Die Pairskammer
- Autor: Dumas, Alexander
Albert von Morcerf war ein Edelmann voll jugendlichen Ehrgefühls. Nichts hätte ihn mehr erschüttern können, als die Eröffnung, die ihm der Redakteur Beauchamps vom Journal de Paris machte: "Mein Herr Vicomte, ich komme eben aus dem Epirus. Ich selbst habe in Ioannina die Erkundigungen eingezogen, die Sie verlangten."
"Sie werden also widerrufen? Mein Vater ist unschuldig!"
"Lesen Sie selbst." Beauchamps reichte Albert ein Schriftstück. Dieser überflog es und erbleichte: "Wir bezeugen, dass der Oberst Fernand Montego das Schloss von Ioannina gegen zweitausend Beutel Gold dem Feind geöffnet und übergeben hat."
Das Schriftstück war von vier hochrangigen Persönlichkeiten unterschrieben. Albert fiel entsetzt auf einen Stuhl.
Nach einer Pause begann Beauchamps leise: "Ich verstehe, wie sich fühlen müssen. Aber sehen Sie, dass alles ist über ein Jahrzehnt her. Richten wir nicht über unsere Väter! Ich werde schweigen!"
"Edler Freund, das vergesse ich Ihnen nie!", rief Albert. "Aber meine arme Mutter!"
"Sagen Sie ihr nichts"!
"Wer steckt hinter dem Ganzen, wer mag Ihrer Zeitung damals diese unselige Nachricht zugespielt haben?"
"Ich weiß es nicht. Vergessen wir alles! Wie wäre es, Vicomte, wollen wir nicht den Grafen von Monte Christo aufsuchen, um Sie zu zerstreuen?"
Es ergab sich überraschenderweise, dass Monte Christo gerade ans Meer fahren wollte und Albert anbot, ihn zur Entenjagd zu begleiten. So reisten sie gemeinsam in die Bretagne.
Bereits am zweiten Tag ihres Aufenthaltes kam Albert zu Monte Christo gestürmt und rief in höchster Erregung: "Mein Herr Graf, ich bitte Sie um ein Pferd, ich muss augenblicklich nach Paris abreisen."
"Nehmen Sie jedes Pferd, das Sie wollen, aber sagen Sir mir um Gottes Willen, was geschehen ist!"
"Ein Unglück. Ich bin am verzweifeln. Meine Mutter ist in Tränen. Wehe dem, der die Schuld an allem trägt. Hier, lesen Sie selbst - aber warten Sie, bis ich Sie verlassen habe!" Er reichte Monte Christo eine Zeitung, es war nicht das Journal de Paris, sondern das Konkurrenzblatt, der Imperial.
Albert eilte aus dem Zimmer. Der Graf blickte ihm mitleidig nach und las dann folgenden Artikel: "Der französische Offizier im Dienst Ali Paschas, welcher seinen Wohltäter an die Türken verkaufte und dem Feind das Schloss von Ioannina öffnete, hieß wirklich Fernand, doch seitdem hat er seinem Vornamen einen Titel beigefügt. Er nennt sich jetzt Graf von Morcerf und ist Pair in Frankreich."
Als Albert in der Redaktion des Journalisten Beauchamps ankam, war er erschöpft von dem langen Ritt.
"Ich weiß, was Sie zu mir führt, Albert", redete ihn dieser gleich an. "Aber ich schwöre Ihnen, ich bin unschuldig. Auch meiner Zeitung wurde das Material angeboten, wir lehnten ab. Das Erscheinen im Imperial konnten wir leider nicht verhindern."
"Ich verstehe", murmelte Albert. "Waren Sie bereits in der Kammer der Pairs?"
"Ja, wie es meine Korrespondentenpflicht ist. Dort herrschte äußerste Unruhe. Ihr Vater kam zur üblichen Stunde und schien von nichts zu wissen. Die Herren konfrontierten ihn mit der Meldung. Ich will mich kurz fassen: Nachdem ihr Vater erbleichte, besann er sich und lehnte alle Schuld ab. Er versprach restlose Aufklärung. Man fragte den Grafen, wie viel Zeit er brauchte, um seine Rechtfertigung vorzubereiten.
Als man schon bereit war, ihm mehrere Wochen Frist zu gewähren, wurde eine tief verschleierte Dame in den Saal geführt."
Albert erzitterte: "Eine verschleierte Dame?"
"Verschleiert und orientalisch gekleidet. Man erkannte eine junge, zierliche Frau, aber nicht mehr. Als sie ihren Schleier hochhob, konnte jeder ihre Schönheit erkennen."
