Die Nacht
- Autor: Dumas, Alexander
Monte Christo war eben dabei, die Waffe in die Hand zu nehmen und damit auf winzige Eisenplättchen zu zielen, als die Tür seines Zimmers sich öffnete, sein Diener eintrat und eine Dame meldete.
Kaum hatte dieser ausgesprochen, erblickte der Graf durch die offen gebliebene Tür eine verschleierte Frau.
"Wer sind Sie, Madame?", fragte er.
Die Unbekannte schaute umher, um sich zu versichern, dass sie allein waren, verneigte sich, als wollte sie niederknien und rief mit einem Ton der Verzweiflung: "Edmond! Sie werden meinen Sohn nicht töten!"
Der Graf machte einen Schritt rückwärts, stieß einen schwachen Schrei aus, ließ seine Waffe fallen und erwiderte: "Welchen Namen haben Sie da ausgesprochen, Frau von Morcerf?"
"Nicht Frau von Morcerf, Edmond, Mercedes kommt zu Ihnen!"
"Mercedes ist tot, Madame! Ich kenne niemand dieses Namens!"
"Mercedes lebt, und Mercedes erinnert sich. Schon beim ersten Ton Ihrer Stimme ahnte ich wusste ich, und doch habe ich Sie nicht aufgesucht, als Sie Herrn von Morcerf niederwarfen!"
"Fernand wollen Sie sagen, Madame!"
"Wie auch immer", rief sie und sank vor ihm auf die Knie. "Was hat mein Sohn mit dem Unheil zu tun, das über Sie gebracht wurde?"
"Es steht schon in der Bibel geschrieben: Die Sünden der Eltern sollen auf die Kinder übergehen bis in die dritte oder vierte Generation!"
"Auch ich Edmond, habe viel gelitten!"
"Wie? Haben Sie Ihren Vater an Hunger sterben sehen? Haben Sie gesehen, wie die Frau, die Sie über alles liebten, ihre Hand einem anderen reichte."
"Ach, mein Herr, es ist mein Fehler. Edmond, Sie waren so lange fort und irgendwann fehlte es mir an Kraft "
"Doch warum, war ich fort?"
"Sie waren im Gefängnis."
"Und warum saß ich im Gefängnis?"
"Ich weiß es nicht", sprach Mercedes.
"Ja, Sie wissen es nicht, Madame. Das wusste ich. Nun, ich will es Ihnen sagen. Ich wurde verhaftet, weil unter den Lauben des "Silbernen Fisches" am Vorabend unserer geplanten Hochzeit ein Mann namens Danglars einen Brief geschrieben hatte, den der Fischer Fernand selbst auf die Post brachte."
Monte Christo ging an seinen Schreibtisch und holte den Brief hervor, den er als Beauftragter des Hauses Thomson und French für 200 000 Francs gekauft hatte und aus der Akte Edmond Dantes genommen hatte.
Mercedes las und erschrak zu Tode. Edmond erzählte ihr von seiner 14 Jahre dauernden Gefangenschaft.
"Verzeihen Sie mir, Edmond, denn ich liebe Sie noch. Als ich erfuhr, dass Sie bei dem Fluchtversuch ums Leben gekommen sind, hörte ich zehn Jahre lang Nacht für Nacht einen furchtbaren Schrei in meinen Träumen. Und nun sehe ich, dass der Mann, den ich so sehr liebte, bereit ist, der Mörder meines Sohnes zu werden."
Sie sprach diese Worte mit so tiefer Empfindung, dass der Graf einen Schrei der Erschütterung losließ. Er war besiegt. "Was verlangen Sie von mir?", fragte er schließlich tonlos.
"Das Leben meines Sohnes!"
"Gut! Er wird leben! Dafür werde ich sterben!"
"Was sagen Sie da, Edmond?"
"Ihr Sohn wird leben, Madame", bestätigte er, um Fassung ringend. "Doch nun verlassen Sie mich, ehe ich mein Wort bereue!"
Mercedes erkannte, dass sie alles erreicht hatte. Mehr war nicht möglich. Im Gegenteil, sie würde alles zerstören, wenn sie bliebe. Sie trocknete ihre Augen und reichte Edmond die Hand. "Leben Sie wohl! Es ist noch nicht alles zu Ende. Wir haben uns wieder gesehen." Sie öffnete die Tür und verschwand.
"Ich Wahnsinniger", sagte der Graf zu sich selbst, "dass ich mir nicht an dem Tag, an dem ich beschlossen hatte, mich zu rächen, das Herz ausgerissen habe!"