Die Krönung
- Autor: Twain, Mark
Gehen wir noch einmal einige Stunden zurück. Gegen vier Uhr morgens warten bereits die ersten Menschen auf die Krönungszeremonie. Es sind die Reichen, die sich einen Platz auf den erleuchteten Emporen der Westminster-Abtei erkauft haben.
Die Stunden schleichen sich durch die Morgendämmerung. Um sieben Uhr begleitet ein Page eine prachtvoll gekleidete Adelsdame an ihren Platz. Neben ihr wird die Adelskrone griffbereit auf ein Seidenkissen gelegt. Ihr folgen mehrere Damen, eine prächtiger als die andere. Nun kommen auch noch Diener, die die Kirche schmücken. Die Westminster-Abtei gleicht einem riesigen diamantenen Blumengarten. Als die Sonne ihr Licht durch die hohen Fenster schickte, schimmerten die wertvollen Edelsteine der Damen wie ein Regenbogenfeuer. Ein faszinierender Anblick.
Endlich erscheinen die hohen Herren in den Staatsgewändern. Hinter dem Lordprotektor und den anderen Würdenträgern folgen Männer der Garde. Die Spannung steigt ins Unermessliche.
Mit einem triumphierenden Fanfarenstoß wird der König angekündigt. Würdevoll schreitet Tom Canty in einer golddurchwirkten Robe angemessenen Schrittes in Richtung Podium. Während die Hymne gespielt wird, erheben sich alle Anwesenden von ihren Plätzen.
Nun begann die feierliche, dennoch uralte Krönungszeremonie. Tom Canty wurde mit jeder Minute blasser. Tieftraurig war sein Herz und erfüllt von Reue und Bitterkeit. Während er in Gedanken versunken saß, war die Feierlichkeit schon fast bis zum Ende fortgeschritten. Der Erzbischof von Canterbury hielt bereits die Krone Englands über das Haupt des vermeintlichen Königs. Alle Damen und Herren des englischen Adels hielten ihre Kronen ebenfalls über ihr Haupt, sodass das Licht in allen Regenbogenfarben durchs Kirchenschiff leuchtete.
Es herrschte atemlose Stille in der Westminster-Abtei. Deshalb bemerkte zuerst niemand den zerlumpten Knaben, der im Mittelschiff auftauchte. Mit einer würdevollen Armbewegung, die im vollkommenen Gegensatz zu seiner Person stand, hob er die Hand. "Ich untersage Euch, diesem Knaben die Krone Englands aufzusetzen. Ich bin der König!"
Schnell wollten einige Diener den Lumpenjungen wegbringen. Doch Tom Canty war aufgesprungen und rief in fester Stimme: "Loslassen! Fasst ihn nicht an! Er ist der König!"
Die Versammlung verfiel fast in Panik. Bestürzt blickten die Adeligen auf die Szene, nicht wissend, ob sie nun wachten oder träumten. Der Lordprotektor hatte sich verhältnismäßig schnell wieder gefasst. Er rief: "Hört nicht auf seine Majestät. Die verwirrende Krankheit hat ihn wieder eingeholt. Werft diesen Bettelknaben ins Gefängnis."
Doch Tom rief zornig: "Fasst ihn nicht an. Bei eurem Leben - er ist der König!" Da sanken die Hände der Wachen wieder. Die Gesellschaft stand wie gelähmt in der Kirche. Der Knabe schritt trotz seiner zerlumpten Kleider ungerührt voran und betrat mit gelassenem Gesichtsausdruck das Krönungspodium. Tom, der ihm gefolgt war, fiel vor ihm auf die Knie und rief: "Mein König, ich - Tom Canty - will Euch als erster Treue schwören. Nehmt eure Krone und alles, was Euch gebührt!"
Die zuerst finstere Miene des Lordprotektors wurde zunehmend milder. Auch den anderen hohen Herren war die Ähnlichkeit zwischen den beiden Knaben aufgefallen. Der Lordprotektor fasste sich zuerst und wandte sich voller Ehrerbietung an den zerlumpten Jungen: "Mein Herr, erlaubt mir, Euch einige Fragen zustellen."
"Mein Lord, ich will sie gerne beantworten", erwiderte der kleine Betteljunge. Da stellte der Lordprotektor verschiedene familiäre Fragen über den verstorbenen König, die Prinzessinnen und andere persönliche Vorkommnisse, die nur Mitglieder der Königsfamilie wissen konnten. Ohne auch nur einmal zu hadern, beantwortete der fremde Junge sämtliche Fragen und versetzte die Versammlung in Staunen. Ebenso konnte er die Gemächer des Palastes höchst genau beschreiben.
Obwohl dem Lumpenjungen nun mehr Sympathie entgegenschlug, waren noch Zweifel da. Der Lordprotektor wollte ihn fast schon verhaften lassen, da fiel ihm noch eine letzte, wichtige Frage ein: "Wo ist das Große Siegel? Wenn Ihr diese Frage beantworten könnt, seid Ihr über jeden Zweifel erhaben."
