Die Reise zum Mittelpunkt der Erde

  • Autor: Verne, Jules

1. Professor Lidenbrock
2. Runen
3. Ein lateinischer Satz
4. Das Geheimnis wird gelüftet
5. Eine Befürchtung wird wahr
6. Ein letzter Versuch, das Unabwendbare abzuwenden
7. Reisevorbereitungen
8. In Kopenhagen
9. Island
10. Pläne
11. Hans
12. Aufbruch
13. Auf zum Sneffels
14. Stapi
15. Der Aufstieg
16. Im Krater
17. Der Abstieg
18. Ins Erdinnere
19. Der Lavagang
20. In der Sackgasse
21. Zurück
22. Durst
23. Wasser
24. Der Schacht
25. Berechnungen
26. Verirrt
27. Wo seid ihr?
28. Gerettet
29. Die Grotte
30. Das Meer
31. Das Floß
32. Fische
33. Der Kampf
34. Die Insel
35. Die Feuerkugel
36. Die Enttäuschung
37. Der Friedhof
38. Menschen
39. Der Dolch
40. Ein neuer Tunnel
41. Die Sprengung
42. Aufwärts
43. Der Vulkan bricht aus
44. Stromboli
45. Rückkehr

 

 

1. Professor Lidenbrock

Es war der 24. Mai 1863. An diesem Sonntag kam mein Onkel, Professor Lidenbrock, auf sein kleines Haus in der Königsstraße 19 zugeeilt. Es war eines der ältesten Häuser in diesem Viertel in Hamburg und die gute Martha musste glauben, dass sie sich mit dem Mittagessen verspätet hatte. Erschrocken rief sie: "Ach je, da kommt ja Herr Lidenbrock." "Ja, Martha.", beruhigte ich sie. "Aber es ist noch Zeit. Die Uhr der Michaeliskirche hat eben erst halb zwei geschlagen." "Warum kommt er denn so früh?", beschwerte sich Martha und verschwand vorsichtshalber schnell in ihrem kulinarischen Laboratorium und überließ es mir, meinen jähzornigen Onkel zu beruhigen. Da ich aber ein eher unentschlossener Charakter bin, zog ich es vor, eben so schnell wie Martha zu verschwinden.

Leise schlich ich mich in mein Zimmer, während ich unten die Haustür in den Angeln knirschen hörte. Die Treppe knarrte und der Herr des Hauses eilte durch das Esszimmer in sein Arbeitszimmer. Auf dem Weg dorthin rief er schon nach mir: "Axel, komm her!" Ehe ich mich bewegen konnte, rief er ein zweites Mal: "Wo bleibst du so lange?" So schnell ich konnte, eilte ich in das Arbeitszimmer meines furchtbaren Gebieters.

Otto Lidenbrock war kein böser Mensch, das gebe ich gern zu. Aber er war sehr eigenartig und würde als schrecklicher Sonderling sterben, wenn er sich nicht noch sehr änderte. Am Johanneum war er Professor und hielt Vorlesungen über Mineralogie. Ob seine Schüler etwas lernten oder nicht war ihm herzlich egal. Er war ein sehr egoistischer Gelehrter, der nur für sich und nicht für die anderen lehrte. Manchmal blieb er in seinen Vorlesungen einfach stecken, musste mit einem störrischen Wort kämpfen, das ihm nicht über die Lippen wollte, um sich schließlich in einen wenig wissenschaftlichen Fluch zu flüchten. Ich will nichts Schlechtes über die Wissenschaft sagen, schon gar nicht, wenn man mit Wörtern wie rhomboëdrischen Kristallisationen, retinasphaltischen Harzen oder Mangantungstaten umgehen soll. Aber in der Stadt kannte man die Schwäche meines Onkels und lauerte geradezu darauf, dass gefährliche Stellen seine Zunge zum Straucheln brachten.

Auch wenn hin und wieder über ihn gelacht wurde, so war mein Onkel doch ein wirklicher Gelehrter. In ihm verband sich das Genie des Geologen mit dem Blick des Mineralogen und sein Name hatte in der wissenschaftlichen Welt einen guten Klang. Er war ein großer, hagerer Mann, hatte eine eiserne Gesundheit und wirkte durch sein blondes Haar zehn Jahre jünger als seine tatsächlichen fünfzig Jahre. Er trug eine starke Brille, hinter deren Gläsern sich seine Augen beständig bewegten. Beim Gehen machte mein Onkel Riesenschritte und ballte seine Hände zu Fäusten. Sein Temperament war zeitweilig aufbrausend und ich war auf seine Gesellschaft nicht allzu erpicht.

Für einen deutschen Professor war mein Onkel reich. Das Haus in der Königstraße 19, das ein wenig schief und krumm da stand, gehörte ihm, mit allem, was dazu gehörte. Und das waren Martha, die Haushälterin, Grete, sein siebzehnjähriges Mündel und ich. In meiner doppelten Eigenschaft als Waise und sein Neffe, wurde ich der Laborgehilfe. Die geologischen Wissenschaften machten mir Spaß und in Gesellschaft meiner kostbaren Steine wurde mir nie langweilig. Auch wenn mein Onkel zu Ungeduld und Reizbarkeit neigte, konnte man in dem kleinen Haus, das halb aus Holz und halb aus Ziegeln bestand, recht glücklich leben, wenn man zur rechten Zeit das Rechte tat. Gehorchen! So schnell ich konnte, eilte ich in sein Arbeitszimmer.

 

 

 

2. Runen

Das Arbeitszimmer meines Onkels sah aus wie ein Museum. Nach den drei großen Gruppen der brennbaren, der metallischen und der lithoiden Minerale waren alle Proben wohlgeordnet und sauber etikettiert. Als Junge hatte ich lieber als alles andere diese Schätze bewundert und abgestaubt. Jetzt hatte ich natürlich anderes im Kopf, als mich mit diesem Schätzen zu befassen. Mein Onkel saß in seinem großem Plüschsessel, hielt ein Buch in seinen Händen und rief: "Was für ein Buch! Was für ein Buch! Schau dir diese unschätzbare Kostbarkeit an. Was für ein Einband. Nach sieben Jahrhunderten kein einziger riss im Buchrücken. Es lässt sich problemlos öffnen und schließen."

Begeistert öffnete meine Onkel das Buch und klappte es wieder zu. "Wie lautet denn der Titel dieses Wunderwerkes?", erkundigte ich mich höflich. "Dies hier ist die Heimskringla von Snorri Sturleson. Er war ein isländischer Schriftsteller des 12. Jahrhunderts. Es ist eine Chronik der norwegischen Fürsten, die über Island regierten." "Wirklich?", rief ich und heuchelte Interesse. "Es ist doch sicherlich eine Übersetzung?" Mein Onkel schnaubte verächtlich. "Was soll ich mit einer Übersetzung? Es ist selbstverständlich das Originalwerk. In isländischer Sprache geschrieben. Prachtvoll. Handgeschrieben. Runenschrift."

Mir blieb vor erstaunen der Mund offen stehen. "Runen?" "Du weißt doch wohl, was Runen sind?", rügte mein Onkel mich und obwohl ich natürlich wusste, was Runen waren, begann er einen umständlichen Vortrag über eben diese Runen zu halten. "Die Runen waren einst in Island benutzte Schriftzeichen.", er blätterte begeistert in dem Buch und ich fiel auf Knie, um ein fleckiges Pergament aufzufangen, das aus dem Buch fiel und auf den Boden glitt. Mein Onkel stürzte sich ebenfalls auf das Pergament, das in seinen Augen sicherlich besonders wertvoll war, da es so lange unentdeckt in einem alten Buch geschlummert hatte. "Was ist das?", fragte ich, nun wirklich neugierig. Im selben Augenblick entfaltete er das Pergament, fünf Zoll lang und drei Zoll breit, auf dem in transversalen Linien sich geheimnisvolle Buchstaben aneinanderreihten.

Der Professor betrachtete diese Buchstaben ein paar Augenblicke. Dann sagte er: "Runisch. Die Zeichen stimmen mit denen in der Handschrift des Snorri Sturleson überein. Aber was mögen sie nur bedeuten?" Er vertiefte sich wieder in die Zeichen. "Es ist trotzdem Isländisch.", murmelte er. Ich glaubte ihm unbesehen, denn mein Onkel war wirklich polyglott. Er beherrschte zweitausend Sprachen und viertausend Dialekte fließend und verstand darüber hinaus recht viel davon.

Er war immer noch in die geheimnisvollen Zeichen vertieft, als die Uhr auf dem Kaminsims zwei Uhr schlug. Martha steckte den Kopf in das Arbeitszimmer und sagte: "Das Essen ist angerichtet." Mein Onkel rief: "Zum Teufel mit dem Essen!" Martha floh. Ich folgte ihr und saß wenig später auf meinem Platz im Esszimmer. Ich wartete einige Augenblicke, aber der Professor kam nicht. Zum ersten Mal verzichtete er auf eine Mahlzeit! Nun, ich ließ mir die Petersiliensuppe, das würzige Omelett und die gezuckerten Garnelen schmecken. Martha war empört, denn sie hatte noch nicht erlebt, dass der Professor auch nur eine Mahlzeit versäumt hatte. "Das bedeutet nichts Gutes.", unkte sie. Mir war das herzlich egal. Ich genoss meine letzte Garnele als die donnernde Stimme meines Onkels mich um den Genuss meines Nachtischs brachte. So schnell ich konnte, eilte ich in sein Arbeitszimmer zurück.

 

 

 

3. Ein lateinischer Satz

"Setz dich und schreib!", kommandierte mein Onkel statt einer Begrüßung. "Es ist Runisch und ich muss dahinter kommen." Ich gehorchte sofort und das Diktat begann. Mein Onkel diktierte mir Buchstaben, die ich gewissenhaft aufschrieb. So entstand eine Reihe unverständlicher Wörter.

 

m.rnlls. esreuel secJde
sgtssmf unteief niedrke
sk,samn atrates Saodrrn
emtnaeI nuaect rrilSa
Atvaar .nsrc ieaabs
ccdrmi eeutul frantu
dt,iac oseibo KediiY

Kaum war das Diktat beendet, entriss mein Onkel mir das Papier. Verwirrt betrachtete er es. "Was soll das nur bedeuten?", fragte er. Dann sprach er weiter, ohne meine Anwesenheit zu beachten. "Wir nennen es Kryptogramm. Der Sinn ist absichtlich hinter durcheinander geschüttelten Buchstaben verborgen. In der richtigen Reihenfolge aber ergeben sie durchaus einen Sinn. Vielleicht stehen wir vor einer großen Entdeckung?" Im Stillen dachte ich ‚Bestimmt nicht!', hütete mich aber, meine Gedanken auszusprechen.

Mein Onkel hatte inzwischen nach dem Buch gegriffen und die Schriften verglichen. "Das Kryptogramm stammt aus einer späteren Zeit als das Buch. Der erste Buchstabe ist nämlich ein doppeltes M. Diesen Buchstaben würde man in Sturlesons Buch vergeblich suchen. Er wurde nämlich erst im 14. Jahrhundert dem isländischen Alphabet zugefügt. Zwischen dem Kryptogramm und dem buch liegen mindestens zwei Jahrhunderte."

Ich lauschte den Ausführungen meines Onkels mit mäßigem Interesse, auch wenn sie logisch klangen. "Die Vermutung liegt nahe, dass einer der Besitzer des Buches das Kryptogramm verfasst hat.", überlegte meine Onkel weiter. Er untersuchte das Pergament und hoffte, auf einen Namen zu stoßen, konnte aber keinen entdecken. Nur auf der Rückseite des Pergaments entdeckte er einen Fleck. Er untersuchte den Fleck. "Das sind Schriftzeichen!", rief er aufgeregt. Er holte eine starke Lupe mit deren Hilfe er mühelos die Runenschriftzeichen lesen konnte. "Arne Saknussemm!", triumphierte er. "Das ist der Name eines berühmten isländischen Alchimisten aus dem 16. Jahrhundert."

Jetzt bewunderte ich meinen Onkel wirklich. "Die Alchimisten", erklärte er mir, "waren die echten und einzig wahren Gelehrten ihrer Zeit. Avicenne, Bacon, Lulle und Paracelsus haben Entdeckungen gemacht, über die wir mit Recht staunen können. Ich bin sicher, dass Saknussemm unter diesem Kryptogramm eine überraschende Entdeckung verborgen hat. Bestimmt ist es so!" Die Phantasie meines Onkels ging mit ihm durch und ich wagte zu fragen, warum Saknussemm eine wundersame Entdeckung hätte geheim halten wollen. Mein Onkel war ungehalten. "Warum? Was weiß ich? Hat Galilei es mit dem Saturn nicht genauso gemacht? Oh, ich werde diesem Pergament sein Geheimnis entreißen und nicht essen noch schlafen, bevor ich es geschafft habe."

‚O, je!', dachte ich, da donnerte mein Onkel: "Und du auch nicht, Axel!" Ich war froh, dass ich so kräftig zu Mittag gegessen hatte. Zunächst wollte mein Onkel die Sprache der "Chiffren" herausbekommen. Dazu zählte er auf: " Wir haben in diesem Dokument hundertzweiunddreißig Buchstaben, davon neunundsiebzig Konsonanten und dreiundfünfzig Vokale. Die nördlichen Sprachen haben mehr Konsonanten, so dass wir es hier eher mit einer Sprache des Südens zu tun haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass Saknussemm ein sehr gebildeter Mann war. Bestimmt hat er am liebsten in Latein geschrieben. Das war im 16. Jahrhundert die Sprache der Gelehrten. Natürlich kann ich mich irren, aber a priori würde ich sagen: dies ist Lateinisch."

Ich sah meinen Onkel skeptisch an, wollten doch die Buchstaben, die ich zu Papier gebracht hatte, sich so gar nicht mit Vergils lieblicher Sprache, die ich aus dem Lateinunterricht kannte, vergleichen lassen. "Es ist natürlich durcheinander geschütteltes Latein.", erklärte mein Onkel. "Wir brauchen den Schlüssel! Untersuchen wir es." Und während mein Onkel sich mit dem geheimnisvollen Pergament mühte, fiel mein Blick auf ein Porträt von Grete. Die Vierländerin hatte es mir schon vor langer Zeit angetan. Und ich ihr! Heimlich hatten wir uns verlobt und liebten uns nun mit deutscher Geduld und Ausdauer. Grete war ein reizendes, blondes Mädchen mit wunderschönen blauen Augen. Sie war ernst und nachdenklich. Sie liebte mich und ich betete sie an. Sie war die treue Gefährtin meiner Arbeit und meiner Freuden. Sie half mir täglich die kostbaren Steine meines Onkels zu sortieren, zu katalogisieren und zu etikettieren. Momentan allerdings besuchte sie allerdings Verwandte in Altona. Sie vermisste sie.

Mein Onkel holte mich jäh wieder in die Gegenwart zurück. "Das einfachste wäre, die Buchstaben vertikal und nicht horizontal aneinander zu reihen. Los Axel, schreib irgendeinen Satz, aber schreibe die Buchstaben vertikal und nicht horizontal und bitte in Gruppen von fünf bis sechs. ." Ich tat wie mir geheißen. Gleich danach musste ich diese Buchstaben in eine waagerechte Zeile schreiben. Folgender Satz ergab sich: IekGn chmlrn leeei iiitg enne beei. Mein Onkel war begeistert. "Jetzt brauche ich nur noch den ersten Buchstaben aller Wörter hintereinander zu lesen, dann den zweiten und den dritten und so weiter." Er tat es und zu meinem Erstaunen las mein Onkel: "Ich liebe meine kleine Grete innig." Ich Idiot hatte wirklich diesen verräterischen Satz geschrieben. Mein Onkel nickte zerstreut: "So, so, du liebst also deine kleine Grete." Ich war froh, dass der Kopf des Gelehrten die Dinge des Herzens nicht begreifen konnte und jetzt nur an sein Dokument dachte.

Wieder ergriff der Professor das Pergament. Er hustete heftig und diktierte mir schließlich mit ernster Miene jeweils den ersten, dann den zweiten und den dritten Buchstaben und immer so weiter. Schließlich hatte ich geschrieben:

messunka Senr A.icefdok segnittamurtn
ecertserrette rotaivsadua, ednecsedsadne
lacartniiiluJsiratracSarbmutabiledmek
meretarcsiluco YsleffenSnI

Ich war voller Erwartung und sah meinen Onkel an. Würde er nun einen lateinischen Satz daraus machen können? Da erschütterte plötzlich ein heftiger Faustschlag den Tisch, dass die Tinte spritze und mir der Federhalter aus der Hand fiel. Mein Onkel hatte in größter Wut auf den Tisch geschlagen. "Das stimmt nicht!", schrie er. "Das macht keinen Sinn!" und bevor ich auch nur irgendein Wort sagen konnte, war er aus der Tür hinaus, die Treppe hinunter und auf der Straße und rannte, was das Zeug hielt.

 

 

 

4. Das Geheimnis wird gelüftet

Kaum war mein Onkel fort, erschien Martha an der Tür. "Ist er fort? Was ist mit seinem Essen?" "Liebe Martha, er wird nicht essen." , erklärte ich dumpf. "Hier wird niemand wieder essen, bis ein altes Pergament entziffert ist, das alles andere als leicht zu entziffern ist." Martha rang die Hände. "Dann müssen wir alle Hungers sterben?" Ich schwieg und Martha ging sichtlich beunruhigt und seufzend in ihre Küche zurück.

Was sollte ich nun tun? Sollte ich Grete besuchen und ihr alles erzählen? Was aber, wenn der Professor zurückkäme? Vielleicht würde er nach mir rufen. Was würde passieren, wenn ich dann nicht zu Hause wäre? Ich verwarf den Gedanken, Grete einen Besuch abzustatten und ging stattdessen an die Arbeit. Ein Mineraloge aus Besançon hatte uns vor kurzem eine Sammlung kieselartiger Geoden geschickt. Ich machte mich daran, sie zu katalogisieren und zu etikettieren. Während ich diese hohlen Steine, in denen kleine Kristalle glänzten in eine Vitrine legte, beschäftigte sich mein Geist unablässig mit dem Rätsel des alten Pergaments. Ich fühlte eine innere Unruhe und mein Kopf glühte, als hätte ich Fieber. Ich ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen würde.

Schließlich waren die Geoden geordnet und ich setzte mich in einen großen Sessel, um auszuruhen. Wo mochte mein Onkel jetzt wohl sein? Was tat er? Würde er im Triumph oder mit einer Niederlage nach Hause kommen? Würde er das Geheimnis lüften können? Mechanisch griff ich nach dem Blatt Papier, auf das ich aneinander gereihten Buchstaben geschrieben hatte. Was sollte das nur bedeuten?

Ich versuchte, Buchstabengruppen zu bilden, aber es war sinnlos. Irgendwo entdeckte ich das englische Wort ice und auch die lateinischen Wörter ira, rota mutabile, nec und atra ließen sich finden. Daneben sah ich auch ein hebräisches Wort "tabiled" und sogar die französischen Wörter mère, aro und mer. Es war zum Verzweifeln.

Mein Gehirn lief heiß und meine Augen tränten. Ich konnte diesen Buchstaben einfach keinen Sinn entnehmen! Völlig erschöpft fächelte ich mir mit dem Blatt schließlich Luft zu und da sah ich es: Hervorgerufen durch die Bewegung des Blattes, auf das mein Blick zufällig fiel! Ich hatte das Geheimnis gelüftet. Ich sah plötzlich vollkommen leserliche lateinische Wörter, darunter die Wörter "craterem" und "terrestre".

Aufgeregt sprang ich auf und lief zur Beruhigung durch das Zimmer. Dann zwang ich mich, tief Luft zu holen. Schließlich ging ich zurück und setzte mich wieder in den großen Sessel. Ich nahm das Blatt Papier zur Hand. ‚Lies!', befahl ich mir. Und das tat ich! Ich las den ganzen Satz ohne innezuhalten. Aber wie verblüfft und entsetzt war ich, als ich fertig war. Was ich dort las, war schon geschehen. Wie hatte ein Mensch je so kühn sein können? Was würde mein Onkel denken, wenn er erfuhr - und schlimmer noch, was würde er tun? "Er darf es nicht erfahren! Nie!", rief ich laut. Er war ein entschlossener Geologe. Er würde reisen wollen, egal, wie aussichtsreich die Expedition war. Und er würde mich mitnehmen. Wir würden uns in Gefahr begeben und darin umkommen. "Nein, nein, nein!", rief ich wieder und sah nur noch einen Ausweg. Ich griff nach dem Papier und auch nach dem Pergament des Saknussemm und wollte beides ins Feuer werfen. Meine Hand zitterte, als ich beides auf die glühenden Kohlen werfen wollte. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und mein Onkel trat ein.

 

 

 

5. Eine Befürchtung wird wahr

Gerade noch hatte ich Zeit, die Dokumente wieder auf den Tisch zu legen. Professor Lidenbrock wirkte abwesen und schien sich nur auf einen einzigen Gedanken zu konzentrieren. Der Spaziergang hatte seine Phantasie angeregt und nun wollte er wieder versuchen, dass Pergament zu entschlüsseln.

Wortlos setzte er sich an den Tisch und begann zu schreiben. Er schrieb Formeln nieder, die an eine Algebraaufgabe erinnerten. Drei Stunden arbeitete er, ohne den Kopf zu heben. Er schrieb, strich aus, verbesserte, begann von Neuem. Ich sah ihm zu und hoffte, dass er den Schlüssel niemals fände. Immerhin lassen sich aus zwanzig Buchstaben zwei Quintillionen vierhundertzweiunddreißig Quadrillionen neunhundertzwei Trillionen acht Milliarden hundertsechsundsiebzig Millionen sechshundertvierzehntausend Kombinationen bilden. Und der Satz des Saknussemm bestand aus hundertzweiunddreißig Buchstaben.

Die Zeit verging und es wurde Abend. Noch immer saß mein Onkel am Tisch und brütete verzweifelt. Ich hätte mit einem Wort seine Qualen beenden können, aber ich tat es nicht. Ich war der Meinung, dass man ihn und mich vor dem Inhalt dieses Satzes schützen müsse. Er würde dorthin reisen wollen. Ich war mir sicher. Das wäre sein Tod und meiner gleich mit dazu. Nein, ich schwieg, kreuzte die Arme und wartete.

Die Nacht verging und ich war in meinem Sessel eingeschlafen. Als ich erwachte sah ich, dass mein Onkel immer noch am Schreibtisch saß. Seine roten Augen und seine blassen Gesichtsfarbe deuteten auf eine durchwachte Nacht hin. Plötzlich klopfte es zaghaft an die Tür und Martha schaute ins Zimmer. "Verzeihung, ich möchte auf den Markt gehen, aber die Tür ist verschlossen." Hatte mein Onkel die Tür verschlossen? Ich war empört. Mussten Martha und ich jetzt wirklich hungern, nur weil er dieses Pergament nicht entschlüsseln konnte? Ich wusste, dass es so war, da wir schon einmal eine wissenschaftliche Diät hatten mitmachen müssen. Damals arbeitete mein Onkel an einer großen mineralogischen Klassifikation und aß achtundvierzig Stunden nichts und wir bekamen auch nichts zu essen.

Martha und ich warfen uns einen betrübten Blick zu, bevor sie ging. Mein Onkel arbeitete unentwegt. Gegen Mittag setzte mir der Hunger immer mehr zu. Schließlich stand mein Onkel auf und griff nach seinem Hute. Würde er gehen und uns im Haus einschließen? "Onkel!", sagte ich, obwohl er mich gar nicht zu hören schien. "Der Schlüssel..." Mein Onkel sah mich durchdringend an. "Der Schlüssel von der Haustür?", fragte er dann. "Nein, der Schlüssel zu dem Dokument.", erwiderte ich und versuchte, seinen bohrenden Augen auszuweichen. Er sagte kein Wort, aber er starrte mich an und nie wurde eine Frage deutlich ausgesprochen. Ich nickte schließlich und reichte ihm das Blatt, auf das ich den lateinischen Satz geschrieben hatte. "Es war ein Zufall.", fügte ich schuldbewusst hinzu.

Der Professor stieß einen Schrei aus und war in Sekunden wie verwandelt. Er stürzte sich auf das Papier und las:

In Sneffels Yoculis craterem kem delibat
Umbra Scartaris Julii intra calendas descende,
audas viator, et terrestre centrum attinges.
Kod feci. Arne Saknussemm.

Dieser Satz ließ sich ungefähr wie folgt übersetzen: Steig hinab in den Krater des Sneffels Yocul, den der Schatten des Scartaris vor dem ersten Juli liebkost, kühner Wanderer, und du wirst zum Mittelpunkt der Erde gelangen. Was ich getan habe, Arne Saknussemm. Im Gesicht meines Onkels spiegelte sich Kühnheit, Freude und Überzeugung. Er sprang auf und wanderte im Zimmer herum, bevor er schließlich erschöpft in einen Sessel sank. "Wie spät ist es?", fragte er. "Drei Uhr.", antwortete ich. "Die Zeit ist schnell vergangen. Ich sterbe vor Hunger. Zu Tisch. Und nach dem Essen wirst du meinen Koffer packen.", strahlte mein Onkel. Und bevor ich etwas sagen konnte, ergänzter er: "Und deinen auch!"

 

 

 

6. Ein letzter Versuch, das Unabwendbare abzuwenden

Nach dem Essen musste ich meinen Onkel wieder in sein Arbeitszimmer folgen. Dort dankte er mir für die Hilfe, die ich ihm bei der Entschlüsselung des Dokuments gegeben hatte. Er versprach, den Ruhm, den eine Expedition zum Mittelpunkt der Erde einbringen würde, mit mir zu teilen.

