Die Telegrafenstation
- Autor: Verne, Jules
Für den Augenblick war Michael Strogoff gerettet und doch schien seine Lage mehr als aussichtslos. Das treue Pferd war ertrunken. Wie sollte er jetzt weiterkommen? Die ganze Gegend von Plünderern verwüstet und noch eine riesige Strecke von seinem Ziel entfernt.
"Weiß der Himmel, ich werde es schaffen!", rief er, um die negativen Gedanken zu vertreiben.
Die Usbeken hatten nicht gewagt, ihn durch den Fluss zu verfolgen. Außerdem mussten sie annehmen, dass er ertrunken sei, denn er war in den Wellen versunken und keiner hatte ihn am anderen Ufer an Land kriechen sehen.
Der Kurier blickte sich um und entdeckte gut zwei Kilometer entfernt ein kleines Städtchen auf einem Hügel. Das musste Kolywan sein. Sein Plan war schnell klar: Er musste noch vor den usbekischen Reitern, die ja noch auf der anderen Uferseite waren, den Ort erreichen und sich dort ein Pferd, Kleider und Proviant kaufen.
Es war drei Uhr am Morgen. Die Umgebung lag noch ruhig und verlassen da. Michael Strogoff lief los, als er plötzlich eine Explosion hörte. Er blieb stehen und musste erkennen, dass das die Geräusche eines beginnenden Gefechts waren.
Koste es, was es wolle, er musste Kolywan noch vor den Tataren erreichen! Doch der Kanonendonner wurde immer lauter. Das Städtchen wurde von Westen her angegriffen. Da tauchte vor ihm eine tatarische Kavallerieabteilung auf, die auf Kolywan zugaloppierten. Michael Strogoff musste sich sofort verstecken, sonst würden sie ihn bemerken.
Zum Glück stand hinter dichtem Gebüsch ein kleines Haus. Dorthin musste er sich retten. Als er näher kam, erkannte er, dass es eine Fernmeldestation war. Unter diesen Umständen war das Büro sicherlich geschlossen. Der Kurier lief auf die Tür zu und stieß sie auf.
Es war nur ein einziger Raum. Hinter einem Tisch saß der Beamte - pflichtbewusst und phlegmatisch. Ihn schien nicht zu interessieren, was draußen vor sich ging. Michael Strogoff rannte auf den Mann zu und wollte ihn befragen, was er über das Gefecht wisse. Doch in dem Moment sprang die Tür erneut auf.
Michael Strogoff war schon bereit, durchs Fenster vor den Tataren zu flüchten, als er erkannte, wer da die Telegrafenstation betrat. Es waren zwei Leute, von denen er niemals geglaubt hätte, sie noch einmal zu sehen: Die beiden Reporter Alcide Jolivet und Harry Blount.
Die Herren waren keine Reisekameraden, sondern erbitterte Feinde, die nur im Sinn hatten, ihre Leser als Erste über das Kriegsgeschehen zu informieren.
Der Kurier zog sich in eine dunkle Ecke zurück und konnte so unbemerkt alles sehen und hören. Vor allem hoffte er, mehr über die Lage in Kolywan zu erfahren.
Harry Blount war schneller als sein Kollege gewesen, hatte sich vor den Schalterbeamten gesetzt und einen Stapel Rubel auf den Tisch getürmt.
"Zehn Kopeken das Wort", erklärte der Beamte.
Der Engländer zog seine Notizen aus der Tasche und begann folgendes Telegramm aufzugeben:
daily telegraph london stop
gefecht zwischen russischen truppen und tataren stop
die russischen einheiten unter großen verlusten auf beiden seiten zurückgedrängt stop
Das war der Schluss des Telegramms.
"Jetzt bin ich dran!", rief Alcide Jolivet.
Das gefiel dem englischen Reporter wiederum überhaupt nicht. Er wollte unbedingt weiter als Kunde am Tisch des Beamten bleiben und seiner Meldung einen mächtigen Vorsprung verschaffen.
"Aber Sie sind doch fertig, verdammt noch mal!", regte sich der Franzose auf.
"Keineswegs", erwiderte Harry Blount und diktierte weiter:
am anfang schuf gott himmel und erde stop
Die ersten Zeilen aus dem Alten Testament, die der Engländer in seine Heimat übermittelte, würden seiner Zeitung zwar ein Vermögen kosten, aber damit war er der übrigen Weltpresse um eine Nasenlänge voraus. Vor allem Frankreich musste warten!
Das Schauspiel, das sich Michael Strogoff nun bot, sucht seines Gleichen. Der Engländer übermittelte abwechselnd Verse aus dem ersten Buch Mose, vermischt mit neuen Meldungen, die er beim Blick aus dem Fenster erhielt.
Als er allerdings zu lange am Fenster verweilte und der Beamte gerade mit dem dritten Vers fertig war, schlicht sich der Franzose auf den Stuhl und begann nun selbst die Telegrafenleitung zu besetzen.
Um die Lücken zu füllen, benutzte er jedoch keine Bibelverse, sondern die Texte französischer Volkslieder.
Inzwischen war die Lage um Kolywan immer bedrohlicher geworden. Die Schlacht weitete sich aus. Da wackelte plötzlich das ganze Telegrafenamt. Eine Granate hatte getroffen und die Mauer durchschlagen. Der gesamt Raum füllte sich mit Pulverqualm.
Der Franzose gab in aller Ruhe ein weiteres Telegramm auf:
granate durchschlägt mauer des telegrafenamtes stop
warten auf weitere granaten stop
Für Michael Strogoff gab es keinen Zweifel mehr. Die Russen flüchteten aus Kolywan. Ihm selbst blieb nur der Weg nach Süden durch die Steppe. Da knatterte eine Gewehrsalve gegen das Häuschen. Die Fensterscheibe zersplitterte und Harry Blount fiel an der Schulter getroffen zu Boden.
Alcide Jolivet beeilte sich, seinem Telegramm noch etwas hinzuzufügen:
harry blount korrespondent des daily telegraph an meiner seite von gewehrkugel niedergestreckt stop
Aber der gewissenhafte Beamte unterbrach ihn und bedauerte:
"Mein Herr, die Verbindung ist leider unterbrochen."
Unmittelbar darauf wurde das Häuschen von den Tataren gestürmt. Weder Michael Strogoff noch den beiden Reportern gelang die Flucht. Sie wurden gefangen genommen.