Die Menschenalter

  • Autor: Schwab, Gustav

Die ersten Menschen, welche von den Göttern erschaffen wurden, waren ein goldenes Geschlecht. Sie lebten sorgenlos den Göttern gleich, von Arbeit und Kummer weit entfernt. Auch die Leiden des Alters waren ihnen unbekannt, und ihre Glieder zeigten sich immer rüstig. Diese Menschen standen wahrhaft in der Gunst der Götter und wurden reich mit fruchtbarem Land und stattlichen Herden beschenkt. Solange sie lebten, gab ihnen das Erdreich alle Früchte im Überflusse, und ruhig vollbrachten sie ihre Tage. Doch das Schicksal wollte es so, dass dieses Geschlecht von der Erde verschwand. Die Menschen wurden zu frommen Schutzgöttern, welche in Nebel gehüllt auf der Erde wandelten. Sie waren Quelle für alles Gute, die Behüter des Rechts und die Rächer aller Missetaten.

Dann schufen die Unsterblichen neue Menschen, das silberne Geschlecht. Diese Menschen entfernten sich schon weit von der Körpergestalt und der Gesinnung ihrer Vorgänger. Ganze hundert Jahre wuchs der Knabe unter mütterlicher Pflege auf. Und wenn einer endlich das Jünglingsalter erreichte, war ihm nur noch eine kurze Frist zum Leben gegeben. Diese neuen Menschen stürzten sich mit unvernünftigen Handlungen ins Unglück, denn sie konnten ihre Leidenschaften und ihren Übermut nicht bändigen. Auch die Altäre der Götter wollten sie nicht mehr mit Opfern ehren, worauf Zeus [1] sie wieder von der Erde hinwegfegte. Doch im silbernen Geschlecht war auch noch einen Funken Hoffnung und Ehre, was die Götter milde stimmte. So durften diese Menschen als sterbliche Dämonen auf der Erde umherwandeln.

Nun erschuf Zeus die dritten Menschen, das eiserne Geschlecht. Diese Menschen waren grausam, gewalttätig, immer nur den Geschäften des Krieges ergeben. Jeder von ihnen trachtete nur danach, den Anderen zu hintergehen. Das eiserne Geschlecht aß nicht mehr von den Früchten des Feldes, und nährte sich ganz vom Fleische der Tiere. Der Starrsinn dieser Menschen war hart wie Fels, und ihr Leib von ungeheuren Ausmaßen. Es wuchsen ihnen mächtige Arme, denen niemand zu nahe kommen durfte. Doch so mächtig sie auch im Kampfe waren, so hilflos waren sie im Angesichte des schwarzen Todes. Diese Seuche ließ die Menschen vom hellen Sonnenlichte scheiden, und in die grausige Nacht der Unterwelt gehen.

Als die Erde auch dieses Geschlecht überdauert hatte, brachte Zeus ein viertes Geschlecht hervor, das auf der Erde wohnen sollte. Dieses göttliche Geschlecht der Heroen war wieder edler und gerechter als das vorherige. Doch zuletzt wurden auch diese in Zwietracht und Krieg verwickelt. Die Einen starben ehrenvoll vor den sieben Toren von Theben [2], wo sie um das Reich von König Ödipus kämpften. Die Anderen ließen ihr Leben bei den heldenhaften Kämpfen um Troja [3]. Nachdem die Heroen aber gegangen waren, gab Vater Zeus ihnen einen Sitz im Ozean, auf den Inseln der Glückseligen. Dort führen sie ein sorgenfreies Leben, und der fruchtbare Boden spendet ihnen dreimal im Jahr nur honigsüße Früchte.

Als Hesiod [4] diese Sage von den Menschenaltern erzählt hatte, seufzte er: "Ach wäre ich doch nicht ein Teil des fünften Menschengeschlechtes, das jetzt gekommen ist. Viel lieber wäre ich früher gestorben oder später geboren. Denn das jetzige Geschlecht ist ein eisernes!

An den Menschen nagen Kummer und Sorgen, doch die größte Plage sind sie selbst. Der Vater misstraut dem Sohne, und der Sohn dem Vater. Selbst unter Brüdern gedeiht die Zwietracht, und den ergrauten Eltern wird jegliche Ehre versagt. Überall hört man nur Beschimpfungen und Schmachreden, die die Verbitterung der Menschen zeigen.

Ihr grausamen Menschen, denkt ihr denn gar nicht an das Göttergericht, dass ihr niemandem danken wollet? Stattdessen herrscht überall Faustrecht.

Derjenige aber, der die Wahrheit sagt und gut und gerecht ist, wird nicht mehr geachtet. Nein, nur der Übeltäter, der mit falschen Worten seine Sache listig zu vertreten weiß. Das ist der wahre Grund, warum diese Menschen so unglücklich sind.

Überall herrscht nur Schadenfreude und Neidsucht, egal in welches Antlitz du schaust. Darum haben auch die Götter sich von den Menschen abgekehrt, und keine Rettung ist zu erwarten."

Erklärungen:

[1] Zeus ist der oberste Gott der Griechen, der Vater der Götterfamilie.

[2] Theben ist eine griechische Stadt, die rund 50 Kilometer nordwestlich von Athen liegt.

[3] Troja war eine bedeutende Handelsstadt am Eingang zum Marmarameer. Dieses Meer ist die Verbindung zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer. Der deutsche Forscher Heinrich Schliemann hat Troja im 19. Jahrhundert wiederentdeckt.

[4] Hesiod war ein griechischer Dichter, der um 700 vor Christus lebte.