Ich wollte das alles nicht hören. Ich wollte ihn von diesem wahnsinnigen Vorhaben abbringen und da er gute Laune hatte, schien der richtige Zeitpunkt gekommen, meine Zweifel mit ihm zu besprechen. Ich wusste, dass nur wissenschaftliche Argumente ihn dazu bringen konnten, das Vorhaben aufzugeben. "Onkel, die Echtheit dieses Dokuments ist durch nichts bewiesen. Vielleicht ist es sogar eine Irreführung. Und was bedeuten diese Yoculs, Sneffels und Scartaris?"

Mein Onkel lächelte milde. "Die Echtheit des Dokuments muss nicht angezweifelt werden. Aber wir werden ja sehen, ob es wahr ist oder nicht.", belehrte er mich. "Zu deiner zweiten Frage ist anzumerken, dass Yocul die Bezeichnung für alle vulkanischen Berge auf Island ist. Der Sneffels ist ein großer Berg auf einer Art Halbinsel ein wenig unterhalb des 65. Breitengrades. Er ist fünftausend Fuß hoch. Für mich hat Saknussemm alles wohl bedacht und beschrieben. Dafür spricht auch die genaue Beschreibung des Schatten zu einem bestimmten Datum er wollte sichergehen, dass man auch in den richtigen Krater einsteigt. Wenn wir Ende Juni auf dem Gipfel des Sneffels stehen, werden wir sofort wissen, welchen Weg wir einschlagen müssen."

Mein Onkel wusste auf alles eine Antwort. Es war zum Verzweifeln. "Was ist mit der Temperatur im Erdinneren?", fragte ich. "Alle siebzig Fuß nimmt die Wärme unter Erde etwa ein Grad zu. Bleibt die Steigerung konstant, dann herrschen im Innern der Erde ungefähr 2000 Grad." "Hast du Angst zu schmelzen?", kicherte mein Onkel. Ich fand diese Bemerkung gar nicht lustig. "Axel, keiner weiß, was im Inneren der Erde vorgeht.", fuhr mein Onkel fort. "Es gibt eine Menge Hypothesen und Vermutungen. Aber nichts ist bewiesen. Wir werden es sehen und wie Arne Saknussemm wissen, woran wir uns zu halten haben." Ich hatte keine Argumente mehr und ließ mich sogar von der Begeisterung meines Onkels anstecken. "Gut, wir werden es sehen. Wenn man dort überhaupt etwas sehen kann."

Mein Onkel lächelte mich triumphierend an. "Warum nicht? Vielleicht können wir mit einem elektrischen Phänomen rechnen, das uns Licht spendet. Aber vergiss nicht Axel: Zu niemandem ein Wort. Wir müssen über all dies schweigen. Sonst gibt es gleich eine Horde Geologen, die sich auf Arne Saknussemms Spuren stürzt." Ich versprach völliges Stillschweigen und so endete dieses denkwürdige Gespräch.

 

 

 

7. Reisevorbereitungen

Ich brauchte frische Luft und verließ das Haus in der Königstraße. Die Luft der Straßen Hamburg reichte nicht aus, um meine Erregung abzukühlen. Schließlich ging ich hinunter zum Elbufer. In meinem Kopf wirbelten so viele Gedanken. Hatte ich mich vom Professor überrumpeln lassen? Wo endete die Wahrheit und wo begann der Irrtum? Ich schwankte zwischen tausend widersprüchlichen Hypothesen und schließlich war ich mich sicher, dass die Expedition Wahnsinn war. ‚Es ist Wahnsinn! Es ist völlig absurd!', sagte ich zu mir.

Ich war inzwischen am Ufer der Elbe um die Stadt herumgegangen und hatte die Straße nach Altona erreicht. Plötzlich sah ich Grete auf mich zukommen. "Grete.", rief ich überrascht. "Axel.", antwortete sie erfreut. "Kommst du mir entgegen, um mich abzuholen?" Sie sah mich freundlich an. Dann fragte sie besorgt: "Ist alles in Ordnung?" Da brach es aus mir heraus und ich erzählt ihr in zwei Sekunden und drei Sätzen, was der Onkel mit mir vorhatte. Grete hörte zu und dann sagte sie: "Das wird eine schöne Reise werden, Axel. Sie wird dich auszeichnen diese Reise. Und wäre ich nicht ein schwaches Mädchen, das euch nur belastet, so würde ich am liebsten mit euch gehen!"

Mir blieb der Mund offen stehen. Da versteh' einer die Frauen. Entweder sind sie die ängstlichsten oder die tapfersten Wesen auf Gottes Erdboden. Grete ermutigte mich, an der Expedition teilzunehmen. Ich war fassungslos. Die Aufregungen des Tages waren zuviel für mich gewesen. Grete und ich gingen Hand in Hand, aber schweigend nach Hamburg zurück. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass der 1. Juli noch fern war. Es könnte noch alles Mögliche geschehen, was die Expedition verhindern könnte.

Als wir zu Hause ankamen, traute ich meinen Augen nicht. Ich hatte erwartet, das Haus wie immer vorzufinden. Mein Onkel schon im Bett und Martha mit letzten Arbeiten beschäftigt. Aber so war es nicht. Mein Onkel stand auf der Straße und gestikulierte heftig unter einer Schar von Dienstmännern, die viele Dinge auf die Straße trugen. Martha stand daneben und wusste nicht ein noch aus.

"Axel!", rief mein Onkel ärgerlich. "Dein Koffer ist noch nicht gepackt. Wir reisen übermorgen ab und du gehst spazieren, statt hier zu sein. Meine Papiere sind noch nicht in Ordnung. Und wo sind meine Gamaschen?" "Wir reisen ab?", stammelte ich und floh in mein Zimmer. Ich wollte nichts mehr davon hören. Unten auf der Straße lagen die Gegenstände, die mein Onkel sich am Nachmittag für die Expedition besorgt hatte: Strickleitern, Seile, Spitzhacken, Fackeln, Feldflaschen, Steigeisen und eisenbeschlagene Stöcke. Ich ging ins Bett, konnte aber nicht schlafen und fühlte mich am nächsten Morgen schrecklich. Es war Grete, die mich weckte. "Nun Axel, du siehst viel besser aus als gestern. Ach Axel, ich bin sicher, dass Professor Lidenbrock sein Ziel erreichen wird. Es ist doch schon, sein Leben der Wissenschaft zu weihen. Und Professor Lidenbrock wird Ruhm erringen, der auf seine Begleiter zurückfallen wird. Wenn ihr wieder da seid, bist du ein Mann, wie er."

Gretes Worte gaben mir neuen Mut und wir gingen in das Arbeitszimmer meines Onkels. "Warum fahren wir jetzt schon?", fragte ich ihn. "Wir haben erst den 26. Mai." Mein Onkel sah mich an. "Was weißt du schon. Es ist nicht einfach, nach Island zu reisen. Von Kopenhagen geht nur einmal im Monat ein Schiff nach Reykjavik. Wenn wir erst am 22. Juni fahren, sind wir zu spät. Also müssen wir schleunigst nach Kopenhagen und ein anderes Schiff finden, das uns nach Reykjavik bringt. Pack jetzt deine Sachen zusammen. Wir reisen morgen früh um sechs."

Es gab keine Widerrede. Grete begleitete mich in mein Zimmer und packte mit geschickten Händen meinen Koffer. Als der letzte Riemen zugeschnallt war, gingen wir hinunter ins Erdgeschoss. Dort waren noch physikalische Instrumente, Waffen und elektrische Apparate geliefert worden. Martha war verzweifelt. "Wo wollt ihr denn nur hin?" Ich zeigte mit dem Finger zum Mittelpunkt der Erde. "In den Keller?", rief Martha verwirrt. "Noch viel tiefer.", antwortete ich dumpf. In dieser Nacht schlief ich wieder schlecht und träumte von unzähligen Abgründen. Mit der wachsenden Geschwindigkeit fallender Körper fiel ich immer tiefer.

Um fünf Uhr morgen erwachte ich und ging ins Esszimmer. Mein Onkel und Grete waren schon da. Mein Onkel verschlang Unmengen, aber ich konnte nichts essen. Um halb sechs hörte man lautes Rattern auf der Straße. Der Wagen, der uns zur Bahn nach Altona bringen sollte, rollte vor. Mir wurde schwarz vor Augen, ich konnte nicht mehr gegen mein Schicksal ankämpfen. Grete berührte mit ihren süßen Lippen meine Wange. "Geh, mein lieber Axel. Du verlässt deine Braut und bei deiner Rückkehr wird sie deine Frau." Mein Onkel übergab meiner hübschen Vierländerin die Zügel seines Hauses und verabschiedete sich von Martha und Grete. Ich schloss Grete ein letztes Mal in die Arme. Dann stiegen wir beide in die Kutsche. Martha und Grete winkten uns nach, während die Pferde sich in Richtung Altona in Bewegung setzten.

 

 

 

8. In Kopenhagen

Wir fuhren von Altona nach Kiel. Die Fahrt war wenig ereignisreich. Mein Onkel kontrollierte ein letztes Mal den Inhalt seiner Taschen, prüfte, ob das Empfehlungsschreiben vom dänischen Konsul in Hamburg am rechten Platz saß und ob das Dokument des Saknussemm ordentlich verstaut war. In Kiel hatten wir einen Tag Aufenthalt und fuhren dann mit der Ellenora nach Korsör. Dort stiegen wir wieder in die Eisenbahn und fuhren nach Kopenhagen. Unser Hotel war das "Phönix". Es lag an der Bregade. Wir erfrischten uns ein wenig und suchten anschließend das Museum der Nordischen Altertümer auf.

Mein Onkel hatte ein Empfehlungsschreiben an Herrn Professor Thomson, der uns einen herzlichen Empfang bereitete, auch wenn ein Gelehrter normalerweise einem anderen Gelehrten nicht unbedingt gnädig ist. Herr Thomson stellte sich uns ganz zur Verfügung und wir gingen gemeinsam mit ihm am Kai entlang, um ein auslaufendes Schiff zu finden.

Wir fanden einen kleinen dänischen Schoner, der am 2. Juni nach Reykjavik in See stechen sollte. Sein Name war Walküre. Der Kapitän, Herr Bjarne, war an Bord. Mein Onkel drückte ihm so heftig die Hände, dass sie fast brachen. Das verwirrte Herr Bjarne etwas, denn er fand nichts dabei, nach Island zu fahren, das war schließlich sein Beruf. Mein Onkel aber war hoch erfreut, ein Schiff gefunden zu haben, das uns nach Island bringen konnte. Da mein Onkel seine Begeisterung nicht versteckte, kostete uns die Überfahrt auf der Walküre fast das Doppelte, aber wir nahmen es nicht so genau.

Herr Bjarne steckte eine beträchtliche Anzahl an Speciestaler ein und sagte dann: "Seien Sie am Dienstag um sieben Uhr morgens an Bord." Wir dankten Herrn Bjarne und auch Herrn Thomson für seine Hilfe und kehrten in unser Hotel zurück.

"Was für ein glücklicher Zufall.", freute sich mein Onkel. "Wir haben tatsächlich ein Schiff gefunden. Nun werden wir zu Mittag essen und dann die Stadt besichten." Und so gönnten wir uns nach einem Mahl in einem französischen Restaurant einen Stadtbummel. Ich musste immer an Grete denken, der dieser Spaziergang sicher auch Freude bereitet hätte. Mein Onkel wollte schließlich den Glocketurm auf der Insel Amak besteigen und so fuhren wir mit einem kleinen Dampfboot hinüber. Der Glockenturm, der es meinem Onkel angetan hatte, gehörte zur Vor-Frelsers-Kirche. Er war ziemlich hoch und von der Plattform führte eine Wendeltreppe außen am Turm entlang.

"Steigen wir hinauf.", sagte mein Onkel. Ich erschrak. "Da wird man doch schwindelig." Er sah mich prüfend an. "Eben darum. Man muss sich daran gewöhnen. Also los, verlieren wir keine Zeit." Ich musste gehorchen und so stiegen wir hinauf, nachdem wir uns beim Küster den Schlüssel besorgt hatten. Mein Onkel stieg munter voran. Ich folgte ihm langsam, denn ich wurde immer leicht schwindelig. Solange wir innen im Turm waren, ging alles gut. Nach hundertfünfzig Stufen aber schlug mir frische Luft ins Gesicht und wir hatten die Plattform erreicht. Von hier aus führte die Treppe außen am Turm nach oben. Die Stufen wurden immer schmaler und das Geländer wirkte schwach und wackelig. "Das kann ich nicht!", rief ich entsetzt. "Memme!", erwiderte mein Onkel und trieb mich unerbittlich an. "Weiter."

Ich klammerte mich an das Geländer und gehorchte. Die Windstöße raubten mir fast den Atem und der Turm schien zu schwanken. Meine Beine wollten nicht mehr weiter und so kletterte ich auf den Knien weiter. Schließlich kroch ich auf dem Bauch. Mir wurde himmelangst und ich schloss die Augen. Mein Onkel packte mich am Kragen und so erreichte ich das Ende der Treppe. "Schau hinunter. Du musst lernen, in Abgründe zu schauen.", befahl mein Onkel. Ich öffnete gehorsam die Augen. Ich schaute auf die Häuser hinunter und sah zerzauste Wolken vorbei ziehen. In der Ferne sah ich auf der einen Seite grüne Felder auf der anderen Seite glitzerte das Meer in der Sonne. Alles wirbelte vor meinen Augen und ich glaubte, mit dem Turm und meinem Onkel fortgerissen zu werden, während die Wolken sich nicht bewegten. Mein Onkel zwang mich aufzustehen und alles zu betrachten. Meine erste Antischwindellektion dauerte fast eine Stunde.

Als wir endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten sagte mein Onkel freundlich: "Morgen wiederholen wir die Lektion." Mir wurde flau, aber mein Onkel war gnadenlos. Fünf tage zwang er mich auf den Turm und ohne mein Zutun machte ich schließlich große Fortschritte in der Kunst, aus großer Höhe in die Tiefe zu blicken.

 

 

 

9. Island

Am Tag vor der Abreise überbrachte der nette Herr Thomson uns noch einige Empfehlungsschreiben. Er hatte an den Grafen Trampe, den Gouverneur von Island, an Herrn Pictursson, den Koadjutor des Bischofs und an den Bürgermeister von Reykjavik, Herrn Finsen, geschrieben. Mein Onkel drückte ihm dankbar die Hand und verabschiedete sich herzlich.

Am Tag der Abreise wurde unser Gepäck um sechs Uhr morgens auf die Walküre gebracht. Wir verließen unter gutem Wind den Sund und konnten schon eine Stunde später war von Kopenhagen nichts mehr zu sehen. Der Kapitän hatte uns gesagt, dass die Überfahrt ungefähr zehn Tage dauern würde. Der Schoner brachte Kohlen, Haushaltswaren,, Kleidungsstücke und Getreide nach Reykjavik. Die Besatzung bestand aus fünf Dänen.

Wir fuhren um das Kap Skagen, durch den Skagerrak an der Südspitze Norwegens vorbei und erreichten schließlich die Nordsee. Zwei Tage später fuhren zwischen den Orkney und Shetlandinseln auf die Färöer zu. Die Wellen des Atlantiks schüttelten uns und gegen den Nordwind lavierend erreichten wir die Färöer nur mit Mühe. Am 8. Hatten wir Sicht auf Myggenäs und von da an hielt unser Kapitän Kurs auf Kap Portland an der Südküste Islands.

Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Ich wurde nicht seekrank und konnte die Fahrt genießen. Mein Onkel jedoch war ununterbrochen seekrank, was ihn sehr verärgerte und beschämte. Er verbrachte die meiste Zeit in seiner Kajüte liegend und ich muss gestehen, dass ich ihm dieses Schicksal ein kleines bisschen gönnte.

Am 11. kam Kap Portland in Sicht. Es war kalt und man konnte den Myrdals Yokul erkennen, der Kap Portland beherrschte. Das Kap bestand aus steilen Abhängen, die über einem Strand einsam aufragten. Wir fuhren weiter und entfernten uns bei Kap Reykjamäs vom Ufer, um nicht auf einen Felsen aufzulaufen.

Das Meer wogte wild und zwang meinen Onkel in die Kajüte. Er konnte keinen Blick auf die zerklüftete Küste werfen. Zu allem Überfluss gerieten wir noch in einen Sturm und mussten mit gerefften Segeln fliehen. Schließlich tauchte im Osten die Bake der Spitze Skagen auf, deren Felsen sich unter der Wasseroberfläche gefährlich weit ins Meer erstrecken. Ein isländischer Lotse kam an Bord und drei Stunden später ging die Walküre in der Bucht Faxa vor Reykjavik vor Anker.

Der Professor war blass und mitgenommen, aber seine Abenteuerlust war ungebrochen. Er kam aus seiner Kajüte und die Augen funkelten. Er zog mich zum Bug des Schiffes, zeigte mit dem Finger auf einen hohen Berg mit zwei Spitzen und rief: "Der Sneffels!"

Ein Ruderboot setzte uns über und wir betraten isländischen Boden. Ein stattlicher Mann trat auf uns zu. Es war Baron Trampe, der Gouverneur der Insel. Mein Onkel übergab ihm unsere Empfehlungsschreiben und Baron Trampe stellte sich uns zur Verfügung. Ebenso freundlich wurden wir vom Bürgermeister empfangen. Der Koadjutor Pictursson besuchte gerade das nördliche Island, deshalb konnten wir uns ihm nicht vorstellen.

Wir kamen bei Herrn Fridrickson unter, ein freundlicher Mann, der an der Schule in Reykjavik Naturwissenschaften unterrichtete. Herr Fridrickson sprach nur Isländisch und Lateinisch. Da ich kein Dänisch sprach, war er der einzige, mit dem ich mich während unseres Aufenthaltes in Island unterhalten konnte. Er stellte uns zwei Zimmer zur Verfügung und kaum hatten wir uns eingerichtet, sagte der Professor: "Nun Axel. Jetzt müssen wir nur noch hinunter steigen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich gehe jetzt in die Bibliothek und sehe nach, ob es eine Handschrift von Saknussemm gibt. Begleitest du mich?" Ich schüttelte den Kopf. "Nein, danke. Ich möchte mir lieber die Stadt ansehen." Mein Onkel nickte und so trennten sich unsere Wege.

Ich verließ unsere Zimmer und spazierte drauflos. In den beiden Straßen Reykjaviks kann man sich kaum verlaufen und nach drei Stunden hatte ich nicht nur die Stadt, sondern auch ihre Umgebung besichtigt. Es kam kaum Bäume oder andere Vegetation. Überall nur vulkanisches Gestein. Und die Isländer wohnten in Hütten aus Torf und Lehm, deren Wände sich nach innen neigen. Die Dächer waren mit Gras bedeckt und ergaben so fruchtbare Wiesen. Menschen sah ich nur wenige auf meinem Rundgang und als ich in das Haus von Herrn Fridrickson zurückkam, war mein Onkel schon dort.

 

 

 

10. Pläne

Wir saßen mit unserem Gastgeber zu Tisch und mein Onkel verschlang alle Speisen gierig. Das aufgezwungene Fasten an Bord hatte aus seinem Magen einen tiefen Schlund gemacht und mein Onkel aß mit großem Appetit.

Das Gespräch wurde zum Teil auf Isländisch, zum Teil auf Deutsch oder Dänisch und teilweise auch in Latein geführt. So war es mir möglich, wenigstens zeitweise der Unterhaltung zu folgen.

Mein Onkel erkundigte sich angelegentlich nach der Bibliothek der Isländer und fragte Herrn Fridrickson, wo denn all die Bücher wären, die er ihm empfohlen hatte. "Die sind natürlich ausgeliehen.", erklärte Herr Fridrickson. "Wir Isländer lesen gern und viel. Kaum ein Fischer oder Bauer, der nicht lesen kann. Und Fremde, die unsere Bibliothek besuchen, können sich auch zu Hause in ihren eigenen Bibliotheken die Bücher ausleihen. Welche Bücher hofften Sie denn zu finden?" Mein Onkel überlegte, wie viel er von unserem Geheimnis preisgeben könne und sagte schließlich: "Haben Sie auch Werke von Arne Saknussemm in Ihrer Bibliothek?" Herr Fridrickson sah meinen Onkel ehrfürchtig an. "Sie meinen den großen Gelehrten des 16. Jahrhunderts? Den großen Reisenden, großen Alchemisten und großen Naturforscher? Die Zierde der isländischen Literatur und Wissenschaft?" Mein Onkel nickte begeistert. Da schüttelte Herr Fridrickson bedauernd den Kopf. "Nein. Seine Werke haben wir nicht. Er wurde - wie Sie sicher wissen - wegen Häresie verfolgt und 1573 hat der Henker seine Werke in Kopenhagen verbrannt."

Mein Onkel sprang auf. "Das erklärt natürlich alles. Ich verstehe jetzt, warum er auf den Index gesetzt wurde und gezwungen war, die Entdeckungen seines Genies zu verstecken. Darum hat er das Geheimnis in einem unverständlichen Kryptogramm versteckt." "Geheimnis?", fragte Herr Fridrickson interessiert. Mein Onkel sah in erschrocken an und setzte sich wieder. "Ach, es ist nichts. Nur so eine Vermutung." Herr Fridrickson sah die Verlegenheit meines Onkels und war so freundlich, nicht weiter in ihn zu dringen.

"Ich hoffe, Sie werden aus den mineralogischen Schätzen dieser Insel schöpfen.", knüpfte er den Gesprächsfaden weiter. "Es gibt immer noch viel zu erforschen und zu entdecken. Sie brauchen gar nicht weit zu gehen. Schauen Sie nur auf jenen Berg am Horizont. Es ist der Sneffels. Sein Krater wird nur selten besucht." Mein Onkel tat harmlos und fragte: "Ist der Krater des ... Seffel.. Fessel... wie war noch gleich der Name? Ist er erloschen?" "Sneffels!", half Herr Fridrickson. "Ja, der Vulkan ist seit fünfhundert Jahren erloschen."

Ich konnte mir das Grinsen kaum verkneifen, als ich sah, wie mein Onkel versuchte, eine Unschuldsmiene aufzusetzen. "Nun, Ihre Worte bringen mich zu einem Entschluss. Wir werden versuchen den Sneffels zu besteigen." Herr Fridrickson nickte. "Ich würde Sie gern begleiten, aber meine Lehrtätigkeit hält mich hier fest. Sagen Sie, Herr Lidenbrock, wie wollen Sie auf die Halbinsel gelangen?" "Mit einem Boot.", antwortete meine Onkel. Herr Fridrickson schüttelte den Kopf. "Es gibt in ganz Reykjavik kein Boot. Sie müssen den Landweg nehmen. Er ist interessant, auch wenn er länger ist. Ich kann Ihnen einen Führer vermitteln, wenn Sie wollen. Er spricht perfekt Dänisch und wird morgen hier ankommen." "Erst morgen.", brummte mein Onkel, als er einwilligte sich mit dem Führer zu treffen.

 

 

 

11. Hans

Am nächsten Morgen erwachte ich davon, dass ich meinen Onkel im Nebenzimmer sprechen hörte. Rasch stand ich auf und ging zu ihm. Ich fand ihn im Gespräch mit einem kräftigen und hoch gewachsenen Mann, der ungewöhnlich stark wirkte. Er hatte große blaue Augen und ein freundliches Gesicht. Seine langen Haare waren rot. Mein Onkel sprach Dänisch und während er heftig gestikulierte, stand der Isländer mit unbewegter Miene und sprach wenig. Seine Arme hatte er vor der Brust gekreuzt. Für ein ‚Nein' drehte er einmal den Kopf von einer auf die andere Seite, für ein ‚Ja' nickte er so knapp, dass sein Haar sich kaum bewegte. Man sah, dass dieser Mannstark und unabhängig war und ein ruhiges Temperament hatte.

Ich wusste, dass dieser Mann ein Eiderjäger war. Wenn ich nicht gewusst hätte, wie Eiderjäger arbeiten, so hätte ich nie geglaubt, dass dieser Mann ein Jäger sein könnte. Der Eiderjäger sammelt nämlich die Daunen der Eiderente. Diese Daunen machen im Grunde den größten Reichtum der Insel aus. Dabei müssen die Eiderjäger nichts anderes tun, als die Daunen, die sich das Weibchen der Eiderente in den ersten Sommertagen zum Auspolstern des Nestes ausrupft, aus dem Nest zu nehmen. Sind die Daunen aus dem Nest fort, beginnt das Weibchen aufs Neue, sich Federn auszurupfen und das Nest auszupolstern. Der Jäger nimmt die Daunen wieder fort und das geht so weiter, bis das Weibchen keine Daunen mehr hat. Dann polstert das Männchen auf die gleiche Weise das Nest aus. Die Federn des Männchens aber sind grob und hart. Der Jäger lässt sie im Nest. Nun legt das Weibchen seine Eier und brütet sie aus. Im nächsten Jahr beginnt die Eiderdaunenernte von Neuem.

Ich erfuhr, dass der große, schweigsame Mann Hans Bjelke hieß und unser Führer werden sollte. Er kam auf Empfehlung von Herr Fridrickson. Mein Onkel und er schienen in jedem Punkt absolut gegensätzlich zu sein. Trotzdem willigte Hans ein, unser Führer zu werden. Nie wurde ein Handel wohl leichter abgeschlossen, denn Hans war bereit zu nehmen, was man ihm bot und mein Onkel war bereit zu geben, was Hans verlangte.

Hans sollte uns zum Dorf Stapi an der Südküste der Halbinsel des Sneffels bringen. Die Strecke betrug ungefähr zweiundzwanzig Meilen. Mein Onkel war der Meinung, dass wir diese Strecke in zwei Tagen bewältigen konnten. Dann aber erfuhr er, dass es sich um dänische Meilen handelte. Eine dänische Meile ist gleich vierundzwanzigtausend Fuß und so musste mein Onkel in Anbetracht der schlechten Wege zugeben, dass wir uns auf sieben bis acht Tage gefasst machen mussten. Wir würden Pferde würden wir brauchen. Eins für meinen Onkel, eins für mich und zwei für das Gepäck. Hans würde zu Fuß gehen, wie er es immer tat. Er kannte die Küste sehr genau und versprach, den kürzesten Weg einzuschlagen.

