Die Meuterei
- Autor: Poe, Edgar Allan
Die Brigg war am zwanzigsten Juni in See gestochen. Ungefähr eine Stunde, nachdem Augustus mir die Uhr übergeben hatte. Weil es mir zu diesem Zeitpunkt recht gut ging, empfand er an den folgenden zwei Tagen keine Besorgnis um meine Person. Obwohl er ständig nach einer Gelegenheit suchte, zu mir hinabzusteigen.
Zwischendurch überlegte er, meine Anwesenheit unter Deck dem Kapitän, seinem Vater, endlich zu beichten. Doch wir waren noch nicht sehr weit von Nantucket entfernt und einige Bemerkungen des Kapitäns ließen Augustus annehmen, er würde umkehren, sobald er von meiner Gegenwart erführe. Außerdem glaubte mein Freund mich in Sicherheit und wohlbehalten in meiner Behausung. Ansonsten hätte ich wohl nicht gezögert, mich an der Falltüre bemerkbar zu machen.
Erst am vierten Tage, nachdem er mir die Uhr gebracht hatte, welcher gleichzeitig mein siebter Tag im Kielraum bedeutete, gelang es Augustus, nach unten zu gelangen. Er wollte mich zur Falltür rufen, damit er mir Vorräte geben konnte. Er hörte mich laut schnarchen, nahm somit an, ich würde schlafen. Er konnte ja nicht wissen, dass dies eine Art Ohnmacht gewesen war, ausgelöst durch die einschläfernde Wirkung der Ausdünstung von altem Fischtran, wie ich heute weiß.
Obwohl Augustus mehrmals und immer lauter werdend rief, hörte er nur mein ausdauerndes Schnarchen. Weil eine längere Abwesenheit dem Kapitän aufgefallen wäre, konnte er nicht weiter nach unten dringen und schloss die Falltür wieder. Augustus nahm an, dass ich friedlich schlummerte und die Gefangenschaft mir bisher nicht geschadet hatte.
Seine Aufmerksamkeit wandte sich einer ungewöhnlichen Unruhe zu, die von der angrenzenden Kajüte auszugehen schien. Schnell öffnete er die Kajütentür weit, da blitzte schon ein Pistolenlauf vor seinen Augen. Gleichzeitig schlug ein Hebebaum ihn zu Boden.
Während er mit einer Hand nur am Boden festgehalten wurde, verschaffte er sich schnell einen Überblick. Der Kapitän, sein Vater, lag an Händen und Füßen gefesselt auf den Stufen der Kajütentreppe. Sein Kopf lag nach unten und aus einer tiefen Stirnwunde blutete er mächtig. Schweigend schien er mit dem Tode zu ringen.
Der erste Steuermann stand über ihm und betrachtete ihn höhnisch, während er ihm scheinbar gelassen einen Schnappsack und ein Chronometer aus der Tasche nahm. Insgesamt waren sieben von der Mannschaft mit dabei, darunter auch der Koch - ein Schwarzer. Sie durchsuchten die Kabinen nach Waffen und Munition. Es handelte sich hier um den Abschaum der Mannschaft. Mit unterschiedlichsten Waffen versehen schleppten sie Augustus mit aufs Deck, nachdem sie ihm die Arme auf den Rücken gebunden hatten.
Nun befahl der erste Steuermann mit erhobener Stimme dem Rest der Mannschaft absoluten Gehorsam. Es dauerte einige Minuten, bis sich die Männer bewegten und ein neuangeworbener Engländer winselte kläglich um sein Leben. Als Antwort bekam er einen Hieb mit der Axt auf seine Stirn, dann schleuderte der schwarze Koch den armen Mann ins Meer.
Es dauerte eine Weile, bis die Mannschaft sich vollständig ergeben hatte. Natürlich versuchten sie, sich gegen den ersten Steuermann zu stellen - erfolglos. Nachdem sich die meisten nach kurzem Kampfe ergeben hatten, gab der selbst ernannte Kapitän ihnen freundliche Worte, in der Hoffnung, die noch unter Deck befindlichen Männer ebenfalls für sich zu gewinnen. Sein Erfolg sprach ebenso für seine Schlauheit wie für seine höllische Bosheit. Es waren also insgesamt siebenundzwanzig Personen, die sich nicht an der Meuterei beteiligt hatten.
Was jetzt folgte, war eine unsagbar scheußliche Schlächterei. Augustus wird diesen Anblick nie in seinem Leben vergessen können. Dem Koch, der am Fallreep stand, wurden die gefesselten Matrosen angeschleppt, sodass er nur noch mit seiner Axt jedem der Opfer auf den Kopf schlug, während es von den Meuterern über die Reling gehalten wurde. Zwanzig Menschen starben auf diese grausame Art. Augustus erwartete jeden Moment, ebenfalls auf diese Weise sein Leben lassen zu müssen.
Jedoch waren die Schurken entweder müde oder sie ekelten sich selbst vor ihrer blutigen Arbeit. Sie ließen vier Männer übrig und ließen ihnen und Augustus eine Art Galgenfrist. Die Übeltäter selbst hielten ein wüstes Saufgelage ab, das bis zum Sonnenuntergang währte.
Natürlich bekamen sie unter dem Einfluss des Alkohols Streit. Sie waren unterschiedlicher Meinung, was mit den übriggebliebenen Männern nun geschehen sollte. Der Koch war mit Abstand der Teuflischste von allen. Leider hatte er mindestens so viel Einfluss auf das Geschehen wie der Maat. In seiner Trunkenheit versuchte er mehrmals, seine blutige Tätigkeit fortzuführen. Zum Glück konnte der Leinenführer ihn zurückhalten.
