Die Verordnung

  • Autor: Verne, Jules

Hier in Nishny-Nowgorod endete der Schienenweg nach Osten. Ab jetzt musste Michael Strogoff auf langsamere und damit auch gefährlichere Verkehrsmittel ausweichen. Am Hafen erfuhr er, dass sein Wolgadampfer erst am nächsten Tag um zwölf Uhr ablegen würde.

Diese lange Wartezeit war für einen Mann mit einer solch eiligen und wichtigen Mission nur schwer zu ertragen. Jedoch war ihm bewusst, dass kein anderes Fahrzeug ihn schneller befördern würde.

Michael Strogoff schlenderte vom Hafen wieder in die Stadt, um sich ein Quartier für die Nacht zu suchen. Dieses Unterfangen war zu diesem Zeitpunkt nicht leicht, weil aufgrund der Handelsmesse gut zehnmal mehr Menschen in Nishny-Nowgorod waren, als üblich.

Obwohl es schon Abend war, drängten sich die Kaufleute in den Gassen. Doch unser Kurier, vom Hunger getrieben, fand ein Wirtshaus, indem sogar noch ein schlichtes Zimmer für ihn frei war. Nach einem gefüllten Entenbraten mit Gerstenbrot und Sauermilch, stand er auf. Allerdings begab er sich nicht in sein Bett, wie man nach einer zehnstündigen Zugfahrt annehmen mochte, sondern streifte kreuz und quer durch die Stadt.

Warum tat er das? Ihm ging das junge Mädchen, das er aufgrund ihres Aussehens für eine Livländerin hielt, nicht aus dem Kopf. Er fürchtete, ihr könne in dieser übervollen Stadt bei all dem Gesindel etwas zustoßen. Noch mehr beschäftigte ihn die Frage, was das Mädchen nach Irkutsk trieb. Es war ein Unterfangen, dass sie niemals schaffen würde. Hinter dem Ural tobte der Krieg. Davon musste sie doch gehört haben. Aber sie schien das überhaupt nicht zu interessieren.

Michael Strogoff war lange gelaufen und da die Nacht hereingebrochen war, beschloss er, seine Herberge aufzusuchen.

Als er am Morgen des 17. Juli auf seiner harten Pritsche erwachte, lagen noch fünf Stunden Wartezeit vor ihm, bis der Dampfer Richtung Perm abfuhr. Wie sollte er diesen Vormittag anders totschlagen, als wieder ziellos durch die Stadt zu laufen. Er zog sich an, versteckte seinen Brief mit dem Siegel des Zaren in die dafür eingenähte Innentasche im Futter seines Unterrocks, bezahlte und verließ die Herberge.

Nachdem er auf dem Schifffahrtsbüro noch einmal nachgefragt hatte, ob der Wolgadampfer "Kaukasus" auch planmäßig abfahren würde, begab er sich zum Messegelände. Es lag ein Stückchen außerhalb der Stadt. Während der Messe hatte der Generalgouverneur von Nishny-Nowgorod seinen Sitz im Sommerpalast, der sich auf dem Messegelände befand.

Auf dem Platz standen für jeden Gewerbezweig zahlreiche "Budendörfer". Der Andrang nahm mit jeder Stunde mehr zu, sodass sich die Besucher bald nur noch durch die Straßen schoben. Ein unentwirrbarer Riesenknäuel aus Europäern und Asiaten diskutierte, stritt und feilschte.

Die freien Plätze zwischen den Budendörfern waren das Reich der Künstler, Schausteller, Seiltänzer und Akrobaten. Zigeuner lasen jeden Vorübergehenden aus der Hand oder führten Tänze auf. In diesem kunterbunten Gemisch der Nationen und Kulturen befand sich jedoch nicht nur unser Michael Strogoff, sondern auch die beiden Reporter Harry Blount und Alcide Jolivet.

Sie nutzten die Pause, bis zur Weiterreise mit der "Kaukasus", um ihren Lesern einen möglichst lebensnahen Einblick in diese berühmte Messe zu geben.

Alcide Jolivet, der geborene Optimist, der auch noch per Zufall ein bequemes Bett und eine reich gedeckte Tafel gefunden hatte, füllte sein Notizbuch mit positiven Kommentaren über die großartige Stadt Nishny-Nowgorod.

Harry Blount hingegen hatte die Nacht im Freien verbringen müssen. Kein Wunder, dass seine Aufzeichnungen ungefähr das Gegenteil von denen seines französischen Kollegen enthielten.

Michael Strogoff, der immer etwas genauer hinsah, als alle anderen, hatte eine interessante Entdeckung gemacht. Auf dem Messeplatz, auf dem es normalerweise von Soldaten nur so wimmelte, war kein einziger auszumachen. Offensichtlich waren sie in Alarmbereitschaft und es herrschte Ausgangssperre.