Hans sollte drei Reichstaler in der Woche erhalten. Diese sollten im jedem Samstag ausgezahlt werden. Wir wollten am 16. Juni aufbrechen, und mein Onkel wollte Hans ein Handgeld geben. Dieser lehnte mit dem Wort: "Efter." ab.

"Nachher.", belehrte mein Onkel mich. "'Efter' heißt ‚nachher'. Was für ein famoser Mensch, dieser Hans. Und er ahnt nicht, welch wunderbare Rolle das Schicksal für ihn bereithält." "Er begleitet uns also bis zum Mittelpunkt der Erde?", fragte ich. "Ja, Axel.", antwortete mein Onkel.

Uns blieben noch achtundvierzig Stunden bis zum Aufbruch. Mit größter Sorgfalt trafen wir unsere Vorbereitungen. Es galt, Instrumente, Proviant, Werkzeuge, Waffen auf die vorteilhafteste Art zu verpacken. Unsere Instrumente waren ein Eigelsches Thermometer mit einer Skala von hundertfünfzig Grad und ein Manometer zum Messen des Luftdrucks. Mit diesem Gerät ließ sich der Luftdruck messen, der den der Atmosphäre auf Meeresspiegelhöhe übersteigt. Mit einem einfachen Barometer wäre dies nicht möglich gewesen, da der atmosphärische Druck entsprechend unserem Abstieg unter die Erdoberfläche zunehmen musste. Des Weiteren hatte wir ein Chronometer dabei, das genau auf den Meridian von Hamburg eingestellt war, zwei Kompasse, ein Inklinations- und ein Deklinationskompass, ein Nachtfernglas und zwei Ruhmkorffsche Apparate, um Licht zu haben.

Unsere Waffen waren zwei Karabiner von Pudley More & Co. und zwei Colt-Revolver. Wir hatten einen großen Vorrat feuchtigkeitsunempfindlicher Schießbaumwolle, der Expansivkraft viel stärker ist als die des Schießpulvers. Unsere Werkzeuge waren zwei Spitzhacken, zwei Hacken, drei mit Eisen beschlagene Stöcke, ein Hammer, ein Beil, eiserne Keile und Haken, lange Seile und eine dreihundert Fuß lange Strickleiter aus Seide. Unser Proviant bestand vorwiegend aus konzentriertem Fleisch und Trockenbiskuits. Der Vorrat war so bemessen, dass wir sechs Monate davon würden leben können. An Flüssigkeit nahmen wir nur Genever mit. Mein Onkel rechnete damit, dass wir Quellen finden würden und so hatten wir nur leere Feldflaschen dabei, um sie unterwegs zu füllen.

Was nicht fehlen durfte war die Reiseapotheke. Sie enthielt Heftpflaster, Binden, Kompressen, Schienen für Knochenbrüche, ein Aderlassbecken, einige Fläschchen mit Dextrin, essigsaure Tonerde, Äther, Essig und Salmiak. Darüber hinaus hatten wir Tabak, Schießpulver und Zunder bei uns und mein Onkel trug einen ledernen Gürtel um die Hüfte, der Gold-, Silber- und Papiergeld enthielt. Ebenfalls zur Ausrüstung gehörten gute, mit Teer und elastischem Gummi wasserdicht gemachte Stiefel.

Am 15. Juni waren die Vorbereitungen fast abgeschlossen. Herr Fridrickson schenkte dem Professor noch eine Karte von Island. Sie war von Olaf Nikolas Olsen im Maßstab 1 : 480 000 und sehr viel genauer als die Handersonsche Karte. Sie war ein wirklich kostbares Dokument für einen Mineralogen.

Am 16. Juni weckte mich das Wiehern der vier Pferde, die vor meinem Fenster unruhig stampften. Rasch zog ich mich an und ging hinunter. Hans lud in seiner sparsamen Art unser Gepäck auf. er war sehr geschickt und umsichtig. Mein Onkel kommandierte, aber Hans kümmerte sich nicht darum. Schließlich war alles fertig. Herr Fridrickson verabschiedete uns herzlich. Wir saßen auf und Herr Fridrickson rief uns noch einen Vers Vergils zu, der für uns Wanderer gemacht zu sein schien:

Et quacumque viam dederit fortuna sequamur!
Gehen wir denn getrost, wohin Fortuna uns führt.

 

 

 

12. Aufbruch

Das Wetter war beständig, auf wenn der Himmel bedeckt war. Es war ideales Reisewetter und das Reiten durch ein unbekanntes Land gefiel mir sehr. Langsam begann mir die Sache Spaß zu machen. In einem fremden Land umherzustreifen und schlimmstenfalls in einen erloschen Krater hinunter zu steigen bedeutete kein großes Risiko. Ich sollte diese Reise genießen. Denn ein Vorhandensein eines Ganges zum Mittelpunkt der Erde erschien mir völlig unwahrscheinlich und wie pure Phantasie.

Mit schnellem, gleichmäßigem Schritt ging Hans an der Spitze und die beiden Lastpferde folgten ihm, ohne dass er sie führen musste. Mein Onkel und ich ritten auf unseren kleinen aber kräftigen Pferden hinterher.

Island ist eine der größten Inseln Europas. Es ist 103.000 Quadratkilometer groß und hat nur sechzigtausend Einwohner. Es ist in vier Viertel geteilt und wir durchquerten das Südwestviertel ‚Sudvestr Fjordung'. Hans folgte dem Meeresufer. Die Weiden waren karg und die rauen Gipfel der Berge verschwammen im Nebel. Kahle Felsketten senkten sich oft bis zum Meer hinunter. Unsere Pferde wählten instinktiv den besten Weg.

"Es gibt kein intelligenteres Tier als das isländische Pferd, Axel.", sagte mein Onkel. "Es kommt mit dem schlechten Wetter in Island bestens zurecht und stürzt sich ohne zu zögernd in einen Fjord, wenn er überquert werden muss. Man muss es nur gewähren lassen, dann schafft es zehn Meilen an einem Tag." Ich nickte. Dann fragte ich: "Aber was ist mit unserem Führer? Er geht immerhin zu Fuß." Mein Onkel warf Hans einen Blick zu. "Um den mache ich mir wenig Sorgen. Er scheint kaum zu merken, dass er geht. Und im Notfall kann er auf meinem Pferd reiten und ich vertrete mir die Beine."

Wir kamen schnell vorwärts. Zwei Stunden, nachdem wir in Reykjavik aufgebrochen waren, erreichten wir das Dorf Gufunes. Wir rasteten und aßen. "Wo werden wir übernachten?", fragte der Professor Hans. Hans antwortete mit einem Wort: "Gardär." Wir schauten auf die Karte. Das Dorf Gadär lag ungefähr vier Meilen von Reykjavik entfernt. Nur vier Meilen! Mein Onkel sagte etwas zu Hans, der blieb stumm und setzte unsere kleine Kolonne sofort wieder in Marsch.

Wir marschierten weiter. Einmal fütterten und tränkten wir die Pferde, dann ritten wir auf einem schmalen Pfad weiter, der sich zwischen einer Hügelkette und dem Meer schlängelte. Um vier Uhr Mittags hatten wir vier Meilen zurückgelegt. Der Fjord war an dieser Stelle mindestens achteinhalb Meilen breit. Gegen die spitzen Felsen brandeten die Wellen. Auch wenn unsere Pferde klug und geschickt waren, konnten wir doch einen solchen Meeresarm nicht auf dem Rücken eines Vierfüßlers überqueren. ‚Sie werden nicht versuchen, ihn zu durchschwimmen.', dachte ich bei mir. Doch mein ungeduldiger Onkel wollte! Er konnte nicht warten. Er ritt auf das Ufer zu, sein Pferd witterte das Wasser und blieb stehen. Mein Onkel trieb das Pferd an, aber es schüttelte den Kopf und weigerte sich, weiterzugehen. Da fluchte mein Onkel und peitschte das Pferd. Das Pferd begann auszuschlagen und wollte seinen Reiter abwerfen. Schließlich wich es unter den Beinen meines Onkels zurück, in dem es in die Knie ging und der Professor landete auf zwei Steinen am Ufer. Dort stand er wie der Koloss von Rhodos.

Hans kam heran. "Färja.", sagte er. "Es gibt eine Fähre? Wo?", tobte mein Onkel. "Dort.", sagte Hans und zeigte auf ein Schiff. "Warum sagst du das nicht gleich? Also los. Schnell!", fauchte der Professor. Hans rührte sich nicht. "Tidvatten." Mein Onkel übersetzte das dänische Wort. "Ebbe und Flut. Wir müssen einen guten Zeitpunkt abwarten." Er stampfte mit dem Fuß auf. Wir nahmen unsere Pferde und gingen zur Fähre. Wir mussten warten. Der günstige Zeitpunkt kam um sechs Uhr Abend. Wir stiegen auf das wacklige Boot, zu dem ich wenig Zutrauen hatte. Die Überfahrt dauerte eine Stunde und wir erreichten das andere Ufer ohne Zwischenfall. Eine halbe Stunde später erreichten wir Galdär.

 

 

 

13. Auf zum Sneffels

Eigentlich hätte es dunkel sein müssen, aber in Island geht die Sonne im Juni und im Juli nicht unter. Dafür war es kühl geworden, mich fror und ich war hungrig. Wie froh war ich, als wir das Bauernhaus erreichten, das uns in dieser Nacht Schutz bieten sollte. Wir wurden überaus herzlich empfangen und ins Haus geführt. Es bestand aus Küche, Weberwerkstatt, Schlafzimmer und Gästezimmer. Die Decke war niedrig und mein Onkel stieß sich drei oder viermal schmerzhaft den Kopf an den Deckenbalken.

Unser Zimmer sah aus wie ein Stall. Der Boden war aus gestampftem Lehm, die Fensterscheibe bestand aus Hammelhäuten und ließ nur wenig Licht ein. Zwei rot gestrichene und mit isländischen Sprüchen verzierte Holzrahmen waren unsere Bettstatt. Das Bettzeug war trockenes Stroh. Im ganzen Haus roch es stark nach getrocknetem Fisch, eingelegtem Fleisch und saurer Milch.

Wir legten unsere Ausrüstung ab und gingen in die Küche. Dort begrüßte unser Gastgeber uns erneut, schüttelte herzlich unsere Hände und küsste uns auf die Wangen. Seine Frau tat es ihm nach. Die Küche war der einzige Raum im Haus, der geheizte wurde. Sie diente gleichzeitig als Esszimmer. In der Mitte des Raumes lag ein Stein, der als Feuerstelle diente. Der Rauch entwich durch ein Loch in der Decke. Die Bäuerin war Mutter von neunzehn Kindern, die in der Küche herumwimmelten. Viele kleine blonde Köpfe und melancholische Gesichter sahen uns aus erstaunten Augen an. Wir wurden auch von ihnen freundlichen empfangen und hatten bald jeder drei oder vier Knirpse auf dem Schoß, auf den Schultern oder zwischen den Beinen.

Dann erschien Hans, der die Pferde versorgt hatte. Die armen Tiere hatten nur spärliches Moos und ein wenig Seetang erhalten und würden morgen trotzdem wieder an die Arbeit gehen. Hans sagte: "Saellvertu." Das gleiche hatten die isländischen Bauern zu uns gesagt. Es bedeutet ‚Seid glücklich'. Danach küsste er wie selbstverständlich die Gastgeber und alle neunzehn Kinder.

Nach der Begrüßung setzte man sich zu Tisch. Wir waren vierundzwanzig Personen und saßen im wahrsten Sinne des Wortes übereinander. Jeder hatte mindestens zwei Kinder auf dem Schoß. Die Suppe wurde aufgetragen. Sie bestand aus isländischem Moos und schmeckte recht gut. Danach wurde Fische gereicht, die in Butter schwammen. Leider war diese ranzig und deshalb nach isländischem Geschmack frischer Butter vorzuziehen. Dazu wurde "Skyr" gereicht, hergestellt aus dicker Milch, Zwieback und Wacholdersaft. Das Getränk hieß "Blanda" - Molke, die mit Milch vermischt wurde.

Ich kann nicht beurteilen, ob das Essen gut oder schlecht war. Ich war so hungrig, dass ich auch noch eine dicke Buchweizengrütze zum Nachtisch verschlang. Nach dem Essen verschwanden die Kinder und die Erwachsenen rückten näher an die Feuerstelle heran, in der Torf, Heidekraut und Kuhmist brannten. Als wir uns aufgewärmt hatten, wollten wir schlafen gehen. Die Bäuerin bot an, uns nach alter Sitte die Strümpfe und Hosen auszuziehen, aber wir lehnten dankend ab und gingen in unser Zimmer. Ich war froh, mich in mein Bett legen zu können und schlief traumlos.

Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns um fünf Uhr von unseren Gastgebern. Nur mit Mühe brachte mein Onkel die braven Bauersleute dazu, eine angemessene Bezahlung anzunehmen. Schließlich gab Hans das Zeichen zum Aufbruch und wir wanderten weiter.

Die Landschaft veränderte sich, wurde öder, kahler und sumpfiger. Das Reiten wurde schwerer. Immer wieder mussten wir durch Bäche waten und darauf achten, dass das Gepäck nicht zu nass wurde. Ab und an sahen wir menschliche Gestalten, die aber vor uns zu fliehen schienen. Als wir eine dieser Gestalten trafen, sahen wir einen aufgedunsenen Kopf mit glänzender Haut und scheußliche Wunden am Körper. Die unglückliche Gestalt lief so schnell davon, dass Hans nicht einmal "Saellevertu" rufen konnte. Stattdessen sagte er: "Spetelsk!" Mein Onkel übersetzte für mich: "Ein Aussätziger." Allein dieses Wort klang schon abstoßend. Dieser arme Mensch litt an der Lepra. Eine schreckliche Krankheit, die in Island weit verbreitet ist.

Wir ritten den ganzen Tag, überquerten einige Fjorde oder sogar eine Bucht. Wir durchwateten die Flüsse Alfa und Heta und verbrachten die Nacht in einer verlassenen Hütte, in der wir heftig froren. Der nächste Tag verlief eintönig und am Abend hatten wir die Hälfte des Weges zurückgelegt. Wir übernachteten in der "Annexia" von Krösolbt.

Am 19. Juni kamen wir eine Meile weit über Lavagestein. Man nennt diese Art von Borden dort "Hraun". Ein riesiger Strom Lava war einst von den jetzt erloschenen Vulkanen herabgeflossen und hatte an der Oberfläche die Form von aufgewickelten und zusammengerollten Tauen hinterlassen. Wir hatten nur wenig Zeit zu schauen und zu staunen. Die Zeit drängte und bald hatten unsere Pferde wieder sumpfigen Boden unter den Hufen. Wir ritten jetzt in westlicher Richtung, hatten die große Bucht Faxa tatsächlich umgangen und konnten den doppelten weißen Gipfel des Sneffels nun in weniger als fünf Meilen Entfernung aufragen sehen.

Die Pferde schritten voran und mein Onkel war aufgeregt. Ich für meinen Teil war ziemlich müde und bewunderte Hans, der den ganzen Weg zu Fuß gemacht hatte, während wir auf unseren Pferden gesessen hatten.

Am 20. Juni erreichten wir um sechs Uhr abends Büdir, ein kleines Dorf an der Küste. Hans verlangte seinen vereinbarten Lohn und seine Onkel und Vettern boten uns ihre Gastfreundschaft an. Ich hätte mich gern ein paar Tage ausgeruht, aber mein Onkel drängte zum Aufbruch. So blieben wir nur eine Nacht und brachen am nächsten Morgen wieder auf. Der Professor ließ den riesigen Vulkan nicht mehr aus den Augen. "Diesen Riesen werde ich also bezwingen!", rief er. Vier Stunden später machten die Pferde von selbst vor der Tür des Pfarrhauses Stapi halt.

 

 

 

14. Stapi

Das Dörfchen Stapi bestand aus etwa dreißig Hütten. Das ganze Dorf war auf Lava gebaut und lag an einem kleinen Fjord, der von einer Basaltmauer eingeschlossen war. Basalt ist ein braunschwarzes Gestein vulkanischen Ursprungs. Das Besondere an Basalt ist, dass die Natur hier regelmäßige Formen annimmt und geometrisch vorzugehen scheint.

Die Ufermauer bestand wie die ganze Küste der Halbinsel aus einer Reihe dreißig Fuß hoher Säulen. Diese trugen eine aus horizontalen Säulen bestehende Archievolte, die zur Hälfte ins Meer hineinragte. In Stapi endete unsere letzte Etappe der Reise zu Land. Hans hatte uns sicher bis hierher geführt und der Gedanke, dass er uns weiterhin begleiten sollte, beruhigte mich ein wenig.

Das Pfarrhaus in Stapi war eine schlichte niedrige Hütte. Vor der Hütte stand ein Mann mit einer Lederschürze und einem Hammer in der Hand. Er schickte sich gerade an, ein Pferd zu beschlagen. Es war tatsächlich der Pfarrer, der nach unserem Gruß einen Schrei ausstieß, der eine Frau aus der Hütte treten ließ. Sie war fast sechs Fuß groß und einen Moment hatte ich Sorge, dass sie uns mit dem isländischen Kuss begrüßen würde. Sie tat es nicht, sondern führte uns in das Gastzimmer, das wohl das schlechteste und schmutzigste Zimmer im ganzen Haus. Offensichtlich hielt der Pfarrer nicht viel von Gastfreundschaft. Wir bemerkten schnell, dass dieser Pfarrer kein würdiger Gelehrter sondern ein grober Bauer war, der seinen Lebensunterhalt mit Jagen, Fischen und anderen Dingen verdienen musste, da die dänische Regierung für ihre Gottesdiener so wenig zahlte. So kam es, dass mein Onkel auch hier zur raschen Weiterreise drängte.

Hans heuerte ein paar Isländer an, die unsere Pferde ersetzen sollten. Sie sollten uns bis in den Krater hinein begleiten und uns dann unserem Schicksal überlassen. Nun musste Professor Lidenbrock Hans das wahre Ziel der Expedition nennen. Hans nickte nur. Ihm war es egal, wohin die Reise ging. Mir aber war es nicht egal. Ich hatte durch die Erlebnisse auf der Reise hierher völlig verdrängt, was uns noch bevorstand. Nun wurde mir heiß und kalt und ich fragte mich, warum ich nicht mehr Widerstand geleistet hatte.

Besonders besorgte mich die Vorstellung, der erloschene Vulkan könne zu neuem leben erwachen und uns in einem Ausbruch zusammen mit glühender Lava herausschleudern. Ich konnte nicht mehr schlafen, ohne von Eruptionen zu träumen. Ich beschloss, meinem Onkel den fall in Form von einer Hypothese zu unterbreiten. Als ich meine Sorge ausgesprochen hatte, sah mein Onkel mich an. "Ich habe auch darüber nachgedacht, Axel. Glaube mir. Aber es gibt stets typische Zeichen, die einem Ausbruch vorausgehen. Darum habe ich die Isländer gefragt und selbst den Boden untersucht. Es wird keinen Ausbruch geben. Komm, ich zeige dir etwas."

Gemeinsam verließen wir das Pfarrhaus und mein Onkel zeigte mir aufsteigenden Rauch aus einem ‚Reykir'. Die weißen Dämpfe, in Island ‚Reykir' genannt, kamen aus Thermalquellen. Ihre Heftigkeit war ein Hinweis auf vulkanische Aktivität im Boden. "Sieh hin.", forderte mich mein Onkel auf. "Wenn ein Ausbruch bevorsteht, werden diese Dämpfe stärker. Dann verschwinden sie ganz, weil sie dann durch den Krater entweichen und nicht mehr durch die Spalten in der Erdoberfläche. Bleiben also die Dämpfe in ihrem gewöhnlichen Zustand und bleibt auch sonst alles normal, dann steht kein Ausbruch bevor."

Damit ließ mein Onkel mich stehen und ich war mit wissenschaftlichen Argumenten geschlagen. Es gab nur noch eine Hoffnung für mich. Vielleicht fänden wir keinen Gang zum Mittelpunkt der Erde, wenn wir erst einmal auf dem Boden des Kraters angekommen waren.

Am 23. Juni ging die Expedition weiter. Hans und die neuen Gehilfen hatten unser Gepäck bereitgestellt. Außerdem hatte Hans unserem Gepäck einen Wasserschlauch hinzugefügt, der uns acht Tage lang mit Wasser versorgen sollte. Bevor wir abreisten, präsentierte der unverschämte Pfarrer uns noch eine immense Rechnung. Die Höhe des Betrages war in keiner Weise gerechtfertigt, aber mein Onkel zahlte, ohne mit der Wimper zu zucken. Warum sollte er um ein paar Reichstaler feilschen? Er war schließlich auf dem Weg zum Mittelpunkt der Erde! Hans gab das Zeichen zum Aufbruch und gegen neun Uhr morgens kehrten wir Stapi den Rücken.

 

 

 

15. Der Aufstieg

Der Sneffels ist fünftausend Fuß hoch. Wir mussten einer nach dem anderen gehen, denn die Wege, die Hans wählte waren zu schmal, um nebeneinander zu gehen. Zunächst gingen wir über faserigen Torfboden. Als echter Neffe eines Mineralogen betrachtete ich die mineralogischen Sehenswürdigkeiten und ging dabei die geologische Geschichte Islands in Gedanken durch.

Island ist in einem relativ neuen Zeitalter aus dem Meer aufgetaucht. Vielleicht steigt die Insel ja auch noch weiter und in diesem Fall kann man ihren Ursprung wohl nur der Tätigkeit eines unterirdischen Feuers zuschreiben. In diesem Fall aber wäre die Hymphry Davys-Theorie hinfällig, ebenso wie das Saknussemm-Dokument und die Behauptungen meines Onkels. Ich begann, auf die Beschaffenheit des Bodens zu achten und mir wurde die Aufeinanderfolge der Phänomene klar, die seine Bildung bestimmten.

Island besteht ausschließlich aus vulkanischem Tuff. Bevor es Vulkane gab, war es ein Trappmassiv, durch den Druck zentraler Kräfte langsam aus den Fluten emporgehoben. Die Feuer im Inneren waren noch nicht nach außen gedrungen. Später entstand dann eine Spalte, durch die aus dem Inneren der Erde herausgeschleuderte Stoffe sich in großen Flächen ausbreiteten. Es entstanden Syente, Porphyre und Feldspate. Nachdem aber das flüssige Gestein aus dem Inneren der Erde erkaltet war, gab es keinen Ausgang mehr und irgendwann wurde die Gewalt der Gase im Innern so stark, dass sich die dicke Kruste hob und Kamine sich bildeten. So entstanden die Vulkane. Es war auf jeden Fall völlig töricht anzunehmen, man könne bis zum Mittelpunkt der Erde vordringen.

So beruhigte ich mich, während der Weg immer schwieriger und abschüssiger wurde und man aufpassen musste, nicht ins Rutschen zu kommen. Hans ging ruhig und gleichmäßig voran, hob nur manchmal einige Steine auf, um den Rückweg zu markieren. Eine vorausschauende aber sich später als völlig überflüssig erweisende Maßnahme.

Nach drei Stunden Marsch waren wir am Fuß des Berges angekommen. Wir rasteten und aßen. Mein Onkel aß große Portionen, um schneller ans Ziel zu kommen. Aber die Essenspause war auch eine Ruhepause. So musste der Professor sich gedulden, bis Hans das Zeichen zum Aufbruch gab. Die anderen Isländer waren schweigsam wie Hans, sagten kein Wort und aßen wenig.

Wir begannen mit dem Aufstieg. Zunächst erschwerten die lockeren Steine das Fortkommen, dann wieder betrug die Steigung mindestens sechsunddreißig Grad, so dass wir nur im mühsamen Zickzack-Kurs vorankamen. Mein Onkel kletterte besser als ich und blieb immer in meiner Nähe. Die Isländer kletterten schnell und sicher, obwohl sie das Gepäck trugen. Ich war froh um meinen Stock, au den ich mich immer wieder stützte.

Schließlich erreichten wir mitten in der dichten Schneedecke unerwartet eine Art Treppe, die uns den Aufstieg erleichterte. Wir kamen schnell voran und abends um sieben hatten wir zweitausend Stufen hinter uns gebracht. Wir standen auf dem ursprünglichen Gipfel und über uns ragte der Kraterkegel auf. da wir dreitausend Fuß hoch waren, hatten wir die Schneegrenze überschritten und es war sehr kalt. Ich war völlig erschöpft. Der Professor sah das und bezwang seine Ungeduld. Er machte Hans ein Zeichen, damit er anhalte. Hans schüttelte aber den Kopf und sagte: "Ofvanför. Mistour."

"Was bedeutet dieses Wort?", fragte ich. Meine Onkel antwortete: "Sieh doch!" Ich folgte mit dem Blick seinem Finger und blickte in die Tiefe. Eine Windhose! Eine Säule aus Bimsstein, Sand und Staub. Wenn sie sich senkte, würde sie uns unweigerlich in den Wirbel hineinziehen. Da rief Hans auch: "Hastig! Hastig!" und ich brauchte kein Dänisch zu können, um zu verstehen, dass wir uns beeilen sollten. Hans begann, um den Kegel des Kraters herumzugehen. Nur wenig später prallte die Windhose gegen den Berg. Da wir glücklicherweise auf dem entgegengesetzten Hang waren, blieben wir unverletzt. Die Umsicht unseres Führers hatte uns sozusagen das Leben gerettet.

Hans wollte die Nacht nicht auf dem Hang verbringen. Also setzten wir unseren Aufstieg im Zickzack-Kurs fort. Wir stiegen noch fünfzehnhundert Fuß höher und brauchten dafür noch einmal fünf Stunden. Ich war am Ende meiner Kräfte. Hunger und Kälte ließen mich kapitulieren und meine Lunge quälte sich mit der dünnen Luft.