Der Junge schien erleichtert. "Mylord St. John, Ihr kennt mein Privatgemach am Besten. In der linken Ecke über dem Boden ist ein Messingknopf. Drückt darauf und es wird sich ein Juwelenkästchen öffnen. Von dessen Existenz habt Ihr bislang nichts gewusst. Darin liegt das Große Siegel von England verwahrt. Bringt es hierher."
Die Gesellschaft zeigte sich erstaunt über diese souveräne Anordnung. Es war, als hätte dieser Junge in seinem Leben nichts anderes getan, als Befehle zu geben. Verblüfft verließ Lord St. John die Kathedrale. Während seiner Abwesenheit tendierten immer mehr Herrschaften aus dem Hofstaat weg von Tom Canty zu dem zerlumpten Knaben hin.
Als Lord St. John aber unverrichteter Dinge zurückkam, wich die Schar der sympathisierenden Höflinge sofort wieder vom kleinen Thronanwärter zurück. Einsam stand er wieder da. Der Lordprotektor rief zornig, man möge ihn aus der Stadt peitschen, diesen nichtsnützigen Betrüger.
Wieder war es Tom Canty, der den Wachen Einhalt gebot: "Halt! Niemand rührt ihn an!" Einlenkend fragte der Lordprotektor zu Lord St. John gewandt: "Ihr habt auch wirklich gesucht? Das Siegel von England verschwindet doch nicht so einfach - es ist eine schwere Scheibe aus blankem Gold "
Tom Canty sprang auf und rief: "Das Ding ist rund und dick? Mit eingravierten Buchstaben und Zeichen? Oh, das hättet Ihr schon vor drei Wochen haben können. Doch nicht ich habe es an die Stelle gelegt, an der es jetzt ist. Er, der rechtmäßige König Englands, hat es höchstselbst da hingelegt."
Dem König zugewandt sagte er: "Erinnert Euch doch. Es war das Letzte, was Ihr an dem Tag getan habt, bevor Ihr in meinen zerlumpten Kleidern den Palast verlassen habt."
Tiefes Schweigen folgte. Doch der König schien sich einfach nicht zu erinnern. Tom half nach. Er erzählte, was an dem Tage vorgefallen war. Wie sie zum Spaß die Kleider vertauscht hatten und sich vor dem Spiegel angeschaut hatten. Die Verblüffung über ihre Ähnlichkeit. "Wie Zwillinge standen wir da", erzählte Tom. "Dann wolltet Ihr die Soldaten bestrafen, die mich geschlagen hatten. Ihr nahmt das goldene Ding, das alle das Große Siegel nennen, und suchtet ein Versteck. Euer Blick fiel auf "
Der zerlumpte Knabe rief: "Hört auf! Gott sei Dank, mir fällt es wieder ein. Lord Sir John, geht noch einmal in den Palast, in meiner mailändischen Rüstung, werdet Ihr in einer der beiden Armschienen das Siegel finden."
Tom freute sich unbändig. Nun würde endlich wieder der richtige König auf seinem Platz sitzen. "Das Zepter von England gehört Euch wieder!", rief er erlöst. Die Herrschaften in der Kathedrale konnten kaum mehr sitzen. Aufgeregtes Raunen ging durch die Reihen. Als Lord St. John wieder zurückkam kehrte Stille ein. Er lief aufs Podium, in der rechten Hand das Große Siegel. Die Menschen riefen: "Es lebe der wahre König von England!"
Jubelschreie, Fanfaren- und Trompetenklänge begleiteten diese freudige Begeisterung. Und inmitten stand ein zerlumpter Knabe und blickte glücklich auf die Anhänger seines Reiches, die vor ihm niederknieten. Tom rief: "Oh mein König. Nehmt eure Kleider wieder und gebt mir, dem armen Tom Canty seine Lumpen zurück."
Der Lordprotektor reagierte pfeilschnell. "Reißt ihm die Kleider vom Leib und sperrt ihn in den Tower."
Doch Edward, der wahre König, widersprach: "Nein! Ohne ihn hätte ich die Krone nie wieder erhalten. Ihm soll kein Leid wiederfahren. Und Euch, mein lieber Onkel, hat dieser Junge zum Herzog ernannt. Dies solltet Ihr Morgen erst einmal durch mich bestätigen lassen, sonst seid Ihr nämlich wieder ein einfacher Graf."
Dem Lordprotektor stieg nach dieser Rüge das Blut in die Wangen und er verzog sich in den Hintergrund. Zu Tom gewandt fragte der König nach, weshalb er sich so gut an das Siegel erinnern konnte - wo doch er selbst diese Situation gänzlich vergessen hatte.
"Oh mein König, ich habe es häufig benutz."
"Benutzt? Aber wofür denn."
Tom errötete und blickte peinlich berührt auf den Boden. Als der König nachhakte, bekannte Tom: "Ich habe Nüsse damit geknackt!"
Herzliches Gelächter begleitete die beiden Jungen. Wer bis dahin noch irgendwelche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Vorgänge hatte, dem war jetzt bewusst, dass Tom niemals der wahre König von England sein konnte.
Inzwischen hatte der rechtmäßige König den Krönungsmantel um und die Feierlichkeiten konnten weitergehen. Mit Kanonendonner wurde ganz London verkündet, dass dem König die Krone Englands aufs Haupt gesetzt gesetzt worden war.