Er hieß Dirk Peters und war der Sohn einer Indianerin und eines Pelzhändlers. Dieser Peters war von kleiner Figur, trotzdem schien er vor Kraft zu strotzen und er verfügte über das grimmigste Aussehen, das ich jemals an einem Menschen wahrgenommen habe.
Seine Hände waren furchtbar dick und breit; seine Arme und Beine waren derart gebogen, dass man meinte, er könne sich gar nicht darauf fortbewegen. Ebenso war sein Kopf von einer unförmigen Größe, mit einer Vertiefung am Schädel, wie man sie bei den meisten Negern findet. Seinen kahlen Schädel versuchte er mit einer Perücke aus irgendwelchem haarigen Zeug zu verdecken. Manchmal diente ihm dazu sogar ein Stück Bärenfell oder ein Stück Hundefell, was die Wildheit seines Antlitzes vollends unterstrich. Sein Mund zog sich von einem Ohr zum anderen in Form von dünn aufeinandergepressten Lippen, aufgrund deren Ausdruck man an ihm nur einen Gesichtsausdruck kannte. Auf den ersten Blick meinte man, er würde sich in Lachkrämpfen winden. Bei genauerem Hinsehen aber erkannte man, dass es lediglich das Lachen eines Teufels sein könne.
In Nantucket kannte man ihn und an Bord des Grampus ging man wohl davon aus, dass er eine komische Figur darstelle. Ich erzähle nur deshalb so ausführlich von ihm, weil er der eigentliche Retter meines Freundes Augustus wurde. Wobei meine Schilderungen derart ungeheuerlich sind, dass ich jede Hoffnung aufgeben muss, dass irgendwer meine Berichte für wahr halten könnte. Doch ich vertraue in die Zeit und in die Wissenschaft, dass die wichtigsten meiner Erlebnisse irgendwann als wirklich erweisen werden.
Nach mehreren Streitigkeiten beschlossen die Halunken, dass alle Gefangenen in einem kleinen Fangboot ausgesetzt werden sollten. Da Peters mit scherzenden Worten Augustus als seinen Schreiber beanspruchte, blieb mein Freund verschont.
Der Maat erschien mit dem inzwischen wieder ansprechbaren Kapitän, der dennoch bleich wie der Tod war. Er flehte, ihn nicht auszusetzen, sondern zu ihrer Pflicht zurückzukehren. Er versprach ihnen Straffreiheit. Doch es war sinnlos. Zwei Schurken stießen ihn über die Reling ins Boot. Die vier Leute, die noch an Deck lagen, mussten trotz ihres Widerstandes dem Kapitän folgen.
Augustus blieb nichts anders, als flehentlich zu bitten, dass er wenigstens von seinem Vater Abschied nehmen dürfe. Man reichte den Männern ein wenig Zwieback und einen Krug Wasser; doch fehlten Ruder, Segel, Mast und Kompass. Als die Meuterer das Tau zerschnitten, war die Nacht hereingebrochen. Es blies ein lauer Wind und man sah weder Mond noch Sterne. Für die Dulder im Boot blieb wenig Hoffnung. Wir bewegten uns derzeit auf dem 33. Grad 30 Min. nördlicher Breite, 61. Grad 20 Min. westlicher Länge - also in der Nähe der Bermudainseln. So hoffte Augustus, dass die Männer hier ihre Rettung finden könnten.
Die Brigg setzte unter allen Segeln ihren ursprünglichen Kurs nach Südwesten fort. Soviel man verstand, wollten sie ein Schiff auf dem Wege von den Kapverdi-Inseln nach Portoriko abfangen. Um Augustus kümmerte sich niemand, man band ihn los, gewährte ihm freies Umhergehen und lediglich die Kajüte war ihm verboten. Dirk Peters redete freundlich mit ihm und einmal rettete er ihn sogar vor der Gewalttätigkeit des Kochs.
Augustus behauptete, dass die Sorge um mich das Traurigste an der Sache gewesen sei. Mehr als einmal wollte er den Meuterern sein Geheimnis meiner Anwesenheit erzählen. Doch die Erinnerung an die brutalen Scheußlichkeiten und die Tatsache, dass sie ständig alkoholisiert waren und ihre Verfassung sehr unstet, hielt ihn davon ab.
Mein Freund legte sich auf die Lauer, um die nächste Gelegenheit, nach mir zu sehen, nicht zu verpassen. Drei Tage vergingen, bis eine schwere Bö aus Osten die Meuterer durcheinanderbrachte. Alle mussten schleunigst die Segel reffen, nur deshalb gelang es Augustus, unbemerkt in seine Kabine zu gelangen.
Entsetzt erfasste er, dass diese zu einem Aufbewahrungsort für vielerlei Vorräte und Werkzeuge gemacht worden war. Auch die Falltüre war verdeckt von den schweren Gegenständen. Diese Dinge unbemerkt zu entfernen war unmöglich, weshalb er schleunigst wieder zurück aufs Deck eilte. Dort packte ihn der Maat an der Kehle und fragte böse, was er denn da unten zu suchen habe. Gerade als er ihn über die Reling aufs Meer schleudern wollte, rettete Dirk Peters ihm abermals das Leben.
Man legte Augustus Handschellen an und seine Füße wurden zusammengezurrt. Sie steckten ihn in die Matrosenkabine mit folgender vom Koch ausgesprochenen Androhung: "Solange die Brigg noch eine Brigg ist, wirst du keinen Fuß mehr auf Deck setzen!"
Mein Freund wusste nicht genau, was er mit dieser Drohung anfangen sollte, der Vorfall an sich war aber der Beginn meiner Erlösung aus der Dunkelheit.