Um elf Uhr abends erreichten wir endlich den Gipfel des Sneffels. Bevor wir in den Krater hinein stiegen, sah ich die blassen Strahlen der Mitternachtssonne die zu unseren Füßen schlummernde Insel beleuchten.

 

 

 

16. Im Krater

Nach dem Essen richteten wir uns für die Nacht ein. Wir befanden uns fünftausend Fuß über dem Meeresspiegel, das Lager war hart und wenig komfortabel. Trotzdem schlief ich in dieser Nacht besonders ruhig und träumte nicht einmal.

Am anderen Morgen waren wir halb erfroren und erhoben uns von unserem Granitlager. Die Sonne schien strahlend und aus dieser Höhe wirkte die Insel, die unter uns lag, wie eine Reliefkarte. Ich stand auf dem Gipfel und genoss die Höhe, ohne dass Schwindel mich erfasste. Ich berauschte mich an dem Anblick und vergaß die Abgründe, in die mein Schicksal mich bald führen würde. Erst als der Professor und Hans sich zu mir gesellten, kehrte ich gedanklich wieder in die Wirklichkeit zurück.

Mein Onkel drehte sich nach Westen, deutete mit der Hand und sagte: "Grönland." Ich war erstaunt. "Grönland?" Mein Onkel nickte. "Es sind nur fünfunddreißig Meilen. Bei Tauwetter kommen sogar Eisbären auf Eisschollen bis nach Island. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Wir sind auf dem Gipfel des Sneffels und stehen auf der einen Spitze, die Scataris genannt wird." Mein Onkel blickte mich triumphierend an. "Auf zum Krater."

Der Krater glich einem umgekehrten Kegel. Seine Öffnung hatte einen Durchmesser von ungefähr einer halben Meile. Er war ungefähr zweitausend Fuß tief, wobei sein Boden einen Umfang von sicher nicht mehr als tausend Fuß hatte. Ein Abstieg würde nicht zu beschwerlich werden.

Hans ging voran. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Im Innern des Kegels beschrieb Hans lang gezogene Ellipsen, um den Abstieg zu erleichtern. Kamen wir einen Gletscher, wurde Hans sehr vorsichtig und suchte mit seinem eisenbeschlagenen Stock nach Spalten. An besonders gefährlichen stellen seilten wir uns aneinander an. Wir kamen schließlich heil unten an. Es war genau zwölf. Als ich hinauf blickte, sah ich die Öffnung des Kegels, die ein kleines Stück Himmel einrahmte. An einem Punkt war die Spitze des Scartaris zu sehen.

Unten im Kegel öffneten sich drei Kamine. Hier hatte der Sneffels seine Dämpfe und seine Lava ausgestoßen. Die Kamine hatten einen Durchmesser von ungefähr hundert Fuß. Während ich nicht wagte, in die Öffnungen zu blicken, eilte der Professor von einem zum anderen und verschaffte sich einen genauen Überblick. Dabei redete er laut und gestikulierte heftig. Hans und die drei Isländer saßen auf Lavastücken und schwiegen. Offensichtlich hielten sie meinen Onkel für einen Verrückten.

Plötzlich stieß mein Onkel einen Schrei aus und ich befürchtete, er sei in einen der Kamine hineingestürzt. Aber so war es nicht. Er stand vor einem Granitblock, der mitten im Krater lag. "Axel, komm. Axel, sieh doch!", rief meine Onkel aufgeregt. Ich eilte zu ihm und sah mit Bestürzung aber auch mit Freude, was mein Onkel gesehen hatte. Auf der westlichen Seite des Felsens stand in Runenschrift der tausendmal verfluchte Name:

Arne Saknussemm

"Wer will jetzt noch zweifeln?", triumphierte mein Onkel. Ich war sehr betroffen und setzte mich benommen auf eine Lavabank. Das war zuviel. Als ich wieder aufsah, waren mein Onkel, Hans und ich allein. Die drei Isländer waren verabschiedet worden und stiegen wieder zur Oberfläche auf, um nach Stapi zurückzukehren. Hans schlief am Fuß eines Felsblockes auf einem improvisierten Bett. Mein Onkel eilte ruhelos im Krater umher. Ich hatte nicht die Kraft aufzustehen, und machte es Hans nach. Ich fiel in einen unruhigen Schlaf. So verging die erste Nacht im Krater.

Der nächste Morgen war grau und mein Onkel war voller Zorn. Ich verstand den Grund, der mich mit Hoffnung erfüllte: Wir hatten drei Wege zur Auswahl aber nur einer war der richtige. Um herauszufinden, welcher Kamin zum Mittelpunkt der Erde führte, musste die Sonne scheinen, damit der Scataris einen Schatten werfen konnte. Keine Sonne bedeutete kein Schatten und das wiederum bedeutete, dass die Expedition aufgegeben werden musste.

Ich frohlockte. Es war der 25. Juni. Wenn der Himmel jetzt sechs Tage bedeckt bleiben würde, würden wir unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren. Der 26. und 27. Juni vergingen, ohne dass sich das Wetter besserte. Am 28. Juni aber änderte es sich mit dem Mondwechsel. Die Sonne leuchtete hell in den Krater und der Schatten des Scataris zeichnete sich wie eine spitze Gräte am Boden des Kraters ab. Mein Onkel folgte dem wandernden Schatten. Um zwölf Uhr war der Schatten am kürzesten. Sanft berührte er den mittleren Kamin. "Da ist es! Dort geht es zum Mittelpunkt der Erde.", rief mein Onkel aufgeregt. Ich sah zu Hans hinüber. Der sagte nur ein Wort: "Forüt." Mein Onkel strahlte. "Vorwärts!" Es war ein Uhr dreizehn nachmittags.

 

 

 

17. Der Abstieg

Eigentlich begann die Reise erst jetzt. Der Augenblick war gekommen, in den schrecklichen Schlund hinabzusteigen. Noch hätte ich mich weigern können, aber ich schämte mich vor Hans. Er nahm dieses Abenteuer so ruhig hin und schien so sorglos, dass ich es nicht ertragen konnte, nicht eben so tapfer zu sein wie er. Also schritt ich mutig auf den Kamin zu und dachte dabei wehmütig an meine hübsche Vierländerin.

Ich beugte mich in den Schlund hinunter und meine Haare sträubten sich. Trotz des Antischwindeltrainings in Kopenhagen fühlte ich mich wie betrunken und die gähnende Leere hatte eine furchtbare Anziehungskraft auf mich. Fast hatte ich das Gefühl zu stürzen, als eine hand mich festhielt. Es war Hans' Hand. Jetzt wusste ich, wie der Abgrund beschaffen war.

In den nahezu senkrechten Wänden hatte ich Vorsprünge gesehen, die den Abstieg erleichtern würden. Aber es gab kein Geländer. Ein Seil würde helfen, aber wenn wir es hier oben befestigten, wie sollten wir es wieder losmachen, wenn wir unten angekommen waren? Mein Onkel hatte für dieses Problem eine Lösung. Er schlang das Seil um einen vorstehenden Lavablock und ließ beide Hälften in den Abgrund hinunter. So konnten wir uns festhalten und trotzdem das Seil mit in die Tiefe nehmen.

"Jetzt zum Gepäck. Wir werden drei Pakete packen. Jeder von uns trägt eins. Und natürlich tragen wir nur die zerbrechlichen Sachen." Der Professor sah uns an. "Wir alle tragen einen Teil der Lebensmittel. Hans trägt außerdem die Werkzeuge, du die Waffen und ich die empfindlichen Instrumente." Mein Onkel schien mit seiner Planung zufrieden. "Was ist mit den Kleidern, den Seilen, Leitern und anderen Dingen?", fragte ich verwirrt. "Wie kommen die hinunter?" Mein Onkel lachte. "Das wirst du gleich sehen."

Hans verpackte alle Dinge, die nicht zerbrechlich waren in ein Paket. Mein Onkel nahm es und warf es in den Schlund. Es polterte unter lautem Getöse in den Abgrund und mein Onkel verfolgte es mit den Augen, so lange es ging. Dann blickte er auf. "Jetzt kommen wir." Bei diesen Worten bekam ich eine Gänsehaut, aber ich nahm das Paket mit den Lebensmitteln und den Waffen und ging zum Abgrund. Wir stiegen hintereinander in den Abgrund. Er Hans, dann mein Onkel und schließlich ich.

Ich hatte Angst, dass das Seil uns alle drei nicht halten würde und versuchte, es so wenig wie möglich zu nutzen. Als eine Stufe unter Hans' ruhigem Schritt wankte hörte ich Hans Stimme: "Gif akt." Mein Onkel übersetzte "Vorsicht!" Nach einer halben Stunde waren wir am Ende des Seils angekommen und saßen auf einem Felsen, der fest an der Wand des Kamins saß. Der Grund unseres Schachtes war noch nicht zu sehen.

Wir ließen wieder das Seil hinunter und begannen erneut mit dem Abstieg. Ich konnte mich nicht auf die Beschaffenheit des Terrains konzentrieren, aber der Professor machte sich zweifellos seine Notizen. "Je tiefer wir kommen, desto zuversichtlicher bin ich. Seht nur, wir befinden uns mitten im Urgestein. Das System der inneren Wärme lehne ich vollkommen ab. Hier ist ein chemischer Prozess vorangegangen, bei dem Metalle durch die Berührung mit Wasser und Luft in Brand gerieten. Aber wir werden es ja auch bald sehen."

Ich hatte keine Lust zu diskutieren, da mein Onkel immer wieder zu demselben Schluss kam. So stiegen wir schweigend weiter ab. Drei Stunden später konnte ich den Boden des Schachts immer noch nicht sehen. Dafür wurde die Öffnung oben immer kleiner. Wie stiegen immer weiter ab und ich beobachtete das Manöver mit dem Seil ganz genau. Vierzehn Mal hatten wir das Manöver nun hinter uns. Es dauerte jeweils eine halbe Stunde, das Ende des Seils zu erreichen. Wir waren also sieben Stunde und eine halbe unterwegs. Dazu hatten wir Ruhepausen eingelegt. Schätzungsweise waren wir jetzt zehneinhalb Stunden unterwegs. Das bedeutete, dass es ungefähr elf Uhr sein müsste.

Ich hatte gerade ausgerechnet, dass wir uns in einer Tiefe von zweitausendachthundert Fuß befanden, als Hans rief: "Halt!" Ich blieb sofort stehen. Auch mein Onkel hatte angehalten. "Wir sind am Ziel. Wir haben den Boden des Kamins erreicht." Ich schaute mich um. "Gibt es einen anderen Ausgang?" "Hier ist eine Art Gang, die schräg nach rechts führt. Wir werden jetzt etwas essen und dann schlafen. Morgen werden wir diesen Gang erkunden."

Wir öffneten den Proviantsack und aßen. Dann legte sich jeder so bequem wie möglich hin, um zu schlafen. Ich legte mich auf den Rücken und sah nach oben. Der dreitausend Fuß lange Kamin verwandelte sich für mich in ein riesiges Fernrohr und ich sah einen Stern, der nach meinen Berechnungen das ß des Kleinen Bären sein musste. Mit diesem Gedanken schlief ich ein.

 

 

 

18. Ins Erdinnere

Ein schwacher Schimmer des Tageslichtes weckte uns morgens um acht Uhr. Die Facetten der Lava fingen das Licht auf und es war immerhin so hell, dass wir unsere Umgebung erkennen konnten. Mein Onkel erhob sich fröhlich. "Hast du je besser geschlafen, Axel? Was für eine himmlische Ruhe. Kein Geschrei, kein Wagenrumpeln, einfach nur Stille." Ich mochte ihm nicht zustimmen, da die Ruhe hier unten für mich etwas Erschreckendes und Bedrohliches hatte. "Mach nicht so ein Gesicht.", sagte mein Onkel. Wir sind noch keinen Zentimeter ins Erdinnere vorgedrungen. Wir haben bisher nur den Boden der Insel erreicht. Dazu muss man nur einmal auf das Thermometer schauen."

Und tatsächlich. Das Barometer, dessen Quecksilbersäule stetig gestiegen war, je tiefer wir kamen, war bei 29 Zoll stehen geblieben. Es würde in dem Moment unbrauchbar werden, da das Luftgewicht den für den Meeresspiegel berechneten Druck übersteigen würde. Ich wusste, dass mein Onkel darauf brannte, das Barometer gegen das Manometer einzutauschen.

"Wird der Druck uns nicht sehr zu schaffen machen, wenn er stetig steigt?", fragte ich vorsichtig. Mein Onkel schüttelte den Kopf. "Das glaube ich nicht. Unsere Lungen werden sich an die komprimierte Atmosphäre gewöhnen. Was den Luftschiffern in den höheren schichten an Luft fehlt, werden wir vielleicht zu viel haben. Aber besser zu viel als zu wenig. Aber nun rasch, wir haben keine Zeit zu verlieren."

Wir sahen uns nach dem Paket um, das wir am Abend zuvor in den Abgrund geworfen hatten. Hans entdeckte es schließlich in einer Höhe von ungefähr hundert Fuß an einem Felsvorsprung. Rasch kletterte er nach oben und barg das Paket. Danach frühstückten wir. Es gab Zwieback und getrocknetes Fleisch, dazu tranken wir mit Wasser vermischten Genever. Bevor wir aufbrachen, schrieb mein Onkel in sein Notizbuch:

Montag, 29.Juni

Chronometer: 8.17 Uhr morgens

Barometer: 29' 7''

Thermometer: 6 º

Richtung: Ost-Süd-Ost

Die Richtung bezog sich auf den dunklen Gang, den zu erforschen wir uns entschlossen hatten. "Auf jetzt!", rief der Professor begeistert. "Nun beginnt das Abenteuer." Und er griff nach dem Ruhmkorffschen Apparat, der ihm um den Hals hing, verband den Strom mit der Laterne und das helle Licht durchbrach die Finsternis. Auch Hans setzte seinen Apparat in Tätigkeit. Nun konnten wir bei künstlichem Tageslicht selbst inmitten leicht entzündlicher Gase weitergehen.

Jeder nahm sein Paket, Hans schob das mit den Kleidern und Seilen vor sich her und wir betraten den Gang. Ein letztes Mal hob ich den Kopf und sah durch die gewaltige Röhre ein Stück des Himmels über Island. Ich wusste nicht, dass ich diesen Himmel nie wieder sehen sollte.

Im Inneren des Tunnels bedeckte eine dicke, glänzende Schicht Lava die Wände. Sie reflektierte das Licht in hundertfacher Stärke. Der Weg ging steil bergab, etwa in einem fünfundvierzig Grad Winkel. Man musste sehr Acht geben, dass man nicht zu schnell hinab glitt. Wir gingen einfach vorsichtig immer weiter in den Gang hinein und zogen unser Gepäck an einem Seil hinter uns her.

Ich betrachtete die Umgebung aufmerksam, die an manchen Stellen ungewöhnlich schön erschien. Hier hatte die poröse Lava runde Blasen gebildet. Undurchsichtige Quarzkristalle hingen vom Gewölbe herunter und unser Licht wurde wie von vielen Kronleuchtern gespiegelt. Meinem Onkel entging meine Begeisterung nicht. "Es ist prächtig, mein Junge, nicht wahr? Aber ich hoffe, wir werden noch viel prächtigere Dinge sehen."

Wir marschierten den ganzen Tag. Die Wärme nahm kaum zu, was mich zu der Annahme brachte, dass wir eher waagerecht wanderten, als in die Tiefe vorzudringen. Als wir nach sieben Stunden Halt machten, sank ich erschöpft zu Boden. Wir waren in einer Art Höhle. Ein sanfter Luftzug erreichte uns ab uns zu. Woher kam er nur?

Hans hatte das Abendessen bereitet und wir aßen alle mit Appetit. Dass wir unseren Wasservorrat schon zur Hälfte verbraucht hatten, stimmte mich ein wenig besorgt. Mein Onkel hatte Wasser aus unterirdischen Quellen schöpfen wollen. Was, wenn wir keine fänden? Aber mein Onkel war zuversichtlich. "Wir finden Wasser, wenn wir aus diesem Lavagehäuse heraus sind. Wie soll das Wasser denn hierher vordringen?" Ich machte mir trotzdem Sorgen. "Was ist, wenn es auch so bleibt, wenn wir tiefer kommen? Bisher sind wir ja noch nicht sehr tief, oder?" Mein Onkel machte ein überraschtes Gesicht und wir beide begannen zu rechnen.

Das Thermometer stand auf fünfzehn Grad. Neun Grad mehr als zum Zeitpunkt unseres Aufbruchs. Die Temperatur stieg pro hundert Fuß um je ein Grad. Von diesem Wert gab es leichte Abweichungen, je nach örtlicher Beschaffenheit des Bodens. So hatte man in vulkanischen Gebieten festgestellt, dass die Temperatur erst bei hundertfünfundzwanzig Fuß um ein Grad anstieg. Ich rechnete wieder uns stellte fest, dass wir nach der Temperaturmessung elfhundertfünfundzwanzig Fuß unter dem Meeresspiegel sein mussten. Wir waren schon sechstausend Fuß tiefer, als es je einem Menschen gelungen war, beispielsweise in den Bergwerken in Kitzbühel oder in den Kuttenbergen in Böhmen. Die Temperatur hätte hier etwa 81 Grad betragen müssen. Es stimmte mich nachdenklich, dass sie kaum fünfzehn Grad betrug.

 

 

 

19. Der Lavagang

Wir setzten unseren Weg am 30. Juni um sechs Uhr morgens fort. Der Lavagang, dem wir folgten, fiel sanft ab und genau um 12 Uhr siebzehn erreichten wir das Ende des Kamins. Wir standen an einer Art Kreuzung. Die beiden Wege, die sich hier trafen waren beide dunkel und schmal. Welcher Weg war der Richtige?

Mein Onkel wollte sich offensichtlich weder vor Hans noch wir mir eine Blöße geben. Mit entschlossenem Schritt eilte er in den östlichen Tunnel und uns blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Wir gingen nicht mehr länger bergab und der Gang war mal schmal und mal breiter. Wir durchschritten Gewölbebogen, die wie die Seitenschiffe einer gotischen Kathedrale anmuteten, dann wieder mussten wir beinahe kriechen, um weiter zu kommen. Die Temperatur blieb erträglich und ich musste unwillkürlich an den Vulkansausbruch denken, der diese Gänge hier geschaffen hatte. Würde der Vulkan etwa wieder Feuer speien? Dann wären wir verloren.

Der Professor machte sich über diese Dinge keine Gedanken. Er wollte nur eines: weitergehen. Um sechs Uhr abends waren wir zwei Meilen in südlicher Richtung vorangekommen. Wir waren aber nur wenig weiter ins Erdinnere vorgedrungen und mein Onkel gab das Zeichen zur Rast. Ohne viel zu denken oder zu reden aßen und schliefen wir.

Am nächsten Morgen erwachten wir erfrischt und setzten unseren Weg fort. Wir gingen durch den Lavatunnel weiter, der immer horizontaler verlief und schließlich sogar anzusteigen schien. Das Gehen wurde ermüdend und mein Onkel sah mich ungeduldig an. Er war schlechter Laune und trieb uns an, weiterzugehen. Ich folgte ihm und Hans so schnell ich konnte. Ich wollte nämlich nicht in diesem Labyrinth unterirdischer Gänge allein zurückbleiben. Der Gedanke, dass wir an die Erdoberfläche zurückkehrten, tröstete mich.

Es war fast Mittag, als das Aussehen der Wände des Tunnels sich änderte. Die Lavaschicht wich zurück und der Blick auf das nackte Gestein wurde frei. Wir befanden uns mitten in der Übergangsperiode, der silurischen Periode. "Wir kehren den Granitmassen den Rücken.", rief ich. "Wir machen es wie die Hamburger, die über Hannover nach Lübeck reisen. Schau nur Onkel, wir sind in der Periode angelangt, in der die ersten Tiere und Pflanzen erschienen." Der Professor musterte mich. "Meinst du?" Ich nickte und zwang den Professor, den Schein seiner Lampe über die Wände gleiten zu lassen. Hatte er mich nicht verstanden? Wollte er aus gekränkter Eitelkeit nicht zugeben, dass er sich mit der Wahl des östlichen Tunnels geirrt hatte? Wollte er etwa diesen Weg bis zu Ende gehen? Der Professor setzte seinen Weg unbeirrt fort und mir war klar, dass dieser Weg nie in den Sneffels hinunter führen würde. Oder irrte ich mich vielleicht?

Ich hielt nach den Überresten einer Urpflanze Ausschau, um meine Überlegungen zu untermauern. Ich hatte kaum hundert Schritte getan, da traten meine Füße plötzlich nicht mehr auf harten Lavaboden sondern auf Staub, der aus Pflanzenresten und Muscheln bestand. Deutlich konnte man die Abdrücke von Algen und Lycopodien an den Wänden sehen. Ich konnte nicht anders, hob eine Muschel auf, die einem Tier gehört hatte, das der heutigen Kellerassel geglichen hatte und sagte zu meinem Onkel: "Sieh mal!" Mein Onkel warf einen Blick darauf und antwortete: "Was willst du Axel? Ja, wir haben die Lava- und Granitschicht verlassen. Vielleicht irre ich mich. Aber wir können erst sicher sein, wenn wir das Ende dieses Ganges erreicht haben." "Du hast Recht!" Ich sah meinen Onkel nachdenklich an. "Es wäre auch nicht so schlimm, wenn wir nicht eine immer größer werdende Gefahr befürchten müssten." "Und die wäre?" "Wassermangel." Der Professor schwieg einen Moment, dann seufzte er: "Wir werden es rationieren müssen!"

 

 

 

20. In der Sackgasse

Wir rationierten das Wasser, denn unser Vorrat würde gerade noch drei Tage reichen. Eine Quelle zu finden, konnten wir an die und die Hoffnung, eine Quelle zu finden hatten wir aufgegeben.

Wir wanderten tapfer weiter. Im Licht unserer Kampen funkelten Schiefer, Kalkstein und alter roter Sandstein. Auch Stücke prachtvollen Marmors konnten wir sehen, achatgrau, rötlich oder gelb. Auf vielen dieser Marmorstücke sah man Abdrücke von Urtieren. Ich sah Reste einer höheren Gattung als am Tage zuvor. Offensichtlich stiegen wir die Leiter des Tierlebens, auf dessen oberster Stufe der Mensch steht, wieder hinauf. Mein Onkel schien das alles nicht zu bemerken, denn er wartete auf zwei Dinge: entweder sollte sich ein senkrechter Schacht auftun, der direkt zum Mittelpunkt der Erde führte oder aber ein Hindernis sollte auftauchen, das ein Weitergehen unmöglich machte. Aber weder das Eine noch das Andere geschah. Der Abend kam und nach einer Nacht, in der wir alle schon den quälenden Durst zu spüren bekommen hatten, gingen wir weiter.

Wir marschierten zehn Stunden. Da bemerkte ich plötzlich, dass Schiefer, Kalk, Marmor und Sandstein verschwanden. Die Wände waren dunkel und stumpf. Ich streckte die Hand aus und berührte die linke Tunnelwand. Als ich meine Hand zurückzog, war sie schwarz. "Wir sind in einer Kohlengrube!", rief ich erstaunt. "Ein Bergwerk ohne Bergleute.", sagte mein Onkel. "Wer weiß?", fragte ich, aber mein Onkel sah mich nur kühl an. "Ich weiß es. Dieser Gang hier ist nicht von Menschenhand gemacht. Und selbst wenn es so wäre, wäre es mir egal. Es ist Zeit für das Abendessen."

Ich konnte nur wenig essen und trank gierig die wenigen Tropfen Wasser, die mir zustanden. Wir hatten nun nur noch die halbvolle Feldflasche des Führers. Nach dem Abendessen legten sich Hans und mein Onkel zur Ruhe. Sie schliefen sofort ein, während ich mich schlaflos hin und her wälzte.

Der nächste Morgen war ein Samstag und wir gingen um sechs Uhr weiter. Nur zwanzig Minuten später erreichten wir eine große Grube. Wäre sie von Menschhand gemacht gewesen, so wäre sie wohl abgestützt worden. Diese Grube war ungefähr hundert Fuß breit und hundertfünfzig Fuß hoch. Man konnte die ganze Geschichte des Karbons an den Wänden lesen und jeder Geologe hatte die verschiedenen Phasen bestimmen können. Meinen Onkel interessierten aber diese Dinge nicht. Wir gingen weiter und bemerkten plötzlich einen scharfen Geruch von Kohlenwasserstoff. In dem Gang, in dem wir uns befanden, musste eine beträchtliche Menge dieses Gases vorhanden sein, das die Bergleute Grubengas nennen. Seine Explosionen verursachten oft furchtbare Katastrophen. Wie glücklich war ich über die Ruhmkorffapparate. Mit der Fackel in der Hand, wäre unsere Reise wohl in diesem Gang zu Ende gewesen.

Wir wanderten weiter durch die Kohlemine. Es wurde Abend, der Weg verlief horizontal und mein Onkel war höchst ungehalten. Es war sechs Uhr, als plötzlich und unvermittelt eine mauer vor uns aufragte. Es gab kein Vorbeikommen. Wir befanden uns in einer Sackgasse.

"Nun gut!", rief mein Onkel. "Nun wissen wir wenigstens, dass wir den falschen Gang gewählt haben. Wir kehren einfach um und nehmen an der Weggabelung den anderen Weg." Auffordernd sah Professor Lidenbrock Hans und mich an. "Wenn wir überhaupt noch die Kraft haben bis dorthin zurück zu gehen.", unkte ich. "Unser Wasservorrat ist so gut wie erschöpft." Mein Onkel blickte mich streng an. "Ist denn auch dein Vorrat an Mut erschöpft?" Ich behielt meine Gedanken für mich.