Noch während er darüber nachdachte, sickerte das Gerücht hindurch, dass der Polizeipräfekt soeben zum Generalgouverneur gerufen worden war. Der Anlass sei eine wichtige Depesche aus Moskau.

Michael Strogoff lauschte allen Gesprächen aufmerksam und bald schrie Einer: "Die wollen die Messe schließen!"

"Die Tartaren stehen vor Tomsk", rief ein Zweiter.

"Da kommt der Präfekt", schallte es plötzlich von allen Seiten.

Lautlose Stille trat ein. Alle hatten begriffen, dass eine wichtige Entscheidung bekannt gemacht werden sollte. Eine Eskorte von Kosaken bahnte ihrem Präfekten den Weg zur Mitte des Platzes. Dort stelle er sich auf, öffnete ein Dokument und verlas:

"Verordnung des Gouverneurs von Nishny-Nowgorod: Erstens: Kein russischer Staatsbürger verlässt das Land. Zweitens: Alle Ausländer asiatischer Herkunft überschreiten binnen vierundzwanzig Stunden die Grenze."

Ein Raunen ging durch die Menge. Doch man muss zugeben, dass die besonderen Umstände derartige Maßnahmen notwendig machten. Sollte Ivan Ogareff tatsächlich noch in Russland sein, wurde es für ihn fast unmöglich zu den Tartaren zu fliehen.

Außerdem wurde man mit Teil zwei der Verordnung all das zweifelhafte Volk mit einem Schlag los, das ohne Frage mit den Mongolen und Tartaren sympathisierte.

Die Menschen begannen zu schimpfen, aber die Polizei brachte sie augenblicklich zum Schweigen.

Das Reisedokument, das Michael Strogoff alias Nikolaus Korpanoff bei sich trug, erlaubte ihm, trotz der Verordnung weiterzureisen. Da fiel ihm das Mädchen wieder ein. Was sollte das arme Ding jetzt anfangen. Ihre Weiterreise nach Irkutsk war damit unterbrochen. Er musste dem guten Kind helfen. In sein Podaroshna konnte er den Namen einer Begleitperson eintragen.

Er überlegte sich, dass das Mädchen ihm vielleicht ganz nützlich wäre, weil er so viel einfacher den harmlosen Kaufmann spielen konnte. Er musste sie unbedingt finden.

Die asiatischen Kaufleute hatten bereits mit dem Abbau ihrer Stände begonnen, es war neun Uhr und Michael Strogoff verließ das Messegelände, um die junge Livländerin zu suchen.

Wie sollte er sie in diesem Chaos finden? Sein erster Weg führte ihn zum Schiff, doch dort war sie nicht. Zwei Stunden irrte er umher und gab die Hoffnung schließlich auf. Michael Strogoff beschloss seinen Podaroshna nochmals der Polizei vorzulegen, damit es keine unangenehmen Zwischenfälle gab.

Auf der Polizeidienststelle herrschte ein riesiger Menschenauflauf. Denn die Ausländer, die man binnen vierundzwanzig Stunden hinauswarf, mussten sich natürlich den Ausreiseformalitäten unterziehen. Dank seiner stattlichen Erscheinung und breiter Ellenbogen bahnte sich Michael Strogoff einen Weg zum zuständigen Inspektor.

Da er einen Augenblick warten musste, sah er sich um und entdeckte auf einer Bank ein Häufchen stummer Verzweiflung: Das Mädchen aus Livland. Er wollte gerade zu ihr hinübergehen und auch sie hatte ihn erkannt und lächelte hoffnungsvoll, da tippte ihm der Inspektor auf die Schulter und erklärte:

"Sie können kommen."

"Gut."

Ohne sich weiter um das Mädchen zu kümmern, folgte er. Das Spiel, das er nun vorhatte, durfte keiner durchschauen. Er war Nikolaus Korpanoff auf dem Weg nach Irkutsk.

Als die junge Livländerin den Menschen verschwinden sah, der ihr vielleicht hätte helfen können, sank sie erneute auf ihrer Bank zusammen. Drei Minuten später kam Michael Strogoff in Begleitung des Inspektors zurück. In seiner Hand den Podaroshna, der ihm alle Wege nach Sibirien öffnete.

Er ging zielsicher auf das Mädchen zu, nahm sie an der Hand und sagte:

"Komm, Schwesterchen!"

Es verstand sofort, erhob sich schnell und erwiderte: "Ja, Bruder, ich komme!"

Beide verließen die Polizeidienststelle in größter Eile.