mein Sohn, ich bin schon alt. Du wirst bald an meine Stelle treten und König sein. Aber solange ich noch regiere, werde ich deine Missetaten weiterhin bestrafen. Das ist meine väterliche Pflicht, um aus dir einen guten und gerechten Thronfolger zu machen." Der König ergriff einen Stock und schlug seinen Sohn auf die ausgestreckten Hände.

§19

Gewalt gegen Kinder ist verboten!
Kinder sind nicht so stark wie Erwachsene und können sich nicht so gut wehren, wenn ihnen ein Unrecht angetan wird. Deshalb dürfen Eltern und Erzieher nicht zulassen, dass Kinder geschlagen, eingesperrt oder misshandelt werden. Es gibt sogar Länder, in denen Ohrfeigen verboten sind. Früher glaubte man, dass Kinder viel geschlagen werden müssen, damit sie brav werden. Ein Prinz, der in seiner Kindheit so oft verletzt und gekränkt wurde, kann doch gar kein gerechter König werden. Oder?

Der Prinz bemühte sich mehr und mehr, ein unauffälliges und braves Leben zu führen. Nur so konnte er das Maß seiner Strafen in Grenzen halten. Und schon bald erzählte man sich im ganzen Land, der Prinz werde einst in Güte und Gerechtigkeit herrschen.

Eines Abends, als sie noch beim Mahle saßen, sagte der König zu seinem Sohn: "Morgen erlangst du deine Volljährigkeit. Ich bin müde und alt, darum sollst du bald an meiner Stelle herrschen. Bis dahin magst du dich nach Herzenslust bei der Jagd vergnügen. Dafür musst du aber in sechs Monaten verheiratet sein. Such dir eine rechtschaffene Braut, denn ich werde erst zufrieden sein, wenn eine neue Herrin hier Einzug hält."

Der Prinz dankte seinem Vater und versprach ihm zu gehorchen. Die Königin aber hatte alles mit angehört und sah sich von ihrem Gemahl betrogen. Sie wollte ewig Königin sein, bis zu ihrem eigenen Tode. Nach dem Mahl nahm sie ihren Sohn beiseite und sprach: "Höre, mein Sohn! Vergnüge dich nur gut bei der Jagd. Aber zum Heiraten ist es nicht die passende Zeit." Der Prinz senkte traurig die Augen und beugte sich dem Willen seiner Mutter.

Am folgenden Tag ritt er mit seinen Gesellen auf die Jagd und kehrte erst am Abend wieder. Das wiederholte sich Tag für Tag, bis der König den Prinzen tadelte. "Mein Sohn", sprach er, "du kehrst Abend für Abend ins Schloss zurück, mit Hasen und Rebhühnern beladen. Aber wie steht es um deine Braut? Du hast es mir doch versprochen." "Geduld, mein Vater", erwiderte der Prinz, "es bleiben mir noch vierzig Tage."

Die Zeit floss dahin, und der König konnte es schließlich nicht mehr ertragen. "Nun gut", dachte er, "dann werde ich eben selber die richtige Braut für meinen Sohn finden."

Sieben Tage später zog ein fremder König mit seiner Tochter zum Schlosstor ein. Die Prinzessin war hübsch anzusehen und sanft wie eine Heilige. Da vergaß der Prinz die Jagd mit einem Schlag und mühte sich, das Herz der Prinzessin zu gewinnen. Schließlich kehrten die Gäste aber in ihr Land zurück, was den Prinzen tief betrübte. Da sprach der alte König: "Endlich sind sie fort. Möge Gott geben, dass sie so bald nicht wiederkommen." Der Prinz erblasste und rief: "Ich bitte euch, Vater, sprecht nicht so. Ich liebe die Prinzessin über alles, und wenn ich sie nicht zur Frau bekomme, wird es Unheil mit sich bringen." Der König lachte und sprach: "Oh, du Narr! Die Verlobung ist schon längst ausgehandelt. Hast du es denn nicht gemerkt? Morgen reisen wir alle zum Schloss deiner Geliebten. Und in dreizehn Tagen wird sie hier bei uns die neue Herrin sein."

Die Königin hörte es, ohne ein Wort zu sagen. Sie ging hinaus und kam mit zwei Bechern Wein zurück, die sie Vater und Sohn zur Erfrischung reichte. "Auf dein Wohl, mein Sohn!", rief der König und leerte sein Glas in einem Zuge. Kurz darauf wurde er ganz grün im Gesicht und sackte tot zusammen. Man begrub ihn gleich am folgenden Tage, und das Volk begrüßte seinen neuen König.