 

 

 

21. Zurück

Wir machten uns am nächsten Morgen auf den Rückweg. Fünf lange Tage lagen vor uns. Solange waren wir gegangen, bis wir in der Sackgasse gelandet waren. Ich will die Qualen, die wir in diesen fünf Tagen durchmachten hier nicht näher beschreiben. Jeder von uns ging damit anders um. Mein Onkel kochte vor Wut, weil er sich für den falschen Weg entschieden hatte, Hans ertrug die Leiden friedlich und ergeben, ich aber jammerte und klagte, wie ich gestehen muss.

Mein Mut sank als uns am Ende des ersten Marschtages tatsächlich das Wasser ausging. Nun hatten wir nur noch den Genever. Wenn man Durst hat, ist dieser schreckliche Schnaps nicht das Richtige. Er verbrannte mir die Kehle und ich konnte nicht einmal den Anblick der Flasche ertragen. Die Temperaturen brachten mich fast um und eine bleierne Müdigkeit lähmte meine Glieder. Ich habe es nur meinem Onkel und Hans zu verdanken, dass ich dort unten nicht einfach liegen blieb. Wenn meine Kraft zu Ende war, machten beide Halt und ließen mich ausruhen. So gut sie konnten, standen mir die beiden bei und dass, obwohl sie selber hart gegen den Durst und die Erschöpfung kämpften.

Am 7. Juli erreichten wir endlich die Stelle, an der sich die beiden Gänge trafen. Wir krochen auf allen Vieren und waren halbtot. Ich ließ mich auf den Boden fallen und blieb dort einfach liegen. Hans und mein Onkel setzten sich neben mir nieder und versuchten, ein Brocken Zweiback zu kauen. Meine Lippen und meine Zunge waren so geschwollen, dass ich nichts essen konnte. Ich sank in einen unruhigen Schlaf.

Als ich erwachte, lag ich in den Armen meines Onkels. Er beugte sich zu mir herunter und sagte: "Armer Junge!" Ich war gerührt, denn mein Onkel war noch nie zärtlich zu mir gewesen. Ich nahm seine Hände in die meinen und sah, dass seine Augen feucht wurden. Er langte nach seiner Feldflasche und öffnete sie. "Trink!", sagte er. "Es ist der letzte Schluck Wasser. Der letzte Schluck, hörst du? Ich habe ihn für diesen Augenblick aufgespart. Hundertmal musste ich gegen das Verlangen ankämpfen, ihn selber zu trinken. Ich habe widerstanden, weil ich den letzten Schluck für dich aufheben wollte, Axel. Trink!" Ich konnte nichts sagen. Tränen schnürten mit die Kehle ab. "Ich wusste, dass du zusammenbrechen würdest. Ich habe diese letzten Tropfen aufgespart, um dich wieder zu beleben." Mit diesen Worten setzte mein Onkel mir die Flasche an die Lippen. Das Wasser lief in meinem Mund und meine trockene Kehle hinunter. Welche Wohltat! Es war wirklich nur ein einziger Schluck. Ein einziger!

Mein Durst war zwar nicht gestillt, aber der eine Schluck Wasser hatte meine Lebensgeister ein wenig geweckt. Ich setzte mich langsam auf und sah meinen Onkel an. "Uns bleibt keine Wahl. Wir haben kein Wasser. Wir müssen umkehren." Mein Onkel starrte mich entgeistert an. "Zurück? Höre ich richtig? Zurück? Hat das Wasser dich denn nicht erfrischt? Hat es dir nicht ein wenig Mut und Energie zurückgegeben?" Ich senkte beschämt den Blick. Mein Onkel sprach trotzdem weiter. "Du bist immer noch niedergeschlagen und verzweifelt. Und das, obwohl die Expedition jetzt doch glücken wird? Alles spricht dafür, dass wir nun den richtigen Weg wählen." "Wir werden sterben, Onkel.", presste ich hervor. Mein Onkel schwieg. "Lass uns die Expedition abbrechen.", bat ich. Mein Onkel schüttelte den Kopf. "Ich will nicht, dass du stirbst, Axel. Hans soll dich begleiten. Von hier an gehe ich allein weiter. Lasst mich allein. Geh schon!"

Mein Onkel war sehr aufgeregt. Woher er die Energie nahm, die Expedition fortzusetzen, war mit schleierhaft. Dennoch wollte ich nicht hier unten sterben. Aber konnte ich meinen Onkel hier allein lassen?

Hans verfolgte unser Gespräch mit unbewegter Miene. Ich war sicher, dass er begriff, worum es ging. Er sah, dass wir in entgegengesetzte Richtungen wollten. Dass sein eigenes Leben auch auf dem Spiel stand, schien ihn nicht sehr zu beeindrucken. Ich trat auf Hans zu und legte meine Hand auf seinen Arm. "Komm, Hans.", sagte ich ruhig. "Wir gehen zurück zum Krater." Hans bewegte sich nicht. Er sah mich lange Zeit an. Schließlich deutete er auf Professor Lidenbrock und sagte nur ein Wort: "Master!"

"Er ist nicht dein Herr! Was für ein Unsinn. Hans, wir müssen fliehen. Wir müssen ihn fortbringen von hier. Verstehst du denn nicht, dass unser Leben auf dem Spiel steht?" Ich flehte Hans an, vernünftig zu sein, aber der Isländer sagte nichts mehr. Ich packte Hans am Arm und wollte ihn in die Höhe zerren. Mein Onkel trat dazwischen. "Du hast doch gehört, was Hans gesagt hat.", warnte er mich. "Hör auf damit. Ich habe einen Vorschlag. Der Wassermangel ist das einzige Problem, richtig? Im östlichen Tunnel konnten wir keine Quelle entdecken. Sicher haben wir im westlichen Tunnel mehr Glück." Ich wollte etwas erwidern, aber mein Onkel schnitt mir mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab. "Hör mir zu! Als du schliefst, habe ich den westlichen Tunnel erkundet. Er scheint unmittelbar in das Erdinnere zu führen. Wir werden sehr schnell Granitgestein erreichen und dann Quellen im Überfluss finden. Ich habe an Kolumbus gedacht. Er hat von seiner kranken und erschöpften Besatzung drei Tage erbeten, um die Neue Welt zu finden. Ich bin auch ein Kolumbus. Ich bin der Kolumbus der unterirdischen Welt. Ich bitte dich nur um einen Tag, Hans. Ein Tag! Wenn wir in einem Tag noch kein Wasser gefunden haben, dann kehren wir an die Erdoberfläche zurück. Ich schwöre es!" Er sah mich erwartungsvoll an. "Was sagst du zu meinem Vorschlag?"

Ich war erschöpft und gereizt. Meine Angst hier unten zu sterben, war groß, aber ich sah, dass mein Onkel sich überwand und mir einen Handel vorschlug. Das rührte mich. "Also gut.", rief ich. "Wir machen, was du willst. Ich hoffe, dass Gott uns für diese übermenschliche Anstrengung belohnt. Machen wir uns auf den Weg, denn die Zeit ist knapp!"

 

 

 

22. Durst

Im neuen Tunnel ging es immer bergab. Hans ging vorweg. Mein Onkel hob seine Lampe. "Sieh mal, Axel. Das ist Urgestein, wir sind auf dem richtigen Weg." Wir kamen tiefer und tiefer und durchschritten verschiedenen Schichten: Schiefer, Gneis und Glimmerschiffer, die auf dem unerschütterlichen Granit lagerten. Durch diese Schichten zogen dich Mineraladern aus Kupfer, Mangan mit einigen Spuren von Platin und Gold. Das Licht unserer Apparate wurde vom Glimmerschiefer in alle Winkel zurückgeworfen und es kam mir vor, als wanderten wir durch einen hohlen Diamanten. Gegen Sechs Uhr nahmen die Wände eine andere Farbe an. Sie wurden düsterer, auch wenn sie kristallen waren. Feldspat und Quarz mischten sich in den Glimmerschiefer, um das härteste Gestein zu bilden, das die Welt kennt: den Granit.

Es war acht Uhr abends und wir hatten immer noch keine Quelle gefunden. Ich hatte schrecklichen Durst. Professor Lidenbrock ging immer weiter und wollte nicht stehen bleiben. Er lauschte aufmerksam, um vielleicht das Murmeln einer Quelle zu hören. Aber ist blieb totenstill in unserem riesigen Granitgefängnis. Ich konnte nicht mehr gehen, wollte aber nicht aufgeben, um meinen Onkel nicht zum Anhalten zu zwingen. Der Tag, um den er mich gebeten hatte, neigte sich dem Ende zu. Wir hatten kein Wasser gefunden. Das war ein schwerer Schlag für meinen Onkel. Ich biss die Zähne zusammen und ging weiter. Aber schließlich verließen mich die Kräfte. Ich sank zu Boden. "Ich kann nicht mehr. Ich sterbe!", rief ich verzweifelt. Sofort kehrte mein Onkel um und trat zu mir. "Es ist alles aus.", sagte er hoffnungslos. Mir wurde schwarz vor Augen und ich verlor das Bewusstsein.

Als ich die Augen wieder aufschlug, lagen mein Onkel und Hans in Decken gehüllt auf dem Boden. Schliefen sie? Ich litt, mein Durst war heftiger denn je. Schlimmer aber noch als der Durst war die Gewissheit, dass es keine Hilfe mehr gab. Mein Onkel hatte Recht gehabt als er sagte, es sei alles aus. Nie wieder würden wir die Erdoberfläche erreichen. Wir waren sehr geschwächt und hatten kein Wasser mehr. Wir befanden uns anderthalb Meilen unter der erde. Wer sollte uns hier finden? Ich kämpfte gegen meine Panik und versuchte, eine bequemere Position zu finden. Die Stunden vergingen. Plötzlich vernahm ich ein Geräusch und hob den Kopf. Im Tunnel war es dunkel, aber ich glaubte, Hans mit einer Lampe verschwinden zu sehen.

Ich fuhr auf. Wollte Hans uns verlassen? Was hatte er vor? Wollte er sich allein in Sicherheit bringen? Ich wollte schreien, schloss aber im letzten Moment wieder den Mund. Wie konnte ich diesem braven Mann einen Fluchtversuch unterstellen? Hans hatte uns immer sicher geführt. Außerdem ging er den Gang hinunter und nicht hinauf. Sicher hatte er einen wichtigen Grund, vielleicht wollte er eine Quelle suchen. Hatte er vielleicht ein leises Murmeln vernommen, das wir nicht hören konnten?

 

 

 

23. Wasser

Ich zwang mich auf mein Lager zurück und wartete. Ich wurde schier wahnsinnig. Nach einer Stunde etwa hallten aus der Tiefe Fußtritte herauf. Hans kehrte zurück. Ohne zu zögern trat er auf meinen Onkel zu und weckte ihn. "Vatten!", sagte Hans. Sofort verließ ich meinen Platz. "Wasser! Wasser! Hans hat Wasser gefunden!", jubelte ich. Mühelos hatte ich das isländische Wort verstanden. "Wo ist das Wasser, Hans?" Hans deutete den Gang hinunter. Wir brachen sofort auf. Der Gang, dem wir folgten, wies ein Gefälle von zwei Fuß pro Klafter auf. Eine Stunde später hatten wir etwa tausend Klafter zurückgelegt und waren zweitausend Fuß tiefer gekommen.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch in der Granitwand, ein dumpfes Grollen wie leiser Donner aus der Ferne. Mein Onkel machte ein glückliches Gesicht. "Hörst du das? Hans hat sich nicht geirrt. Das ist ein Gebirgsbach." Wir beschleunigten unsere Schritte. Die Hoffnung verlieh uns Flügel und allein das Geräusch des Wassers gab uns neue Kraft. Wir gingen noch eine halbe Meile und es stellte sich heraus, dass Hans in der Nacht das Wasser auch nur gehört hatte. Er hatte das Wasser nicht gesehen und auch seinen Durst nicht gelöscht. Wir gingen noch ein Stück weiter und merkten, dass wir uns von dem Wassergeräusch entfernten. Wir kehrten wieder um und Hans suchte die Stelle, an der das Wasser uns am nächsten zu sein schien. Wir konnten es tosen und brausen hören, aber eine Granitwand trennte uns von dem lebenserhaltenden Nass!

Hans legte sein Ohr an den Stein und lauschte. Ich begriff. Er suchte den Punkt, an dem der Gebirgsbach am lautesten war. Er fand ihn an der linken Wand etwa drei Fuß über dem Boden. Plötzlich war mir klar, was Hans vorhatte und ich hätte ihn umarmen können als ich sah, wie er nach einer Hacke griff. Er begann, auf den Felsen einzuschlagen. "Gerettet!", jubilierte ich, um im selben Moment vor Schreck zusammenzuzucken. Was, wenn er das Gewölbe über uns zum Einsturz brachte? Mit klopfendem Herzen beobachtete ich Hans, der ruhig dem Felsen mit kleinen Schlägen zu Leibe rückte. Es dauerte lange bis wir endlich ein Zischen vernahmen. Ein Wasserstrahl schoss aus der Wand und prallte an die gegenüberliegende Wand. Hans wurde von dem Wasserstrahl getroffen und fast umgeworfen. Er schrie laut auf. Das Wasser war kochend heiß!

"Es wird sich schon abkühlen.", beruhigte mein Onkel mich. Es bildete sich ein kleiner Bach, dessen Dämpfe den Gang füllten und der sich dann in den unterirdischen Windungen verlor. Nach einiger Zeit schöpften wir den ersten Schluck. Es war eine Wohltat, ein Genuss! Was interessierte uns, woher das Wasser kam? Niemand störte sich daran, dass es warm war. Es war ein Lebenselixier! Mein Onkel war der Erste, der auf den Geschmack achtete. "Es ist eisenhaltiges Wasser, also ausgezeichnet für den Magen. Der Mineralgehalt ist hoch. Es schmeckt nach Tinte, aber das ist egal. Hans hat uns das Leben gerettet! Ich schlage vor, dass wir den Bach nach ihm benennen."

Wir nannten den Bach "Hans-Bach". Hans bildete sich darauf nichts ein. Nachdem er getrunken hatte, setzte er sich wie immer still in einen Winkel. Ich sah den Hans-Bach nachdenklich an. "Sollen wir das Wasser einfach laufen lassen?", fragte ich meinen Onkel. "Aber natürlich. Die Quelle ist bestimmt unerschöpflich.", antwortete er mir. "Wir sollten trotzdem unsere Flaschen und den Schlauch füllen. Vielleicht sollten wir auch versuchen, die Öffnung in der Wand zu verstopfen." Mein Onkel zuckte mit den Schultern, aber er befolgte meinen Rat. Wir füllten unsere Flaschen und den Schlauch aber es war unmöglich, die Öffnung im Felsen zu schließen. Wir mussten das Wasser fließen lassen, was mich mit Unbehagen erfüllte.

"Mach dir keine Sorgen.", beruhigte mich mein Onkel. "Wir lassen das Wasser laufen. Es fließt bergab und wird uns immer erfrischen. Der Bach wird unser Begleiter. Mit ihm wird unser Vorhaben sicher glücken." Wir erfrischten uns noch einmal am Hans-Bach und begaben uns zur Ruhe, denn das Chronometer sagte uns, dass es bereits Nacht war. Erfrischt und beruhigt sanken wir in einen tiefen Schlaf.

 

 

 

24. Der Schacht

Schnell vergaßen wir unsere Qualen. Wir frühstückten und tranken das ausgezeichnete Wasser des Hans-Bachs. Wir waren erfrischt und beschlossen, nicht aufzugeben. Um acht Uhr morgens brachen wir wieder auf. Der Gang führte uns nach Südosten und verlief fast horizontal. Die Neigung betrug nur ungefähr zwei Fuß pro Klafter und mein Onkel sah fortwährend auf seinen Kompass. Hin und wieder ging es steiler bergab und der Bach floss schneller. Im Großen und Ganzen aber verlief der Gang an den beiden folgenden Tagen eher horizontal. Am 10. Juli mussten wir schätzungsweise 30 Meilen südöstlich von Reykjavik und zweieinhalb Meilen tief sein.

Dann standen wir plötzlich vor einem unheimlichen Schacht. "Seht nur, auf die Weise werden wir schnell vorankommen.", rief mein Onkel begeistert. "Die Felsenvorsprünge bilden ja eine richtige Leiter."

Wir begannen mit dem Abstieg und Hans seilte uns an, damit kein Unglück geschehen konnte. Schnell taten unsere Kniekehlen weh und wir machten jeder Viertelstunde eine Pause, um unsere Beine auszuruhen. Wir aßen und tranken wir von dem Wasser aus dem Hans-Bach, das uns auf dem Abstieg als Wasserfall begleitete.

Zwei Tage lang folgten wir den Windungen dieser Felsspalte und drangen noch ungefähr zwei Meilen in das Erdinnere vor. Am 13. Juli ließ das Gefälle nach, auch wenn der Weg immer noch nach Südosten führte. Da der Abstieg nicht mehr so beschwerlich war, fiel das Wandern leichter. Leider war der Weg sehr monoton, da eine abwechslungsreiche Landschaft natürlich fehlte. Am 15. Juli waren wir etwa fünfzig Meilen vom Sneffels entfernt und sieben Meilen unter der Erde. Es ging uns gut und wir hatten unsere Reiseapotheke bisher noch nicht gebraucht.

Professor Lidenbrock notierte jede Stunde Daten von Kompass, Chronometer, Manometer und Thermometer. Als er mir sagte, dass wir horizontal fünfzig Meilen von unserem Ausgangspunkt entfernt waren, zuckte ich zusammen. Das bedeutete, dass wir nicht mehr unter Island, sondern über Kap Portland hinaus waren. Nun floss also der Ozean über unseren Köpfen. Dieser Gedanke beunruhigte mich etwas, aber ich gewöhnte mich rasch daran. Der Weg führte uns in immer größere Tiefen hinab und wir waren schon die reinsten Höhlenbewohner geworden, die kaum noch an Schnee, Sterne, die Sonne, den Mond oder an Bäume dachten. Am 18. Juli kamen wir zu einer Art Grotte. Hier bekam Hans seine drei Reichstaler und wir beschlossen, am nächsten tag auszuruhen.

 

 

 

25. Berechnungen

Die Grotte, in der wir lagerten, war riesig. Auf dem Boden floss der Hans-Bach dahin, dessen Wasser jetzt eine angenehme Temperatur hatte. Wir frühstückten und anschließend wollte der Professor seine Notizen ordnen. "Nimm den Kompass und lies die Richtung ab, Axel. Ich möchte zuerst genau berechnen wo wir sind, um nach unserer Rückkehr eine genaue Karte zeichnen zu können." Ich gehorchte und sah auf den Kompass. "Ost-Quart-Süd-Ost." "Gut.", nickte mein Onkel. "Wir befinden uns also unter dem Atlantischen Ozean in einer ungefähren Tiefe von sechzehn Meilen." Ich staunte. "Sechzehn Meilen? Aber die Wissenschaft hat festgestellt, dass das die größte Dicke der Erdrinde ist. Und nach dem Gesetz der ansteigenden Temperatur müssten wir hier eine Temperatur von ungefähr fünfzehnhundert Grad haben." Mein Onkel lächelte. "Da kann man sehen, wie Theorien von Tatsachen widerlegt werden können. Wir haben eine Temperatur von siebenundzwanzig sechs Zehntel. Es fehlen also vierzehnhundertzweiundsiebzig vier Zehntel Grad an dem, was die Theorie behauptet." Ich nickte.

Das proportionale Steigen der Temperatur beruht also auf einem Irrtum.", fuhr mein Onkel fort. "Oder andersherum Humphrey Davy hat sich nicht geirrt und ich darf seiner Theorie folgen. Oder bist du anderer Meinung?" Ich schüttelte den Kopf und schwieg. Ich glaubte nicht, dass Davy mit seiner Theorie richtig lag. Vielmehr glaubte ich, dass die hitzebeständige Lava, die unseren Gang überzogen hatte, uns vor der Hitze im Erdinneren schützte. Aber ich war klug genug, diesen Gedanken nicht zu äußern. Außerdem hatte ich eine ganz andere Sorge. "Ist es richtig, dass wir in zwanzig Tagen sechzehn Meilen tief gekommen sind?", fragte ich meinen Onkel. Er nickte. "Sind diese sechzehn Meilen der hundertste Teil des Erdradius'?" er nickte wieder. "Werden wir dann nicht fast fünfeinhalb Jahre brauchen, um den Mittelpunkt zu erreichen, wenn wir in diesem Tempo weiter vorankommen?" Mein Onkel schwieg zunächst dann schimpfte er: "Zum Teufel mit deinen Berechnungen. Vielleicht führt dieser Gang direkt zum Ziel. Wer weiß das schon? Was wir hier tun, hat ein anderer vor uns schon getan. Du redest einfach dummes Zeug. Schau jetzt lieber auf das Manometer." Ich gehorchte. Der Druck hatte beträchtlich zugenommen. Wir stellten fest, dass man sich an den steigenden Druck gewöhnte, bis auf gelegentliche Ohrenschmerzen. Ich war entschlossen, meinem Onkel nicht mehr zu widersprechen.

"Die Schwerkraft ist an der Oberfläche am größten. Im Erdinneren haben die Gegenstände kein Gewicht mehr.", erklärte der Professor. Mir fiel diese Vorstellung schwer. "Was ist mit der Luft? Wird sie nicht die Dichte von Wasser bekommen?" "Das könnte passieren bei einem Druck von siebenhundertzehn Atmosphären." "Wie kommen wir dann hinunter?", fragte ich verwirrt. "Wir werden uns Steine in die Taschen stecken." Mein Onkel hatte auf alles eine Antwort und so schwieg ich und hing meinen Gedanken nach. Wenn die Luft durch den großen Druck irgendwann in einen festen Zustand übergehen würde, könnten wir nicht mehr weiter gehen. Mein Onkel hätte an dieser Stelle sicher auf Saknussemm verwiesen, aber mir war ein anderer Gedanke gekommen. Saknussemm war im sechzehnten Jahrhundert gereist, in dem es weder Manometer noch Barometer gegeben hatte. Wie hatte er feststellen können, dass er sich im Mittelpunkt der Erde befand?

Der Rest des Tages verlief ereignislos. Ich gab dem Professor in allem Recht und beneidete Hans um seine Gleichgültigkeit. Auch ich versuchte nun zu gehen, wohin das Schicksal mich führte.

 

 

 

26. Verirrt

Alles ging glatt und ich begann an den Ruhm zu denken, den wir bei unserer Rückkehr ernten würden. Ich dachte schon wie der Professor! Der Weg ging steil bergab. Das Hinabsteigen war gefährlich aber Hans schütze uns und seine Geschicklichkeit half uns, weiterhin unverletzt zu bleiben. Er selbst wurde von Tag zu Tag schweigsamer und er steckte uns an. In den zwei Wochen seit unserem letzten Gespräch geschah zunächst nichts Nennenswertes.

Es war der siebte August und wir hatten eine Tiefe von dreißig Meilen erreicht. Wir waren ungefähr zweihundert Meilen von Island entfernt und der Tunnel senkte sich etwas. Ich ging voran und trug den einen Ruhmkorffapparat. Den anderen trug mein Onkel. Ich achtete nicht zu sehr auf meine Gefährten und als ich mich zu ihnen umdrehte, waren sie fort. Ich stand allein im Tunnel. ‚Wahrscheinlich bin ich zu schnell gegangen', dachte ich und kehrte um. Ich ging wohl eine Viertelstunde den Weg wieder bergan, aber ich fand keine Spur von Hans oder meinem Onkel.

Ich begann zu rufen und kalte Schauer überliefen mich. Ich mahnte mich selber zur Ruhe. ‚Es gibt nur einen Weg.', sagte ich mir. ‚Sie müssen hier irgendwo sein.' Tapfer ging ich bergan. Selbst wenn mein Onkel und Hans mich hinter statt vor ihnen vermuteten und sie nun selbst auf dem Rückweg waren, musste ich sie ja früher oder später treffen.

Ich ging weiter bergan und Zweifel begannen an mir zu nagen. War ich ihnen wirklich voraus gewesen? Und war ich hinter ihnen hergegangen? Da fiel mir der Hans-Bach ein, der uns wie ein Faden durch dieses Labyrinth begleitete. Ich musste nur seinem Lauf entgegengehen und würde auf meine Gefährten stoßen. Ich bückte mich, um mich an dem Wasser des Hans-Baches zu erfrischen, doch wie groß war mein Schreck! Meine Hand tastete über trockenes raues Gestein. Der Hans-Bach floss nicht mehr zu meinen Füßen.

 

 

 

27. Wo seid ihr?

Ich war verzweifelt. Hastig fuhr ich über den Boden, aber kein Wasser netzte meine Hände. Wann hatte ich den Hans-Bach verloren? Musste ich nun hier unten unter den Qualen von Hunger und Durst sterben? Hatte sich der Weg gegabelt, ohne dass ich es bemerkte? Wo waren die Gefährten? Um nicht von der Verzweiflung übermannt zu werden, versuchte ich an andere Dinge zu denken, aber es gelang mir kaum. Ich stellte mir Hamburg vor, das Haus in der Königstraße und Grete, meine liebe Grete. Die ganze obere Welt glitt an meinem inneren Auge vorbei. Wurde ich nun noch wahnsinnig?

"Onkel!", rief ich immer und immer wieder. "Wo seid ihr?" Um mich abzulenken kontrollierte ich meine Vorräte. Ich hatte noch Proviant für drei Tage und eine Feldflasche mit Wasser. Sollte ich hinauf- oder hinunter steigen? Mein Verstand sagte mir, dass ich hinaufsteigen müsse, um die Gabelung wieder zu finden und den Hans-Bach, der mein Leben retten würde. Ich erhob mich also und schritt tapfer voran. Ich versuchte, den Weg wieder zu erkennen, aber nichts kam mir bekannt vor. Und dann stand ich plötzlich vor einer Mauer. Der Weg endete und ich war fehlgegangen.