"Haydee", flüsterte Albert.
"So stellte sie sich vor: Ich bin Haydee, die Tochter von Ali, Pascha von Ioannina im Epirus und von Wasiliki, seiner geliebten Frau! Die Erschütterung der Versammlung war riesengroß. Man verlangte von ihr, sich auszuweisen und sie holte ihren Geburtsschein hervor, der vom mazedonischen Großprimas versiegelt war.
Dann sagte sie: Und hier ist die Urkunde des Verkauf von meiner Mutter und mir an den armenischen Kaufmann El-Kobbir durch einen ruchlosen französischen Offizier er steht dort!"
"Sie zeigte auf meinen Vater?"
"Ja, Albert. Sie nannte auch die Summe, die ihr Vater für sie und ihre Mutter erhalten habe, 100 Beutel Gold."
"Oh, mein Gott! Und sie zeigte auf meinen Vater!", wiederholte Albert gequält.
"Nicht nur das! Sie sah ihn mit brennenden Augen an und rief: Du bist Fernand Morcerf, der die Truppen meines Vaters ausbildete! Du bist es, der uns an den Feind verriet und die Tore unseres Palastes öffnete. Du bist es, der unseren treuen Diener Selim erdolchte. Mörder! Mörder!"
"Zweifelte denn niemand in ihren Worten?"
"Sie trat sehr überzeugend auf. Und doch fragte der Vorsitzende, selbst leichenblass, ob sie sich ihrer Sache auch ganz sicher sei. Darauf antwortet sie leidenschaftlich: Er war es, der das Haupt meines Vaters auf einem Spieß fort getragen hat. Nie werde ich seinen Anblick vergessen. Doch schauen Sie nur auf seine rechte Hand! Sie trägt eine breite Narbe vom Gelenk unterhalb des Daumens bis hinauf zum Ansatz des kleinen Fingers!
Sie hätten sehen müssen, Albert, wie rasch ihr Vater da seine rechte Hand verbarg!"
"Und was geschah dann?"
"Ihr Vater verließ den Saal. Und die anwesenden Pairs konnten auf die Frage des Präsidenten nur noch bestätigen, dass sie von seiner Schuld überzeugt seien und er nicht würdig sei, weiter Pair von Frankreich zu bleiben!"
Alberts Augen schwammen in Tränen. "Mein Leben ist beendet", stammelte er.
"Aber wir leben nicht mehr in einer Zeit, in der die Söhne für die Taten ihrer Väter verantwortlich gemacht werden", rief Beauchamps. "Verreisen Sie, kommen Sie in drei oder vier Jahren wieder, und alles ist vergessen."
"Ich danke Ihnen Beauchamps. Ich habe nur noch einen Wunsch: Helfen Sie mir, die Hand zu finden, die für diese Meldung verantwortlich ist!
"Auf diese Frage habe ich gewartet und war nicht untätig. In Ioannina hörte ich bereits den Namen des Bankiers Danglars."
"Wie? Ist er der Schuldige?"
"Ich ging zu ihm. Und wissen Sie, was er mir sagte? Er erklärte mir, dass es der Graf von Monte Christo war, der ihm riet, sich in Ioannina nach Ihrem Vater zu erkundigen, bevor Sie mit seiner Tochter Eugenie vermählt werden würden!"
Albert erstarrte völlig. Endlich sagte er: "Natürlich! Wie konnte ich nur zweifeln. Der Graf von Monte Christo Er hatte ja die schöne Sklavin Haydee gekauft Er wusste alles, er kannte ihre Geschichte, bei der nicht ein einziges Mal der Name meines Vaters gefallen ist Sogar, dass er mich aus Paris entfernte, als er die unselige Zeitungsnotiz drucken ließ Ja, jetzt erkenne ich es, er ist unser Feind.
Auch dass er in unserem Hause keinen Bissen anrührte, spricht dafür. Er ist doch ein halber Orientale, und auf diese Weise bewahren sich die Orientalen die Freiheit, Rache an ihren Feinden nehmen zu können. Freund Beauchamps, ich muss mich mit dem Grafen von Monte Christo duellieren!"
"Nehmen Sie sich in Acht, ich fürchte, er ficht nur allzu gut!"
"Wäre es nicht das größte Glück, für seinen Vater getötet zu werden?"
"Ihre Mutter würde dabei sterben!"
"Arme Mama! - Begleiten Sie mich in die Oper, Beauchamps? Ich hörte Monte Christo sagen, er wolle nach Paris zurückkehren, um die heutige Aufführung nicht zu versäumen."