Am Abend ging der junge König ins Schlafgemach seines Vaters, um dort die Nacht zu verbringen. Müde warf er sich auf das Bett und schlief sofort ein. Beim ersten Schlag der Mitternachtsglocke erwachte er. Der Geist seines toten Vaters sah ihn schweigend an. Er nahm seine Hand und führte ihn in einen verlassenen Winkel des Schlosses. Dort öffnete er ein geheimes Wandversteck und zeigte auf ein kleines Fläschchen. "Deine Mutter", sprach der Geist, "hat mich mit diesem Trank vergiftet. Jetzt bist du selber König, und ich fordere von dir Gerechtigkeit." Der Geist verschwand und die Angst fuhr dem jungen König in die Glieder. Leise schlich er in den Stall hinunter, sattelte sein bestes Pferd und ritt in die schwarze Nacht.

Als der Morgen graute, klopfte er heimlich an die Pforte seines besten Freundes und sprach: "Es ist Unheil geschehen. Ich muss fort und weiß noch nicht wohin. Du aber musst zu meiner Braut gehen und ihr sagen, dass ich sie niemals vergessen werde.

Der König ritt weiter und kam in eine große Stadt, wo er seine ganze Habe verkaufte. Das Geld schenkte er den Armen und zog nun wie ein Bettler gekleidet von dannen. Nach langer Reise kam er zum Fuße eines hohen Berges. Dort baute er sich eine kleine Hütte und lebte in großer Bescheidenheit. Eines Abends erwachte er plötzlich um Mitternacht, und sah den Geist seines Vaters. "Deine Mutter hat mich vergiftet", flüsterte der Geist. "Du bist immer noch König, und ich fordere von dir Gerechtigkeit." Verzweifelt rannte der junge König aus seiner Hütte hinaus und verschwand in der dunklen Nacht.

Ein ganzes Jahr wanderte er ziellos umher, ohne je nach dem Weg zu fragen. Da traf es sich, dass er wieder zum Haus seines besten Freundes kam. Dieser erkannte sogleich den jungen König und schickte sich an zu berichten. Die Braut des jungen Königs war traurig in ein Kloster gegangen und dort schon sehr bald gestorben. Die alte Königin aber herrschte mit harter Hand, zum Unglück des ganzen Landes. Tief betrübt bat der junge König um ein Nachtlager und schlief ein.

Um die Mitternachtsstunde wachte er plötzlich auf. Der Geist seines Vaters stand zum dritten Mal vor ihm und forderte Gerechtigkeit. Als der Geist dann wieder verschwunden war, ging der junge König in das Zimmer seines Freundes und sprach: "Heute Abend werde ich nicht mehr in diesem Lande sein, und ich kehre auch nicht mehr zurück. Hier ist ein Schreiben für dich. Darin steht, dass du, mein Freund, der Thronfolger sein wirst. Und jetzt bringe mir ein Schwert und sattle ein Pferd."

Der junge König ritt noch in der gleiche Nacht zum Schloss und ließ sich zu seiner Mutter führen. Sie sprach: "Mein lieber Sohn, ich habe schon nicht mehr gehofft, dich lebend wiederzusehen. Was ist geschehen?" Der junge König antwortete: "Ich komme von weit her. Freut euch, ich habe endlich eine Frau gefunden. Morgen wird sie bei uns sein." Die Königin zuckte nur kurz mit den Wimpern und sagte nicht ein einziges Wort. Sie ging hinaus und kam mit zwei Bechern Wein zurück. Dann sprach sie: "Trinken wir auf das Wohl deiner Braut." Da zog der König sein Schwert, legte es auf den Tisch und erwiderte: "Ihr wollt mich also vergiften, wie meinen Vater. Sein Geist ist mir dreimal erschienen und hat es mir gesagt. Seht nun dieses Schwert! Ich gebe euch noch Zeit für ein Gebet, dann werdet ihr den Gifttrank selber nehmen. Tut ihr es nicht, werde ich euch bei lebendigem Leibe enthaupten."

Die Königin lachte wie vom Wahnsinn getrieben und leerte das Glas bis auf den Grund. Schon kurz darauf war sie grün im Gesicht und schloss für immer die Augen. "Verzeiht mir, Mutter", sprach der junge König. Dann ging er langsam zum Stall hinaus, schwang sich aufs Pferd und ritt einsam in die dunkle Nacht. Danach hat ihn niemand mehr gesehen.