Erschreckt ließ ich mich zu Boden fallen, was ich gleich darauf heftig bereute. Meine Lampe war bei dem fall beschädigt worden und ich konnte sie nicht reparieren. Ihr Schein wurde schwächer und würde wahrscheinlich bald verlöschen. Ich war verloren in einem Labyrinth aus vielen Felsengängen. An Flucht oder Rettung war nicht zu denken. Meine Lampe flackerte noch einmal, dann verlosch sie. Es wurde dunkel um mich.

Die Panik erfasste mich mit einer ungekannten Macht. Ich stieß einen furchtbaren Schrei aus. Undurchdringliche Finsternis umhüllte mich und machte mich blind. Ich verlor den Kopf, begann mit vorgestreckten Armen zu rennen. Ich rannte, stieß an die Felsen, schürfte mir die Hände und Arme auf. Ich schrie, weinte und rannte wieder. Ich stieß mir den Kopf und Blut rann über mein Gesicht. Ich versuchte es abzulecken, bis ich schließlich erschöpft und völlig entmutigt zu Boden fiel.

 

 

 

28. Gerettet

Mein Gesicht war feucht von Tränen, als ich wieder zu mir kam. Wie spät war es? Ich wusste es nicht. Hatte ich viel Blut verloren? Ich fühlte mich schrecklich einsam und verlassen. Ich wollte mich gerade wieder zusammenrollen und mich meinem Schicksal hingeben, als ein lautes Geräusch die Stille zerriss. Was war das? Ein Donnern? War es eine Naturerscheinung? Eine Gasexplosion oder ein Einsturz? Ich lauschte. Im Tunnel war es wieder totenstill. Ich presste mein Ohr an die Wand und glaubte, unverständliche Worte zu hören. Das war mit Sicherheit eine Sinnestäuschung! Ich lauschte noch einmal. Nein, ich konnte tatsächlich Stimmengemurmel hören. Ich strengte mich an, aber ich konnte kein Wort verstehen. Ich wusste nur sicher, dass dort jemand sprach.

Ich schleppte mich ein Stück weiter und lauschte dann wieder. Diesmal konnte ich ganz deutlich das Wort "forloräd" verstehen. Ich rief aus Leibeskräften: "Hilfe! Hilfe!" Ich wartete, aber ich bekam keine Antwort. Warum konnten sie mich nicht hören, denn ich war ganz sicher, dass ich Hans und meinen Onkel hören konnte. Wer sonst sollte sich dreißig Meilen unter der Erdoberfläche unterhalten?

Ich ließ mein Ohr an der Wand entlang gleiten und entdeckte einen mathematischen Punkt, von dem aus ihre Stimmen am Besten zu verstehen waren. Wieder hörte ich das Wort "forloräd" und dann das Donnern, das mich aus meiner Lethargie gerissen hatte. Wieder presste ich das Ohr an die Wand, bis ich bemerkte, dass es unmöglich war, durch diese Granitwand irgendetwas zu hören. Die Geräusche mussten aus dem Tunnel kommen. Es konnte sich nur um einen besonderen akustischen Effekt handeln. Ich stand still und lauschte. Jemand rief meinen Namen. Es war mein Onkel. Fieberhaft dachte ich nach, dann verstand ich: Damit man mich hörte, musste ich ganz genau an der Wand entlang sprechen, die meine Stimme weiterleiten würde wie ein elektrischer Draht.

Ich beeilte mich, denn ich wollte nicht, dass Hans und mein Onkel sich von der Stelle entfernten, an der sie mich hören konnten. Ich presste also meinen Mund an die Wand und sagte so deutlich wie möglich: "Onkel Lidenbrock!" Dann wartete ich. Die Sekunden vergingen und ich hörte nichts. Dann - endlich - vernahm ich folgende Worte:

"Axel? Axel, wo bist du?"

"Ich bin verloren im tiefsten Dunkel."

"Was ist mit deiner Lampe?"

"Sie ist ausgegangen."

"Wo ist der Hans-Bach?"

"Verschwunden."

"Axel, verliere den Mut nicht! Wir haben überall nach dir gesucht. Wir dachten, du bist noch auf dem Weg des Hans-Baches und sind bergab gegangen. Dann haben wir Gewehrschüsse abgegeben. Wie gern würde ich dich in den Arm nehmen, aber das wir uns hören, ist auch schon ein großer Segen. Wir müssen feststellen, wie weit wir von dir entfernt sind. Ich schaue auf meinen Chronometer und sage deinen Namen. Wenn du ihn hörst, sagst du ihn sofort wieder. Ich zähle die Sekunden, bis ich deine Antwort hören kann."

So geschah es. Ich presste mein Ohr an die Wand und sobald ich das Wort "Axel" hörte, sagte ich es auch sofort und wartete.

"Vierzig Sekunden.", sagte mein Onkel schließlich. "Der Ton braucht zwanzig Sekunden von mir zu dir. Da er tausendundzwanzig Fuß in der Sekunde zurücklegt, macht das zwanzigtausendvierhundert Fuß anderthalb Meilen." Mir stockte der Atem. Anderthalb Meilen! "Onkel, muss ich hinauf oder hinunter?" "Hinunter, Axel. Hinunter. Wir sind in einen weiten Raum gekommen. Hier münden mehrere Tunnel, die sternförmig von dieser riesigen Höhle abgehen. Deiner ist sicher auch dabei! Los, mein Junge, mach' dich auf den Weg." Ich nahm allen Mut zusammen und verabschiedete mich von meinem Onkel. Das Letzte was ich hörte war ein: "Auf Wiedersehen, Axel. Auf Wiedersehen."

Ich erhob mich und schleppte mich mit letzter Kraft vorwärts. Der Weg fiel steil ab und ich geriet ins Rutschen. Schneller und immer schneller rutschte ich und hatte keine Kraft mehr, mich dagegen zu stemmen. Der Boden schwand unter meinen Füßen und ich fühlte, dass ich in die Tiefe stürzte. Mein Kopf schlug gegen einen Felsen und ich verlor das Bewusstsein.

 

 

 

29. Die Grotte

Als ich wieder zu mir kam, blickte ich in das besorgte Gesicht meines Onkels. Ich lag im Halbdunkel auf einer dicken Decke und mein Onkel hielt meine Hand. Als ich die Augen aufschlug, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. "Er lebt. Mein Junge lebt. Du bist gerettet, Axel." Er presste mich an seine Brust. Ich war gerührt. Dann sah ich Hans. Auch er schien erleichtert, dass ich noch lebte. Er nickte mir zu und sagte: "God dag." Ich lächelte ihm zu. "Wo sind wir?", fragte ich meinen Onkel. Der schüttelte den Kopf. "Nicht jetzt, Axel. Morgen erzähle ich dir alles. Aber ich musste deinen Kopf verbinden und der Verband darf nicht verrutschen. Alles was ich dir heute noch sage ist, dass wir den 9. August haben, elf Uhr abends. Und jetzt musst du schlafen." Ich nickte und fühlte mich so erschöpft, dass ich sofort einschlief. Das Letzte was mir durch den Kopf schoss war, dass ich vier Tage allein gewesen war.

Am nächsten Morgen sah ich, dass wir in einer bezaubernden Grotte lagerten, in der es riesige Tropfsteine gab. Der Boden war mit feinem Sand bedeckt. Obwohl keine Fackel und keine Laterne brannte, herrschte ein angenehmes Halbdunkel, da von draußen ein unerklärlicher Lichtschein durch einen Spalt in die Grotte fiel. Ich hörte das Murmeln von Wasser und manchmal das Pfeifen des Windes. Waren wir wieder an der Erdoberfläche? Träumte ich noch oder hatte mein Gehirn bei dem Sturz mehr gelitten, als ich geglaubt hatte? Hatte mein Onkel die Expedition aufgegeben? Ich grübelte noch als mein Onkel zu mir trat. "Guten Morgen, Axel. Sicher geht es dir wieder besser, oder?" Ich nickte und richtete mich langsam auf. "Das ist schön. Hans hat deine Wunden versorgt. Er hat eine Salbe, für die die Isländer ein Geheimrezept haben. Hier ist dein Frühstück."

Heißhungrig machte ich mich über die Mahlzeit her und erfuhr dabei, dass ich bei meinem Sturz in einem Steinhagel fast direkt in die Arme meines Onkels gestürzt war. "Es ist fast ein Wunder, dass du nicht schlimmer verletzt warst. Aber jetzt wollen wir uns nicht mehr trennen." Ich riss die Augen auf. "Wir wollen uns nicht mehr trennen? Ist denn die reise immer noch nicht zu Ende?" "Wieso sollte die Reise zu Ende sein?", fragte der Professor irritiert. "Sind wir denn nicht an der Erdoberfläche? Ich sehe Tageslicht und höre das Rauschen des Windes und die Brandung des Meeres. Wie erklärst du mir das?" "Das erkläre ich dir jetzt noch gar nicht. Die frische Luft könnte dir noch schaden." "Die frische Luft? Onkel, wovon redest du?" "Nun der Wind ist recht heftig und es ist besser, wenn du dich heute noch ausruhst, bevor wir uns morgen einschiffen." "Wie bitte? Einschiffen? Wovon redest du?"

Ich schaute meinen Onkel verständnislos an. Gab es einen unterirdischen Fluss und See hier? Ich war so neugierig, dass mein Onkel mich nicht zurückhalten konnte. Ich beendete meine Mahlzeit, zog mich rasch an und verließ die Grotte.

 

 

 

30. Das Meer

Meine lichtentwöhnten Augen tränten, als ich aus der Grotte trat. Dann blickte ich mich erstaunt um. "Das Meer.", hauchte ich. "Ja.", lachte mein Onkel hinter mir. "Es ist das Lidenbrock-Meer. Kein Seefahrer kann mir diesen Namen streitig machen. Ist das nicht herrlich?" Ich blickte auf die riesige Wasserfläche. Das Ufer war buchtenreich und von weichem Sand bedeckt. Das Rauschen war sonor, Gischt sprühte zu mir herüber. Es war ein wirkliches Meer über dem ein ganz besonderes Licht lag. Dieses Licht war ein diffuses Flimmern, klar und weiß. Es schien elektrischen Ursprungs zu sein. Es erinnerte mich an ein Nordlicht.

Ich sah mich weiter um. Das Gewölbe über unseren Köpfen schien von großen Wolken ausgefüllt zu sein. Nie hätte ich gedacht, dass Wasser unter so einem starken atmosphärischen Druck verdunsten könnte. Die Dämpfe hatten sich verdichtet und wogten hin her. Sicher konnten sie sich an manchen Tagen in heftigem Regen entladen. Die offensichtlich vorhandene Elektrizität rief auf den Wolken interessante Lichtspiele hervor. Da jegliche Wärme fehlte, konnte es kein Sonnenstrahl sein. Das Licht wirkte traurig und fast melancholisch. Über den Wolken glänzte nicht das Firmament sondern eine Granitdecke, die mich an Theorie eines englischen Kapitäns erinnerte, der die Erde mit einer großen hohlen Kugel verglichen hatte. Sollte er etwa damit Recht haben?

Ich ließ meine Blicke wandern. Wir waren in dieser Höhle gefangen, die so groß war, dass das Wort "Höhle" eigentlich nicht die richtige Bezeichnung war. Wie konnte eine solche Höhle entstanden sein? Ich kannte große Höhlen, wie etwa die Guscharahöhle in Kolumbien oder die Mammuthöhle in Kentucky, aber diese unterirdische Höhle hier übertraf sie alle.

Mein Gesicht bekam langsam wieder Farbe und ich genoss es, nach siebenundvierzig Tagen im Tunnel die freie salzhaltige Luft zu atmen. Ich war froh, dass ich die Grotte verlassen hatte. Mein Onkel kannte das Schauspiel schon und nahm es als selbstverständlich hin.

"Komm, Axel. Wir machen einen kleinen Spaziergang." Mein Onkel nahm mich am Arm und wir wanderten am Ufer dieses Meeres entlang. Der treue Hans-Bach mündete gemächlich ins Meer und ich freute mich, unseren Begleiter wieder gefunden zu haben. Aber sogleich fesselte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Hinter einem Felsvorsprung standen Bäume. Sie waren mittelgroß und glichen mit ihren klaren geometrischen Figuren Sonnenschirmen. Mein Onkel bemerkte meine erstaunten Blicke. "Es sind nur Pilze.", erklärte er mir und er hatte Recht. Ich staunte, denn diese Pilze erreichten eine Höhe von dreißig bis vierzig Fuß. Sie wuchsen zu Tausenden. Unter ihren Dächern herrschte vollkommener schatten, da das Licht nicht hindurch dringen konnte.

Wir gingen weiter und sahen noch andere erstaunliche Phänomene: Bäume mit farblosem Laub. Hundert Fuß hohe Bärlappe, Farnkräuter, so hoch wie Tannen, riesige Siegelbäume und Lepidodendren mit langen rauhaarigen Blättern. Wir schienen in einem Gewächshaus zu sein, das jene vorsintflutlichen Pflanzen aufbewahrte, die später von klugen Gelehrten rekonstruierten wurden.

Aber nicht nur Pflanzen ließen sich hier entdecken. Direkt zu meinen Füßen fand ich einen Unterkiefer eines Mastodons und einen Beckenknochen eines Megatheriums. "Wie kann es sein, dass es hier solche Viefüßler gegeben hat? Tierisches Leben hat es doch erst in den sekundären Perioden auf der Erde gegeben." "Das lässt sich leicht erklären, Axel. Wenn die Erde zu einer gewissen Zeit nur aus einer elastischen Rinde bestand, die sich nach dem Gesetz der Anziehung auf und ab bewegte, so ist es doch möglich, dass sich der Boden hier und da gesenkt hat und ein Teil des Terrains plötzlich in sich öffnende Abgründe absackte."

Ängstlich ließ ich meinen Blick über den Horizont schweifen. So wie Onkel Lidenbrock es erklärt hatte, könnte es gewesen sein. Streiften vielleicht die Nachfahren dieser Monstren hier immer noch frei umher?

So lange ich auch wartete, es erschien kein lebendes Wesen an den verlassenen Stränden. Wir setzten uns auf einen Felsvorsprung und sahen über das Meer. Ein bisschen weiter hinten in der Bucht erblickte ich einen kleinen natürlichen Hafen, in dem gut ein Zweimaster und zwei oder drei Schoner hätten vertäut werden können. Aber das war unmöglich. Wir waren die einzigen lebenden Wesen hier unten.

Der Wind ließ nach und mich beschäftigten viele Fragen. Wo endete dieses Meer? Wohin führte es? Würden wir das andere Ufer erreichen können? Mein Onkel war sich sicher und ich fürchtete und wünschte es mir zugleich.

Wir saßen ungefähr eine Stunde noch am Meer, dann gingen wir in die Grotte zurück, jeder tief in seine eigenen Gedanken verstrickt.

 

 

 

31. Das Floß

Am nächsten Morgen ging es mir deutlich besser. Ich ging hinunter zum Meer, um ein Bad zu nehmen. Danach war ich hungrig und aß mit Appetit das Frühstück, das Hans bereitet hatte. Mein Onkel trieb uns zur Eile. "Die Flut kommt bald. Wir müssen uns beeilen!" "Die Flut?" Ich glaubte, mich verhört zu haben. "Der Einfluss von Mond und Sonne macht sich sogar hier unten bemerkbar?" Mein Onkel nickte. "Warum nicht? Alle Körper sind dem Gesetz der Anziehung unterworfen. Auch diese Wassermassen können dem allgemein gültigen Gesetz nicht entgehen. Trotz des atmosphärischen Drucks, der hier auf die Wassermassen einwirkt, werden wir sie steigen sehen wie den Atlantischen Ozean."

Wir hinauf zum Strand. Tatsächlich! Die Wellen fraßen sich immer weiter in den Sandstrand hinein. Die Flut kam! Ich traute meinen Augen kaum. Nie hätte ich hier unten ein wirkliches Meer mit Gezeiten, Winden und Stürmen vermutet. Stimmte Davys Theorie? War der Erdkern also nicht heiß? "Onkel, gibt es hier Fische?" Der Professor schüttelte den Kopf. "Bisher habe ich keine gesehen. Aber wir könnten ja versuchen, zu angeln." Ich musste über diese Vorstellung ein bisschen schmunzeln. Dann fiel mir etwas anderes ein. "Wo sind wir eigentlich?" "Wir müssten dreihundertfünzig Meilen südöstlich von Island sein."

Das war weit. Hatte mein Onkel sich verrechnet? Er wies diesen Vorwurf weit von sich und berichtete von einer Beobachtung, die er am Kompass gemacht. Der Kompass zeigte immer noch nach Südosten, mit einer westlichen Deklination von 19°42'. Bei der Inklination hatte er beobachtet, dass die Kompassnadel sich nicht zum Pol neigte, sondern sich hob. Das war in der Tat sehr seltsam. Dies würde nämlich bedeuten, dass sich der magnetische Anziehungspunkt zwischen der Erdoberfläche und der Stelle, an der wir momentan standen, befand.

"Wir sind 35 Meilen tief.", sagte der Professor. "Und wir müssen über dieses Meer. Wenn wir unsere Reise fortsetzen wollen, gibt es keinen anderen Weg. Vielleicht finden wir auf dem jenseitigen Ufer einen Weg, der weiter ins Erdinnere führt. Mach dich also bereit, Axel. Wir werden schon morgen in See stechen." "Lieber Onkel, wie sollen wir denn in See stechen? Wir haben doch gar kein Schiff!" "Das brauchen wir auch nicht, Axel. Ein gutes, solides Floß reicht für unsere Zwecke vollkommen." Fast wäre ich in lautes Lachen ausgebrochen. "Ein Floß ist genauso schwer zu bauen, wie ein Schiff. Wie sollen wir denn hier...." Mein Onkel unterbrach mich mit einer Handbewegung. "Hör nur, Axel. Hans ist schon lange bei der Arbeit." Ich war sehr erstaunt. "Wo habt ihr denn das Holz her?" "Komm mit, dann zeige ich dir alles."

Wir gingen eine Viertelstunde bis wir an einen kleinen natürlichen Hafen kamen. Hans war bei der Arbeit. Ein halbfertiges Floß lag auf dem Sand, die Balken waren aus besonderem Holz. Bohlen, Krummhölzer und Spanten lagen in großer Menge am Boden. "Was ist das Holz?", rief ich. "Fichten-, Tannen-, Birkenholz und andere Holzarten, die unter der Einwirkung des Meerwassers mineralisiert worden sind. Es gibt Hölzer, die ganz zu Anthrazit geworden sind, aber es gibt auch andere, die noch nicht völlig versteinert sind. Sie schwimmen. Sieh nur." Mit diesen Worten warf er eines der Holzstücke ins Wasser. Es tauchte unter, dann erschien es wieder auf der Oberfläche und schwamm. "Bist du nun überzeugt?", fragte mein Onkel. "Ich bin überzeugt davon, dass es unglaublich ist.", antwortete ich und starrte immer noch auf das Holzstück im Wasser.

Am nächsten Abend war das Floß fertig. Es war gut zehn Fuß lang und fünf Fuß breit. Die versteinerten Hölzer -Surtarbrandurbalken - waren mit festen Stricken zusammengebunden und bildeten eine zuverlässig aussehende Fläche. Als wir das Floß zu Wasser ließen, schaukelte es sanft auf den Wellen des Lidenbrockmeers.

 

 

 

32. Fische

Am 13. August bestiegen wir unser neues Beförderungsmittel. Wir hatten sogar eine Takelage und unsere Decken mussten als Segel dienen. Um sechs Uhr schifften wir uns ein. An Bord hatten wir unser Gepäck, unsere Lebensmittel und Waffen, die Instrumente und einen hoffentlich ausreichenden Süßwasservorrat. Hans hatte ein Steuerruder angebracht, so dass wir das Floß lenken konnten. Ich löste die Taue und wir stellten das Segel. Das Floß verließ den Hafen, dem mein Onkel den Namen "Axel-Hafen" geben wollte. Ich hatte ihm aber widersprochen, weil ich einen anderen Einfall hatte. Und so hieß der Hafen, den wir nun verließen "Grete-Hafen".

Der Wind wehte aus Nordost und wir nahmen schnelle Fahrt auf. "Wenn wir in diesem Tempo weiter segeln, dann legen wir in vierundzwanzig Stunden mindestens dreißig Meilen zurück. Sicher sehen wir dann bald das andere Ufer." Ich schwieg und schaute auf das Meer vor uns. Das nördlich Ufer entschwand unseren Blicken und das Meer dehnte sich unendlich weit aus. Bald sah man vom Land nichts mehr.

Riesige Algen sahen wir gegen Mittag auf dem Wasser treiben, die drei- bis viertausend Fuß lang waren. Welche Naturkraft hatte diese Pflanzen hervorgebracht? Der Abend kam, aber es wurde nicht dunkel. Nach dem Abendbrot streckte ich mich auf dem Floß aus und schlief bald ein.

Seit wir den "Grete-Hafen" verlassen hatten, führte ich das "Bordbuch". Hier hatte ich die kleinste Beobachtung zu notieren und interessante Begebenheiten festzuhalten. Auch Richtung und Geschwindigkeit des Windes verzeichnete ich, ebenso wie die zurückgelegte Strecke und die Temperatur. Ich geben hier ein paar Eindrücke wieder, um ein genaueres Bild von der Fahrt zu vermitteln.

Freitag, 14. August: Der Wind kommt von Nordost und unser Floß fährt einen geraden Kurs. Am Horizont ist nichts zu sehen, obwohl die Lichtstärke unverändert ist. Eigentlich ist das Wetter schön mit hohen Wolken und einer Temperatur von 30 Grad Celsius.

Hans wirft gegen Mittag eine Angel aus. Zwei Stunden starrt er mit unbeweglicher Miene ins Wasser. Dann plötzlich zerrt etwas an der Schnur. Hans zieht sie heraus und hat einen Fisch an der Angel, der aussieht wie ein Stör. Der Professor untersucht den Fisch. "Das ist kein Stör.", sagt er und schüttelt unwillig den Kopf. Der Fisch hat einen platten runden Kopf und sein Körper ist zur Hälfte mit einem knochigen Schild bedeckt. Sein Maul ist zahnlos, die Brustflossen sind gut entwickelt, aber die Schwanzflosse fehlt. "Dieser Fisch gehört einer Familie an, die seit Jahrhunderten ausgestorben ist. Wir haben hier sozusagen einen Bewohner der Urzeitmeere vor uns. Er gehört zu der Art der Ganoiden, Familie der Cephalaspiden und ich vermute zur Gattung der Pterichthys. Und sieh nur, er zeigt eine Eigenart, die Fische zeigen, die unterirdische Gewässer bewohnen. Er ist blind. Oder genauer formuliert, er hat überhaupt keine Augen."

Wir werfen die Angel wieder aus und stellen fest, dass die Gewässer sehr fischreich sind. In wenigen Stunden fangen wir eine Menge Fische und alle sind augenlos. Außer den Pterichthys fangen wir noch Dipteriden. Deren Gattung kennt auch mein Onkel nicht, aber sie bieten uns eine willkommene Abwechslung auf unserem Speisezettel.

In mir rumort ein Gedanke, der mich das Fernrohr in die Hand nehmen lässt. Unruhig lasse ich meine Augen über den Horizont wandern. Werden wir etwa auf Saurier treffen? Wird es vielleicht Vögel geben, die uns auf unserem Floß angreifen könnten? Die Fische würden genug Nahrung für sie liefern. Aber so genau ich Horizont und Luft beobachte, ich kann kein weiteres Lebenszeichen entdecken. Ganz in meine Phantasien versunken fühle ich plötzlich eine starke Hand, die mich packt. "Vorsichtig Axel. Du stürzt ins Meer." Besorgt schaut mein Onkel mich an. "Ist alles in Ordnung?" Ich brauche ein bisschen Zeit, um in die Wirklichkeit zurück zu finden. "Ja.", nicke ich schließlich. "Ich habe nur geträumt. Ist alles in Ordnung." Mein Onkel ist erleichtert. "Natürlich ist alles in Ordnung. Das Meer ist ruhig, der Wind ist gut und wir machen prächtig Fahrt. Wenn meine Schätzung stimmt, werden wir bald landen." Ich greife wieder zu meinem Fernrohr. Aber am Horizont kann ich nichts entdecken.

 

 

 

33. Der Kampf

Samstag, 15. August: Das Meer ist ruhig. Mein Onkel hat schlechte Laune, weil wir immer noch kein Land sehen. Er ist ungeduldig. Zweifel plagen ihn, ich weiß es genau. Wir müssten nach seinen Schätzungen das Meer längst überquert haben. Aber sind wir noch auf den Spuren Saknussemms? Ist auch er über dieses Meer gesegelt? Wir wissen es nicht. Der Professor ist einsilbig. Hans verlangt seine drei Reichstaler und sonst geschieht nichts.

Sonntag, 16. August: Es gibt's nichts Neues. Wetter, Wind, Licht, Temperatur, alles ist gleich. Das Meer ist unendlich. Wir versuchen die Tiefe zu loten und lassen eine Hacke an einem Strick zweihundert Klafter tief hinab. Kein Meeresgrund. Aber als wir die hacke wieder hinauf ziehen, entdeckt Hans etwas. Auf der Hacke befinden sich Druckstellen, die deutlich zu sehen sind. Hans sagt nur ein Wort: "Tänder." Bestürzt blicke ich auf die Hacke. Wenn das Zahnspuren sind, dann müssen die Kiefer, die sich um die Hacke geschlossen haben, ungeheuer stark sein. Was für ein Ungeheuer lauert da in der Tiefe auf uns?

Montag, 17. August: Der Gedanke an ein vorsintflutliches Ungeheuer lässt mich kaum zur Ruhe kommen. Ich versuche mich an die Instinkte dieser Tiere zu erinnern. Sie folgten den Weichtieren, den Schalentieren und den Fischen und erschienen vor den Säugetieren auf der Erde. Sie beherrschten die jurassischen Meere und waren mit allem versehen, was sie brauchten. Ihre gigantischen Körper waren mit riesigen Kräften ausgestattet. Die uns bekannten Alligatoren, Saurier oder Krokodile sind gegen sie Zwerge. Ich muss gestehen, dass ich Angst habe. Werden wir ein solches Ungeheuer zu Gesicht bekommen? Die Zahnabdrücke auf der Hacke sind konisch, wie bei einem Krokodil.

Der Professor hat offensichtlich ähnliche Gedanken. Seine Blicke schweifen über das Meer. Ich ärgere mich, dass wir versucht haben, die Tiefe auszuloten. Damit haben wir das Ungeheuer in seinem Schlupfwinkel gestört. Der Professor und ich sehen prüfend unsere Waffen an. Werden sie uns schützen, wenn wir angegriffen werden? Die Oberfläche des Meeres wird unruhig. Ich bin ganz sicher, dass Gefahr im Anzug ist.

Dienstag, 18. August: Es wird Nacht, auch wenn es auf diesem Meer nie dunkel ist. Wir sind erschöpft und unsere Augen fallen uns zu. Der treue Hans steht am Steuer. Ich schlafe ein. Zwei Stunden später weckt mich ein furchtbarer Stoß. Das Floß wird emporgehoben und zwanzig Klafter weit geschleudert. Sind wir auf ein Riff aufgelaufen? Hans deutet mit seinem Finger auf eine schwärzliche Masse, die ungefähr zweihundert Klafter entfernt von uns auf- und untertaucht.

"Ein Riesenwal!", rufe ich entsetzt. Der Professor deutet bleich auf die andere Seite des Floßes. "Dort ist eine riesige Meereidechse. Und schau dorthin! Dort ist ein scheußliches Krokodil. Seht nur seinen Kiefer und die messerscharfen Zähne."

Wir sind wie gelähmt bei dem Anblick der Meeresungeheuer. Was sollen wir nur tun? Sie sind von übernatürlicher Größe. Jedes von ihnen kann unser Floß mit nur einem Biss zertrümmern. Hans versucht das Floß zu wenden, da entdecken wir noch andere Feinde. Eine vierzig Fuß breite Schildkröte und eine dreißig Fuß lange Schlange peitschen durch das Wasser. Jede Flucht ist unmöglich. Ich umklammere meinen Karabiner. Wird er den Schuppenpanzern dieser Tiere überhaupt etwas anhaben können?

Die Ungeheuer nähern sich uns und wir sind stumm vor Entsetzen. Im Moment können wir nur das Krokodil und die Schlange sehen. Beide schwimmen an unserem Floß vorüber, offensichtlich ohne uns zu bemerken. Ungefähr hundert Klafter entfernt beginnt der Kampf. Die beiden Wesen stürzen sich aufeinander. Sie ringen miteinander. Das Wasser schäumt. Die anderen Ungeheuer beteiligen sich jetzt an dem Kampf. Eidechse, Schildkröte, Schlange, Wal. Kaum kann ich den Kampf verfolgen. Hans steht ganz still und beobachtet den Kampf. "Tva!", sagt er. Ungläubig schaue ich ihn an. Nur zwei Tiere sollen hier kämpfen? Der Professor greift nach dem Fernglas. "Hans hat Recht. Es sind nur zwei. Das eine Monstrum hat das Maul des Wals, den Kopf der Eidechse und die Zähne des Krokodils. Es ist ein Ichthyosaurus. Das andere ist ein Plesiosaurus, mit dem Köper einer Schlange unter einem Schildkrötenpanzer."

In den aufgewühlten Fluten kämpfen zwei Reptilien der Urzeit miteinander. Das blutige Auge des Ichthyosaurus ist so groß wie ein Menschenkopf. Sein Körper ist nicht weniger als hundert Fuß lang. Der Plesiosaurus hat Rudertatzen und einen Hals, der mindestens dreißig Fuß aus dem Wasser ragt. Die Wut der beiden Tiere ist unbeschreiblich. Die Stunden vergehen, aber der Kampf dauert an. Mal wogt er nahe an unser Floß heran, mal entfernt sich das Kampfgeschehen. Schließlich ist ein schrilles Pfeifen zu hören. Der Plesiosaurus ist tödlich verwundet und windet sich im Todeskampf. Sein Schwanenhals peitscht das Wasser auf und nimmt uns so die Sicht. Als es vorbei ist, liegt der lange Schlangenleib wie eine leblose masse auf dem Wasser, der gewaltige Panzer ist verschwunden. Hat sich der Ichthyosaurus zurückgezogen oder wird er wiederkehren, um uns zu töten?

 

 

 

34. Die Insel

Mittwoch, 19. August: Der Wind frischt auf und wir können uns rasch vom Kampfplatz entfernen. Hans steht am Steuer und der Professor schaut wieder ungeduldig über das Meer. Die Fahrt ist wieder eintönig und ich scheine der Einzige zu sein, der darüber froh ist.

Donnerstag, 20. August: Die Temperatur ist unverändert, der Wind weht ungleichmäßig aus Nordnordost. Die Fahrt verläuft erst ruhig. Dann hören wir plötzlich gegen Mittag ein merkwürdiges Geräusch, das wie ein Heulen klingt. "Vielleicht ein Felsen an dem sich das Wasser bricht. Oder eine kleine Insel."

Hans klettert auf den Mast, kann aber nichts entdecken. Wir halten alle gespannt Ausschau aber das Meer ist spiegelglatt. Die Stunden vergehen und das Heulen ist immer noch zu hören. Kommt es von einem Wasserfall? Mein Onkel schüttelt den Kopf. Kein Wasserfall! Ich bin von seiner Antwort nicht beruhigt, denn ich weiß, dass ihm so ein fast vertikaler Abstieg gefallen würde, mir aber nicht!

Wir fahren weiter und das Heulen steigert sich zu einem Tosen. Was ist das? Kommt es aus dem Himmel oder vom Meer?

In der Atmosphäre hängen Dunstwolken, der Himmel ist ruhig. Das Tosen scheint also nicht von dort zu kommen. Aber auch am Horizont ist nichts Beunruhigendes zu entdecken. Sollte es wirklich einen Wasserfall geben, dann müsste die Strömung lebhafter werden, aber es gibt keine Strömung. Eine Flasche, die ich ins Meer werfe, wird nicht fortgespült.

Es ist vier Uhr, als Hans wieder auf den Mast klettert. Er starrt auf das Meer hinaus und fixiert einen Punkt. "Er hat etwas gesehen.", sagt der Professor. Hans steigt vom Mast herunter. "Da nere." Er streckt seinen Arm nach Süden aus. Mein Onkel nimmt das Fernglas. "Ich sehe eine riesige Wassersäule, die aus den Fluten aufsteigt." "Ein weiteres Meerungeheuer?", frage ich bang. "Warten wir es ab.", sagt der Professor.

Hans steht am Steuer. Wenn wirklich ein Tier diese Wassersäule ausstößt, muss es gigantisch groß sein. Wir sind ungefähr noch zwölf Meilen entfernt und können doch die Wassersäule sehen. Eine Flucht wäre vielleicht das Sicherste. Ein Blick auf meinen Onkel zeigt mir, dass es nicht um Sicherheit geht. Wir sind nicht hierher gekommen, um vorsichtig zu sein. Hans hält genau auf die Wassersäule zu. Je näher wir kommen, desto höher wird die Wassersäule. Welches Tier kann permanent eine so große Menge Wasser ausstoßen?

Abends um acht Uhr sind wir vielleicht noch zwei Meilen entfernt. Wir können einen enormen, schwärzlichen Körper sehen, der wie eine Insel im Meer liegt. Er scheint länger als tausend Klafter zu sein, oder führt uns unsere Angst an der Nase herum? Ist das ein Wal? Er liegt da, als schliefe er. Unbeweglich. Die Wellen umspülen ihn und die fünfhundert Fuß hohe Wassersäule umtost ihn. Ich habe Angst. Wieso halten wir genau auf diese Bestie zu? Plötzlich steht Hans auf. "Holme." Mein Onkel starrt ihn an. "Bist du sicher? Und das Wasser?" "Geysir." Hans hat gesprochen. Wir haben keinen Wal sondern eine Insel mit einem Geysir vor uns. Zunächst kann ich nicht glauben, mich so getäuscht zu haben. Ich kann doch eine Insel von einem Wal unterscheiden. Aber je näher wir kommen desto sicher sind wir. Wir haben eine Insel entdeckt.

Das Anlegemanöver ist schwierig, da wir der Wassersäule ausweichen müssen. Hans manövriert uns geschickt ans Ufer. Ich springe vom Floß und bin froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Wir wandern über den mit Granit vermischten Tuffstein. Der Boden ist glühend heiß und das Wasser, das aus dem Geysir aufsteigt hat eine Temperatur von hundertdreiundsechzig Grad. Mein Onkel ist starrsinnig, als ich ihn darauf hinweise, dass dies seiner Theorie widerspricht. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir bald in Regionen vorstoßen werden, in denen sich die Temperatur nicht mehr mit einem Thermometer messen lassen kann. Mein Onkel gibt sich kühl. "Wir werden sehen." Das ist sein einziger Kommentar. Er tauft die Insel auf den Namen seines Neffen. Hans hat das Floß überholt. Bevor wir wieder in See stechen, notiere ich einige Zahlen im Bordbuch. Seit unserer Abfahrt aus dem Gretehafen haben wir zweihundertsiebzig Meilen zurückgelegt. Wir sind also sechshundertzwanzig Meilen von Island entfernt. Wir befinden uns unter England.

 

 

 

35. Die Feuerkugel

Freitag, 21. August: Bei frischem Wind haben wir uns von der Insel Axel entfernt und den tosenden Geysir hinter uns gelassen. Ich bin sicher, dass sich das Wetter bald ändern wird, wenn man hier unten überhaupt von Wetter sprechen darf. Schwere Feuchtigkeit hängt in der Atmosphäre, die elektrisch aufgeladen scheint. Die Wolken hängen tief und alles deutet auf ein drohendes Unwetter hin.

Um zehn Uhr flaut der Wind ab, als wolle er Atem holen. Unsere Haare sträuben sich in der elektrischen Atmosphäre. Ich bin sicher, dass wir einen Schlag erhalten würden, wenn wir uns jetzt berührten. Der Professor ist sehr schlecht gelaunt, da sich das Meer immer noch endlos vor unseren Augen dehnt. "Sollen wir nicht den Mast fällen, bevor der Sturm über uns hereinbricht?" Ich sehe meinen Onkel fragend an. Der schüttelt den Kopf. "Nein! Ich muss endlich ans andere Ufer. Koste es, was es wolle." Mir wird bang, als ich am Mast ein leichtes Sankt-Elms-Feuer entdecke, aber ich schweige.

Plötzlich löst sich der im Süden zusammengeballte Nebel in Wasser auf und Luft strömt nach. Es entsteht ein Orkan und es wird dunkel. Kaum, dass ich meine Notizen zu Papier bringen kann.

Unser Floß tanzt auf den Wellen und mein Onkel sieht dem Wüten der Elemente mit offensichtlicher Euphorie zu. Er liegt an ein Tau geklammert auf dem Floß und starrt in die Wellen. Hans steht am Steuer. Seine Haare scheinen Funken zu sprühen. Der Wind fährt in unser Segel und das Floß fliegt nahezu dahin. Mein Onkel genießt die Geschwindigkeit und weigert sich standhaft, das Segel zu reffen.

Es beginnt zu regnen. Der Himmel reißt auf und Blitze fahren auf uns hernieder. Geblendet von dem grellen Licht macht mich der nachfolgende Donner fast taub. Ich klammere mich an den Mast, der unter den Stößen des Orkans zu brechen droht.

An dieser Stelle werden meine Notizen leider unvollständig.

Sonntag, 23. August: Wir haben eine furchtbare Nacht hinter uns gebracht. Das Unwetter tobt immer noch und wir wissen nicht mehr, wo wir sind. Die Blitze blenden uns. Wir sind von tosendem Sturm umgeben. Unsere Ohren bluten und man kein Wort miteinander wechseln. Selbst wenn wir uns in die Ohren schreien, kann man kein Wort verstehen. Stürzt vielleicht das Gewölbe ein? Wo werden wir landen? Ich kann den Professor sehen, der am Ende des Floßes liegt. Es wird wärmer. Die Temperatur beträgt... Leider ist die Zahl verwischt.

Montag, 24. August: Ich bin sicher, dass wir hier sterben werden. Immer noch tobt der Sturm und warum sollte sich der Zustand dieser Atmosphäre je wieder ändern? Ich bin am Ende meiner Kräfte und dem Professor geht es ebenso. Nur Hans steht aufrecht wie immer. Seit wir die Insel Axel verlassen haben, haben wir mehr als zweihundert Meilen zurückgelegt und fahren unverändert in südöstlicher Richtung.

Da sich gegen Mittag der Sturm noch steigert, binden wir unsere Ladung und uns selbst am Floß fest. Wir können nicht miteinander sprechen, so laut tost der Orkan über uns. Ich bedeute meinem Onkel, endlich das Segel zu reffen. Völlig erschöpft gibt er das Zeichen zum Einverständnis. Aber bevor ich den Mast erreicht habe, schlägt plötzlich eine Feuerkugel auf das Floß auf. Sie reißt Segel und Mast fort. Wir sind entsetzt. Die Kugel ist so groß wie eine Kanonkugel. Halb weiß, halb azurblau rollt sie über unser Floß. Wird sie etwa unsere Pulvervorräte in Brand setzen? Die Kugel rollt weiter und Salpetergeruch erfüllt sie Luft. Man erstickt schier. Die Kugel magnetisiert alles Eisen an Bord und ich kann meinen Fuß nicht von einer ins Holz eingelassenen Eisenplatte zurückziehen. Die magnetischen Nägel halten den Fuß wie angeklebt auf der Platte fest.

Mit großer Anstrengung bewege ich meinen Fuß als die Kugel platzt. Ein grelles Licht blendet mich, wir sind wie mit Feuer übergossen. Dann versinkt das Floß um mich herum. Wo ist mein Onkel? Wo ist Hans? Wie soll es weitergehen?

Dienstag, 25. August: Vorsichtig öffne ich die Augen. Wo bin ich? Da, die Blitze zucken immer noch vom Himmel. Wo sind wir? Sind wir unter Europa hindurch gefahren? Was ist das für ein Lärm? Brechen da die Wellen an einer Felswand? Was wird mit uns geschehen?

 

 

 

36. Die Enttäuschung

An dieser Stelle endet mein "Bordbuch" und ich werde den Bericht weiterführen, wie ich ihn begann.

Unser Floß zerschellte an den Felsen und nur Hans hatten wir unser Leben zu verdanken. Er rettete uns mit seinem starken Arm aus den Fluten. Er trug an Land, wo wir im glühenden Sand zitternd und entkräftet liegen blieben. Hans gönnte sich aber keine Pause, kehrte um und rettete von der Ausrüstung, was noch zu retten war. Es regnete in Strömen und wir waren völlig erschöpft. Unser tapferer Isländer bereitete und eine Mahlzeit zu, die ich nicht essen konnte. Nach drei durchwachten Nächten sanken wir schließlich alle in einen tiefen Schlaf.

Als ich erwachte, was das Wetter wieder gut. Der Sturm hatte sich beruhigt und nichts deutete mehr auf das schreckliche Unwetter hin, dass wir durchlitten hatten. Der Professor begrüßte mich so fröhlich, dass ich fast das Gefühl hatte, zu Hause in der Königstraße zu sein. Ach, wie gerne wäre ich jetzt dort gewesen, mit meiner lieben Grete in der Nähe. Ich streckte meine Glieder und sah meinen Onkel an. "Schau nur, Axel, wir haben das Meer hinter uns. Nun werden wir auf dem Landwege weiterreisen und wirklich in das Erdinnere eindringen." "Onkel, was ist mit dem Rückweg?" "Nun Axel, wenn wir zum Mittelpunkt vorgedrungen sind, werden wir entweder einen neuen Weg finden, um an die Oberfläche zurück zu kehren oder aber auf dem alten Weg zurückgehen. Hans hat einen großen Teil der Ladung retten können, so dass wir für den Rückweg genug haben."

Hans saß am Ufer. Er hatte unsere Ausrüstung so gut er konnte an Land geholt. Unsere Waffen hatten wir verloren, aber was hätten die schon gegen die Gefahren hier unten ausrichten können? Unser Pulvervorrat war allerdings unversehrt, ebenso wie unsere Instrumente, Werkzeuge, Proviant und Geräte fast vollständig vor uns lagen. Braver Hans. Mein Onkel drückte ihm dankbar die Hand.

"Von dem Proviant können wir noch vier Monate lang leben.", triumphierte mein Onkel. "Wir haben genug Zwieback, Fleisch, Genever und Fisch um hin und zurück zu kommen. Wir müssen nur unseren Wasservorrat auffüllen. Dazu werden wir Regenwasser verwenden. Und Hans wird das Floß reparieren, obwohl ich kaum glaube, dass wir es noch einmal brauchen werden. Ich glaube nicht, dass wir auf dem gleichen Weg zurückkehren. Und jetzt lass uns essen." War mein Onkel verrückt geworden? Aber wie ich es mir zur Gewohnheit gemacht hatte, schwieg ich und folgte ihm auf ein hohes Kap. Hier hatte Hans gekocht. Es gab Trockenfleisch, Zweiback und Tee und selten hat mir ein Essen besser geschmeckt als diese Mahlzeit.

Während des Essens unterhielten wir uns darüber, wo wir uns nun befanden. Wir führten unsere Beobachtungen zusammen und zählten die Tage, die wir auf See gewesen waren. Wir schätzen die Windgeschwindigkeit und die Geschwindigkeit, mit der sich das Floß vorwärts bewegt hatte und kamen zu dem Schluss, dass das Lidenbrock-Meer von einem Ufer zum anderen etwa sechshundert Meilen breit sein müsse. Damit war es fast so groß wie das Mittelmeer. Wenn unsere Berechnungen stimmten, mussten wir ungefähr neunhundert Meilen von Reykjavik entfernt sein und uns unter dem eben erwähnten Mittelmeer befinden.

"Wenn wir nicht von unserer Richtung abgekommen sind, ist das ein hübsches Stück Weg.", sagte mein Onkel und griff nach dem Kompass, um unsere Berechnungen zu überprüfen. Verblüfft schaute er das Instrument an, schüttelte es und prüfte erneut die Himmelsrichtungen. "Das kann nicht sein, Axel.", stammelte er. "Schau du dir den Kompass an." Ich nahm den Kompass zur Hand und blickte auf die Nadel, die unter dem magnetischen Einfluss stehen blieb. Ich war ebenso verblüfft wie mein Onkel. Wenn der Kompass in Ordnung war, hatte der Wind während des Sturms von uns unbemerkt seine Richtung geändert. Wo wir Norden vermutet hatten, war Süden. Das bedeutete, dass wir wieder an jener Küste gelandet waren, von der wir geglaubt hatten, sie hinter uns zu lassen!

 

 

 

37. Der Friedhof

Mein Onkel geriet bei dieser Erkenntnis völlig aus der Fassung. Wir hatten uns nicht vorwärts bewegt und waren unserem Ziel nicht näher gekommen! Völlig umsonst hatten wir all die Strapazen auf dem Wasser ausgehalten. Mein Onkel war außer sich vor Wut, aber wenn ich geglaubt hatte, dass er nun sein wahnsinniges Vorhaben aufgegeben hätte, so hatte ich mich gründlich geirrt.

"Ich werde nicht aufgeben. Ich werde nicht weichen und wir werden sehen, wer der Sieger bleibt." Wie der wilde Ajax stand er auf seinem Felsen und schien die Götter herauszufordern. Ich plädierte mit guten Argumenten für eine Umkehr. Zehn Minuten redete ich und mein Onkel hörte mir aufmerksam zu. Als ich geendet hatte, kam seine Antwort: "Aufs Floß!"

Hans hatte das Floß notdürftig repariert und hisste das Segel. Ich konnte nicht glauben, was hier geschah! Wir waren denkbar schlecht gerüstet und ich hatte wenig Lust, wider in einen Sturm zu geraten. Aber was sollte ich tun? Allein zurückbleiben? Ich hatte keine Wahl. Ich wollte gerade meinen Fuß auf das Floß setzen, als mein Onkel mich zurückhielt. "Wir fahren erst morgen. Wenn ich all diese Rückschläge schon ertragen muss, dann will ich mir diese Küste auch noch einmal genau ansehen."

Hans blieb an Bord, während wir aufbrachen, um die Küste zu erkunden. Der Boden war mit Geröll bedeckt und ich sah riesige Schildkrötenpanzer, die einen Durchmesser von fast fünfzehn Fuß hatten. Auch hier musste einst das Meer gewesen sein, dessen unterirdische Existenz ich bis zu einem gewissen Grad erklären konnte. Wahrscheinlich kam es vom Ozean her, vielleicht durch eine Spalte, die jetzt verstopft war. Vielleicht hatte dieses Wasser ja gegen das unterirdische Feuer gekämpft und war dadurch teilweise verdunstet. Könnte das die Erklärung für die über unserem Kopf hängenden Wolken und die Bildung der Elektrizität sein?

Wir hatten ungefähr eine Meile zurückgelegt, als sich der Boden plötzlich veränderte. Vertiefungen und Erhebungen schienen auf eine unterirdische Bodenverschiebung hin zu weisen. Wir kamen nur langsam vorwärts und schließlich tat sich vor unseren Augen ein weites Feld auf, das mit Knochen übersät war. Wie ein riesiger Friedhof dehnte sich die Ebene aus.

In weiter Ferne sah man große Trümmerhaufen in den Himmel ragen und auf einer Fläche von vielleicht drei Quadratmeilen tat sich vor uns die ganze Geschichte des Tierlebens jener Zeit auf. Der Professor starrte diesen Platz mit funkelnden Augen und aufgerissenem Mund an. Eine unschätzbare Sammlung von Leptotherien, Mastodonten, Protopitheken und wie die urzeitlichen Ungeheuer alle hießen lag direkt vor seine Nase. Plötzlich bückte sich der Professor und hob etwas auf. "Sieh nur, Axel. Ein Menschenschädel!" Ich war sofort zur Stelle und starrte den Menschenkopf verblüfft an. "Ach, Quatrefages. Ach Milne-Edwards. Warum seid ihr nicht hier, wo ich bin, Otto Lidenbrock?"

 

 

 

38. Menschen

Um den Ausruf meines Onkels zu verstehen, muss man wissen, dass am 28. März 1863 ein menschlicher Kiefer bei Erdarbeiten gefunden worden war. Dieser Kieferknochen hatte 14 Fuß unter der Erdoberfläche gelegen und daneben hatte man Steinhacken und behauenen Feuerstein entdeckt. Diese Entdeckung erregte großes Aufsehen und einige Gelehrte, darunter auch Quatrefages, Milne-Edwards bewiesen die Echtheit des fossilen Fundes. Auch mein Onkel glaubte daran und so schien die Echtheit eines menschlichen Fossils aus dem Quartär als unwiderlegbar bewiesen.

Natürlich gab es auch Gegner dieser Theorie, wie Elie de Beaumont. Dieser behauptete, das Gebiet, in dem der Kieferknochen gefunden worden war, gehöre nicht dem Diluvium sondern einer neueren Schicht an. Auch Cuvier bestritt, dass Menschen schon zur Zeit der Tiere des Quartärs gelebt hatten. Allerdings fand Beaumont nur wenig Anhänger.

Wir wussten natürlich nicht, dass die Forschung seit unserer Abreise große Fortschritte gemacht hatte. An verschiedenen Orten wurden Ausgrabungen gemacht und die Existenz der Quartärmenschen von Tag zu Tag wahrscheinlicher und nicht nur das: weitere Ausgrabungen in Jungtertiärboden ließen vermuten, dass der Mensch noch älter war. Er war älter als das Mastodon und Zeitgenosse des ‚elephas meridionalis'. So viel zu unserem Wissen.

Nachdem wir den Menschenschädel eingehend betrachtet hatten, gingen wir weiter. Nur wenige Schritte später stießen wir auf einen vollständig erhaltenen Menschenkörper. Die haut spannte sich wie Pergament über den Knochen. Haare und Zähne waren gut erhalten, die Nägel an Fingern und Zehen ungewöhnlich lang.

Wir blieben verblüfft stehen und betrachteten das Wesen aus einem so fernen Zeitalter. "Schau nur Axel, er ist nicht ganz sechs Fuß lang. Er gehört unbestreitbar der kaukasischen Rasse an. Es ist die weiße Rasse, unsere Rasse. Er zeigt nicht die Merkmale der Prognathie, sein Kiefer springt nicht vor. Ich bin sicher, dass wir hier einen fossilen Menschen vor uns haben, einen Zeitgenossen des Mastodons. Ich kann leider nicht sagen, wie er hierher gekommen ist. Waren es starke Erschütterungen der Erdrinde? Taten sich durch die Erkaltung der Erde Risse auf, durch die ein Teil der oberen Schichten hinab stürzte? Ich weiß es nicht. Ich sehe nur diesen Menschen, umgeben von den Dingen, die seiner Hand entstammen, Hacken und behauene Feuersteine, die aus der Steinzeit stammen. An der Echtheit dieses Fundes kann nie gezweifelt werden."

Als wir voran schritten, bemerkten wir, dass der fossile Körper nicht einzige seiner Art auf dem riesigen Knochenfeld war. In einem einmaligen Schauspiel lagen Generationen von Mensch und Tier zusammen auf diesem Friedhof. Hatten diese Geschöpfe wirklich hier gelebt oder waren sie durch ein Unglück hier unten verschüttet worden? Wenn es Fische und Seeungeheuer in dieser Welt gab, gab es dann vielleicht auch Menschen, die an diesem Ort lebten?

 

 

 

39. Der Dolch

Die Neugier trieb uns weiter und nach einer weiteren Meile kamen wir an den Rand eines großen Waldes. Die Vegetation des Tertiärs war in ihrer ganzen Pracht erhalten. Hohe Palmen, Fichten, Zypressen, Thujas und Eiben standen auf einem Teppich aus Moos und Efeu. Bäche durchzogen den Wald, an den Ufern mit baumhohen Farnen bewachsen. Alle Pflanzen waren seltsam farblos. Ihnen fehlte das Sonnenlicht.

Mein Onkel und ich betrachteten noch die uns umgebende Landschaft, als ich plötzlich das Gefühl hatte, etwas zu sehen. Was war das? Ich sah genauer hin und hielt den Atem an. Riesige Gestalten bewegten sich unter den farblosen Bäumen. Eine Herde Mastodonten - und zwar lebende Exemplare - wühlte mit langen Rüsseln im Laub der Bäume. Die Stoßzähne durchbohrten die Baustämme und große Haufen abgerissener Blätter verschwanden in den gierigen Mäulern dieser Monstren. Ich dachte nur an Flucht. Weg von hier. Aber mein Onkel starrte die Herde fasziniert an. "Axel, siehst du das? Siehst du das auch? Ist das nicht ein lebendes Wesen? Ein lebendes Wesen, wie wir? Ist das nicht - ein Mensch?"

Voller Entsetzen starrte ich in die Richtung, in die mein Onkel deutete. Und wirklich. Am Stamm einer imposanten Fichte lehnte ein Wesen, das menschlich aussah. Kein Fossil, nein ein lebendiges menschliches Wesen, das offensichtlich die Herde der Riesenelefanten hütete. Dieses Wesen war groß, sehr groß. Ich schätze es auf ungefähr zwölf Fuß. Der Kopf war dick wie der eines Büffels. Es hatte eine lange struppige Mähne und trug in der Hand einen Stab, der einem vorsintflutlichen Hirten würdig war. Der Riese bewegte den Kopf. Hatte er in unsere Richtung geblickt? Nun war auch meinem Onkel klar, dass uns nur die Flucht blieb.

Wir rannten so schnell wir konnten. Ungefähr fünfzehn Minuten später waren wir dem Blickfeld des Riesen entkommen. Jetzt, Monate nach dieser furchtbaren Begegnung, bin ich mir nicht sicher, ob das was wir sahen, wirklich ein Mensch war. Vielleicht hatten wir uns täuschen lassen. Vielleicht hatte uns die Angst einen Streich gespielt. Oder unsere überreizten Nerven machten uns glauben, einen Menschen gesehen zu haben. Ich bin eigentlich fast sicher, dass kein menschliches Wesen in diesen unterirdischen Höhlen leben kann. Vielleicht war es eher ein affenähnliches Tier, das sehr groß geraten war. Ja, ich bin sogar ganz sicher, dass es ein Riesenaffe war, der uns in Angst und Schrecken versetzte. Was sonst sollte da unten in der Höhle hausen?

Wir verließen den Wald. Ich betrachtete die Küste, die sich uns darbot und war fast sicher, dass wir uns nun an der Stelle befanden, an der Hans das Floß gebaut hatte. Wo war der Gretehafen? Mein Onkel suchte das Ufer mit den Augen nach Spuren von uns ab. "Bist du sicher, Axel, dass der Gretehafen hier in der Nähe ist? Ich kann nichts finden, dass darauf hinweisen würde, dass wir schon einmal hier gewesen sind."

Ich bückte mich und hob einen verrosteten Dolch auf. "Hier Onkel. Der gehörte sicher Hans!" Mein Onkel untersuchte den Dolch. "Nein. Hans hatte keinen solchen Dolch bei sich. Und weder du noch ich hatten ein Werkzeug dieser Art dabei. Dieses Messer stammt nicht von uns." Ich war verwundert. "Bist du sicher? Glaubst du, es gehört einem Weggefährten des riesigen Hirten? Aber nein, dies ist keine Waffe der Steinzeit. Die Klinge ist aus Stahl." Mein Onkel nahm mir den Dolch aus der hand und betrachtete ihn. "Axel, dieses Messer ist aus dem sechzehnten Jahrhundert. Edelleute trugen Dolche dieser Art am Gürtel und ich bin fast sicher, dass er spanischen Ursprungs ist. Sieh dir die Rostschicht an, Axel. Diesen Dolch liegt schon Jahrhunderte hier unten. Und er ist schartig. Jemand ist vor uns hier gewesen. Vielleicht hat der Mann seinen Namen in einen Felsen geritzt. Vielleicht ist der Dolch davon so schartig geworden."

Gespannt sahen wir uns um. Wir gingen an der Felswand entlang und musterten jede Spalte. So gelangten wir an eine Stelle, an der das Ufer schmaler wurde. Das Meer umspülte den Fuß des Felsens und ließ einen ungefähr zwei Klafter breiten Weg frei. Schließlich entdeckten wir zwischen zwei Felsvorsprüngen den Eingang zu einem dunklen Tunnel. "A.S.!", rief mein Onkel. "Arne Saknussemm. Immer wieder Arne Saknussemm."

 

 

 

40. Ein neuer Tunnel

Arne Saknussemm. Ich konnte es kaum fassen. Ehrfürchtig betrachtete ich die dreihundert Jahre alten Buchstaben, die dieser Gelehrte in den Stein geritzt hatte. Auch mein Onkel war gerührt. "Du Genie!", rief er. "Immer wieder weist du dem Wanderer den Weg. Immer wieder finden wir deinen eingeritzten Namen und wissen uns auf dem richtigen Weg. Wenn ich den Mittelpunkt erreiche, so werde auch ich meinen Namen in den Fels ritzen. Und dieses Kap hier, trage von nun an den Namen Kap Saknussemm."

Die Begeisterung meines Onkels ergriff nun auch mich und ich wollte mich schon in dunklen Tunnel stürzen. Da hielt mein Onkel mich zurück. Er, der sonst ungestüm war, befahl mir, ruhig zu bleiben. Wir mussten erst Hans und das Floß holen.

Wir wanderten also zurück zu Hans und beglückwünschten uns zu der misslungenen Überfahrt, die uns wieder an unseren Ausgangspunkt gebracht hatte. Was wäre aus uns geworden, wenn wir tatsächlich die andere Seite des Meeres erreicht hätten? Nie hätten wir sonst die Initialen des Arne Saknussemm gefunden. Eine glückliche Fügung schien auf unserer Expedition zu liegen.

Mit Hans segelten wir zum Kap Saknussemm zurück. Ich wollte mich sofort wieder in den Tunnel stürzen und vorher das Floß verbrennen, um uns jede Möglichkeit des Rückzugs abzuschneiden, aber mein Onkel war dagegen. Er wollte auch zunächst nachsehen, ob wir im Tunnel vielleicht Leitern oder Seile brauchten.

Wir vertäuten das Floß am Ufer und setzten einen Ruhmkorffschen Apparat in Tätigkeit. Durch eine fast kreisrunde Öffnung traten wir in den dunklen Tunnel. Der Weg, dem wir folgten, war eben. Und dann versperrte uns ein großer Felsbrocken den Weg. Wir konnten weder links noch rechts an ihm vorbeikommen. Auch über oder unter dem Block war kein Durchlass. Jede Hoffnung schwand in uns, auf diesem Weg weiterzukommen. War Saknussemm auch von diesem Felsen aufgehalten worden?

Wir untersuchten den Felsen erneut und ich kam zu dem Schluss, dass Saknussemm hier seinen Weg hatte fortsetzen können, während uns dieser Felsbrocken den Weg versperrte. Irgendeine Erschütterung musste diesen Felsen auf den Weg geworfen haben. Mein Onkel wusste kaum Rat und ich suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Nun plötzlich wollte auch ich den Mittelpunkt der Erde erreichen und mich Saknussemm würdig erweisen.

"Für die Hacke ist der Felsen zu hart und für den Pickel zu lang. Wie wäre es mit dem Pulver? Wir könnten den Felsbrocken sprengen.", überlegte ich laut. Mein Onkel zögerte nicht lange. Er ließ Hans das Pulver holen und wir schlugen mit der Hacke ein Loch in den Felsen, um unsere Mine anzubringen. Fünfzig Pfund Schießbaumwolle stopften wir in das Loch. Ich war sehr aufgeregt. Aus feuchter Schießbaumwolle stellten wir eine lange Lunte her, die anschließend in einen Leinenschlauch gesteckt wurde.

Um Mitternacht waren wir mit den Vorbereitungen fertig und beschlossen, mit der Sprengung bis zum nächsten Morgen zu warten. Sechs lange Stunden lagen noch vor uns. "Wir werden es schaffen.", versicherte der Professor.

 

 

 

41. Die Sprengung

Wenn ich heute an jenen 27. August zurückdenke, beginnt mein Herz immer noch wie wild zu schlagen. Was wir vorhatten, würde uns zum Spielball der Elemente machen. Unser Verstand, unsere Vernunft und unser Scharfsinn hatten nichts mehr zu sagen. Ich durfte die Lunte entzünden. Danach wollten wir uns auf unser Floß begeben und auf das Meer hinausfahren, damit uns die Explosion nicht anhaben konnte. Nach einem hastigen Frühstück war es dann so weit. Hans und der Professor begaben sich zum Floß, während ich zurück blieb. Mit meiner brennenden Laterne entzündete ich die Lunte, die an der Tunnelöffnung lag. So schnell ich konnte rannte ich dem Ufer zu und sprang auf das Floß. Hans stieß uns kräftig ab und wir fuhren auf das Meer hinaus.

Mein Onkel beobachtete die Zeiger des Chronometers. Wir waren alle aufgeregt. Nach nicht enden wollenden Minuten des Wartens kam die Detonation so plötzlich, dass ich sie eigentlich gar nicht hörte. Die Felsen öffneten sich plötzlich wie ein Vorhang und eine unermessliche Schlucht klaffte bis zum Ufer. Das Meer erhob sich und nahm unser Floß mit sich.

Blitzartig wurde es dunkel um uns. Wir wurden zu Boden geworfen und ich fand auf dem Floß keinen Halt mehr. Würden wir nun untergehen? Was geschehen war, wusste ich genau. Hinter dem Felsen, den wir gesprengt hatten, gab es einen Abgrund. Die Explosion hatte wie ein Erdbeben gewirkt. Der Abgrund öffnete sich und das Meer verwandelte sich in einen reißenden Strom, der in den Schlund hineinstürzte und wir mit ihm. Wir fielen immer tiefer und die Zeit verging. Wir klammerten uns an das Floß und fassten uns gleichzeitig an den Händen. Der Tunnel musste breit sein, denn das Floß stieß nur einige Male an die Tunnelwand. Wir nahmen auf Arne Saknussemms Weg ein ganzes Meer mit in den Abgrund.

Hans gelang es, eine Laterne zu entzünden und wir sahen uns um. Wir rasten mit großer Geschwindigkeit auf dem Wasserfall abwärts. Immer wieder geriet unser Floß in einen Strudel und drehte sich wie ein Kreisel. Mein Onkel und ich blickten uns verstört an. Die Lage war wirklich schwierig.

Ich versuchte mir einen Überblick über unser Gepäck zu verschaffen. Nur noch der Kompass und das Chronometer waren uns an Instrumenten geblieben. Pickel, Hacke, Hammer, Seile waren verschwunden. Aber das Schlimmste war, dass auch unser Proviant fort war. Wir hatten noch Verpflegung für einen Tag.

Zunächst war ich erschrocken, dann aber war ich nicht mehr sicher, ob wir überhaupt noch Zeit zum Verhungern haben würden. Wie sollten wir wieder an die Erdoberfläche zurückkommen? Sollte ich meinem Onkel von unserem verschwundenen Proviant berichten? Ich entschied mich, ihn nicht aufzuregen und schwieg. In diesem Augenblick wurde das Licht der Laterne schwächer und verlosch schließlich ganz. Immer noch stürzten wir in die Tiefe. Wir konnten nichts mehr sehen und merkten nur an der Heftigkeit des Windes, dass wir unsere Geschwindigkeit verdoppelten. Das Gefälle des Wassers schien immer stärker zu werden. Wir stürzten nahezu senkrecht hinunter und klammerten uns aneinander fest. Plötzlich gab es einen heftigen Stoß. Das Floß hatte in seinem Sturz innegehalten. Eine Wasserhose ging auf uns nieder. Sie überflutete uns, ich rang nach Luft und glaubte, zu ersticken. Dann war es vorbei und ich konnte wieder atmen. Wir saßen immer noch alle drei auf dem Floß.

 

 

 

42. Aufwärts

Die Stille, die plötzlich eintrat war das erste, was ich bemerkte. Es musste so gegen zehn Uhr abends sein. Ich war verwirrt. Dann sagte mein Onkel: "Wir steigen." Das war unmöglich. Ich streckte den Arm aus und zog ihn mit einem Aufschrei zurück. Meine Hand blutete. Wir fuhren mit rasender Geschwindigkeit aufwärts und die rauen Felsen hatten meine Hand aufgerissen. Hans entzündete eine Fackel, die nur schwach im Luftzug flackerte. "Wir sind nicht mehr im Tunnel. Wir sind in einem engen Schacht. Das Wasser hat den Boden des Abgrundes erreicht und steigt es wieder. Wir steigen schnell, ich schätze, zwei Klafter pro Sekunde. Wir müssen auf alles gefasst sein." Der Professor betrachtete die Wände. "Wir müssen hoffen, dass der Schacht einen Ausgang hat. Sonst verdichtet sich die Luft unter dem Druck der Wassersäule immer mehr und wir werden erdrückt. Nun schau nicht so, Axel. Noch besteht ja Hoffnung auf Rettung."

Ich bezweifelte, dass wir noch zu retten waren. Mein Onkel schlug vor etwas zu essen. Nun musste ich ihm eröffnen, dass alles, was wir noch hatten ein Stück getrocknetes Fleisch war. "Glaubst du immer noch an eine Rettung?", fragte ich ihn verzweifelt. Mein Onkel schwieg. Die Zeit verging. Nach einer Stunde verspürte ich heftigen Hunger. Auch die anderen waren hungrig, aber keiner von uns wollte das Stück Fleisch anrühren.

Wir steigen schnell und manchmal hatten wir Schwierigkeiten, zu atmen. Es wurde immer wärmer und wir hatten gewiss beinah vierzig Grad erreicht. Warum wurde es plötzlich wärmer obwohl wir nicht weiter hinab stiegen? Mein Onkel nahm es mit Humor. "Wenn wir nicht ertrinken oder erdrückt werden und auch nicht verhungern, dann verbrennen wir vielleicht." Ich konnte seinen Worten nichts Amüsantes abgewinnen und er schwieg wieder. Nach einer weiteren Stunde mahnte mein Onkel uns zum Essen. "Wir müssen bei Kräften bleiben. Was nützt uns das Stück Fleisch, wenn wir nachher alle zu schwach sind, um das Richtige zu tun?" Das leuchtete uns ein und so aßen wir schließlich das letzte Stück Fleisch und die Reste des Zwiebacks. Wir genehmigten uns die Reste des Genevers und fanden dieses schmale Mahl einfach vorzüglich.

Während ich meinen Gedanken nachhing, die bei Grete in der Königstraße waren, beobachtete der Professor aufmerksam das Gestein. "Wir steigen. Das hier ist eruptives Granitgestein. Jetzt Gneis, Glimmerschiefer, das ist gut.", murmelte er vor sich hin. Währenddessen stieg die Temperatur stark an und wir waren in Schweiß gebadet. Nach und nach zogen wir unsere Jacken und Westen aus. "Warum wird es immer wärmer?", rief ich. Ich streckte meine Hand aus und schrie im selben Moment auf. Das Gestein glühte und das Wasser unter uns war siedend heiß. "Was geht hier vor?", schrie ich in Panik. Ich sah mich um und meinte seltsame Bewegungen im Granitgestein zu sehen. Würde etwas geschehen, bei dem die Elektrizität eine Rolle spielte? Ich wollte den Kompass ablesen, aber das Ding spielte völlig verrückt.

 

 

 

43. Der Vulkan bricht aus

Was war nur mit dem Kompass geschehen? Ruckweise sprang die Nadel von einem Pol zum anderen und durchlief das ganze Ziffernblatt. Ich sah mich um und sah noch andere Anzeichen für das, was ich befürchtete. "Onkel, es wird ein Erdbeben geben.", rief ich. Der Professor sah mich an. "Ich bin ganz sicher, Onkel. Erkennst du denn die Symptome nicht?" Wieder ruhte der Blick des Professors auf mir dann. Dann antwortete er: "Nein, Axel. Kein Erdbeben. Das hier ist ein Vulkanausbruch. Wir sind im Krater eines tätigen Vulkanes. Etwas Besseres konnte uns gar nicht passieren."

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Wie waren wir in die Eruption geraten? Konnten wir überleben, mit Asche und Schlacke in die Luft hinausgeschleudert zu werden? War das wirklich unsere einzige Chance je wieder an die Oberfläche zu gelangen? Ich starrte meinen Onkel an, der kühl abwartend unsere Chancen abschätze.

Wir stiegen immer weiter. Die Nacht verging. Ich glaubte, ersticken zu müssen. Unter dem Floß war siedendes Wasser und darunter Lava. Wie sollten wir überleben? Welcher Vulkan würde uns an die Oberfläche werfen? Der Sneffels konnte es nicht sein. Der war erloschen. Wir befanden uns mit großer Sicherheit irgendwo in der nördlichen Region. Als der Kompass noch funktionierte, hatte er stetig nach Norden gezeigt. Waren wieder unter Island?

Das Tempo beschleunigte sich gegen Morgen. Es wurde immer heißer, was auf den vulkanischen Einfluss zurückzuführen war. Wir sahen Schwefelflammen, die um unser Floß züngelten. Mit erschrecken stellte ich fest, dass kein Wasser mehr da war. Wir trieben auf der Lavamasse der Krateröffnung entgegen.

Gegen acht Uhr morgens hörte die Aufwärtsbewegung plötzlich auf. Unser Floß rührte sich nicht mehr. Mein Onkel redete beruhigend auf mich ein, sprach von einer Pause, die vor einem Ausbruch typisch sei. Ich hatte große Sorge, dass der Ausbruch nicht weitergehen könne, aber wie mein Onkel es vorhergesagt hatte, begann der Aufstieg wieder ebenso plötzlich, wie er zum Erliegen gekommen war.

Es geschah noch einige Male, dass der Aufstieg ins Stocken geriet und plötzlich wieder einsetzte. Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass wir uns nicht im Hauptschacht des Vulkans befanden, sondern in einem Nebengang und daher immer wieder ein Rückschlag zu spüren war.

Ich habe keinen genauen Erinnerungen an das, was in diesen Stunden geschah. Ich erinnere mich an glühende Luft und das Gefühl zu ersticken. Ohne Hans wäre mein Schädel sicher mehr als einmal an der Felswand zerschmettert worden. Ich hörte Detonationen und fühlte das Kreisen des Floßes. Asche regnete auf uns hernieder. Das Letzte an das ich mich erinnerte war Hans' unbewegtes Gesicht.

 

 

 

44. Stromboli

Ich schlug die Augen auf und sah Hans, der mit einer Hand meinen Gürtel hielt und mit der anderen meinen Onkel stützte. Vorsichtig bewegte ich mich. Offensichtlich war nichts gebrochen, aber ich fühlte mich wie zerschlagen. Wo waren wir? Wir lagen am Hang eines Berges. Direkt vor mir war eine Schlucht, in die ich hineingestürzt wäre, hätte Hans mich nicht festgehalten.

"Sind wir in Island?", fragte ich mit heiserer Stimme. Hans schüttelte den Kopf. Ich blickte mich um. Statt Schnee und Eis unter einer blassen Polarsonne zu sehen, sah ich einen Berghang, der von der sengenden Sonnenglut völlig ausgedörrt war. Wir waren halb nackt und lagen in der warmen Sonne, nach der wir uns zwei Monate lang gesehnt hatten. "Das ist wirklich nicht Island.", stellte mein Onkel fest, als sich fünfhundert Fuß über uns der Krater des Vulkans öffnete und unter lautem Getöse eine hohe Flammensäule vermischt mit Bimsstein, Asche und Lava ausspie. Ich konnte das Zucken des Berges fühlen.

Was ich von der Landschaft sah war lieblich und unvergleichlich schön. Am Fuße des Vulkans wuchsen Oliven, Feigen und purpurfarbene Weintrauben. Dort, wo das grüne Land endete, glitzerte das Meer blau. Im Osten entdeckte ich einen kleinen Hafen und einige Häuser. Im Westen war der Horizont von Festland begrenzt. Dort sah man einen hohen Bergkegel, aus dem eine Rauchfahne aufstieg. Im Norden schimmerte eine gewaltige Wasserfläche im Sonnenlicht.

"Lasst uns aufbrechen, eh' wir noch einen Felsbrocken auf den Kopf bekommen.", ordnete mein Onkel an. So machten wir uns an den Abstieg in dieses unbekannte Land. Mein Onkel und ich dachten darüber nach, wo wir wohl gelandet sein könnten. Hatte doch unser Kompass immerfort nach Norden gezeigt. Während des Fußmarsches aßen wir köstliche Granatäpfel, die wir in unserer Not einfach pflückten. Welch Labsal! Dann entdeckten wir auch eine Quelle, an der wir unsere Gesichter erfrischten und den Durst stillten.

Während wir tranken, trat plötzlich ein ärmlich gekleideter Junge zu uns. Er erschrak über unser wildes Aussehen und wollte sich auf der Stelle davon machen, aber mein Onkel hielt ihn fest. Es dauerte eine ganze Weile bis wir aus dem Jungen herausbekamen, wo wir uns aufhielten. Er sagte nur ein einziges Wort, bevor er davonlief: "Stromboli."

Wie war das nur geschehen? Wir befanden uns im Mittelmeer, auf dem Äolischen Archipel der Sage, wo Äolos die Winde und Stürme angekettet hatte. Die Berge im Osten waren die Berge Kalabriens und der am südlichen Horizont aufragende Vulkan war der Ätna.

Stromboli! Was für eine wundervolle Reise. Vom Sneffels zum Stromboli. Erfrischt und bewegt machten wir uns auf den Weg zum Hafen. Die Italiener starrten uns zunächst ungläubig an und so gaben wir uns als Schiffbrüchige aus. Ich hörte meinen Onkel immer wieder murmeln: "Aber der Kompass. Er zeigte doch immer nach Norden. Wie soll ich das erklären?" Ich schmunzelte in mich hinein und dachte, dass wir eigentlich gar nicht zu erklären brauchten.

Wir erreichten den Hafen von San Vicenzo und mein Onkel zahlte Hans den Lohn für die dreizehnte Woche aus. Hans drückte dabei zum ersten Mal mit den Fingerspitzen unsere Hände und lächelte.

 

 

 

45. Rückkehr

Ich bin am Ende meines Berichts. Vielleicht gibt es Leute, die mir nicht glauben werden, aber das macht mir nichts. Die Fischer in Stromboli nahmen uns freundlich auf und schenkten uns Kleider. Sie gaben uns zu essen und am 31. August brachte uns ein kleines Boot nach Messina. Dort erholten wir uns einige Tage und fuhren anschließend mit der Volturne nach Marseille. Von dort aus ging es direkt nach Hamburg, wo wir am 9. September ankamen. Die ganze Zeit quälte uns der Gedanke an den Kompass und wir konnten keine Erklärung finden.

In Hamburg überraschten wir Grete und Martha, deren Geschwätzigkeit wir es zu verdanken hatten, dass inzwischen alle Welt von der Expedition zum Mittelpunkt der Erde sprach. Nun, da der Professor und ich zurückgekehrt waren und auch Hans dabei war, begann man zu glauben, dass an der Sache wirklich etwas dran war.

Mein Onkel wurde ein berühmter Mann und ich immerhin der Neffe eines berühmten Mannes. Im Johanneum berichtete der Professor auf einer öffentlichen Sitzung über unsere Expedition. Nur die Sache mit dem Kompass blieb unerwähnt.

Die Neider, die es selbstverständlich auch gab, zweifelten die Berichte des Professors an und so musste er schriftlich und mündlich viele Klingen kreuzen, was er nur zu gern tat. Nur die Sache mit dem Kompass erwähnte er nie. Zu seinem Kummer verließ Hans Hamburg und ging nach Island zurück. Wir waren traurig, unseren tapferen Eiderjäger zu verlieren, aber er hatte Heimweh nach Island.

Die Reise zum Mittelpunkt der Erde wurde ein berühmtes Buch, das in viele Sprachen übersetzt wurde. Mein Onkel durfte seinen Ruhm schon zu Lebzeiten genießen. Nur die Sache mit dem Kompass trübte seine Laune und wurde schließlich zur Qual für ihn.

Sechs Monate später fiel mein Blick im Arbeitszimmer auf eben jenen Kompass und ich war verblüfft. Ich rief nach meinem Onkel, der aufgeregt herbei eilte. "Sieh nur, Onkel. Die Nadel des Kompasses' zeigt nach Süden, nicht nach Norden." Ungläubig starrten wir beide auf das Instrument. "Die Pole haben sich verkehrt." Mein Onkel untersuchte den Kompass gründlich, dann machte er einen Luftsprung und ein Licht erleuchtete seinen und zugleich auch meinen Geist.

"Dann hat die Nadel dieses verdammten Dings bei unserer Ankunft am Kap Saknussemm nach Süden statt nach Norden gezeigt? Das wäre eine Erklärung. Aber was hat die Umkehrung der Pole bewirkt? Etwa die Feuerkugel, die bei dem Sturm auf dem Lidenbrockmeer alle Instrumente magnetisierte? Ja, so muss es gewesen sein! Die Elektrizität hat uns einen Streich gespielt." Mein Onkel lachte schallend. Ich war ebenso froh, dass wir die unerklärte Sache mit dem Kompass nun gelöst hatten.

Von diesem Tag an waren mein Onkel und ich sehr glücklich. Er war ein glücklicher Gelehrter und ich heiratete meine liebe Grete, meine hübsche Vierländerin.