Die Harpyien im Kampf mit den Boreaden

  • Autor: Schwab, Gustav

Nach zahlreichen Abenteuern warfen die Argonauten [1] ihre Anker vor dem Lande Bithynien [2] aus. Dort herrschte König Phineus, und er war von einem großen Übel heimgesucht.

Apollon [3] hatte ihm die Gabe der Weissagung verliehen, doch der König hatte sie missbraucht. So war er im hohen Alter mit Blindheit geschlagen und die Harpyien [4] ließen ihm bei jeder Speise keine Ruhe. Diese Ungeheuer raubten, was sie konnten. Und sie besudelten die Speisen derart, dass man sie nicht mehr anfassen konnte. Auch war es niemandem möglich, sich diesen übel riechenden Speisen zu nähern.

Doch Phineus hatte ein tröstenden Spruch vom Orakel des Zeus [5] erhalten, der da lautete: "Wenn die Söhne des Boreas mit den griechischen Schiffsleuten kommen, sollst du wieder Speise genießen können."

Als dann die erste Nachricht von der Ankunft eines Griechenschiffes kam, verließ der abgemagerte Greis mit zittrigen Armen und Beinen sein Gemach. Es schwindelte ihm vor den Augen, und ein Stab stützte seine schwankenden Tritte.

Mühsam trat Phineus vor die Argonauten und sank erschöpft zu Boden. Diese umringten den unglücklichen Greis und wunderten sich über seine jämmerliche Gestalt. Phineus aber flehte sie an: "Oh ihr Helden, wenn ihr wirklich zur Erfüllung der Weissagung gekommen seid, so helft mir. Die Rachegöttinnen haben mir mein Augenlicht genommen und die Harpyien entziehen mir jede Speise. Helft einem Verwandten von euch, denn einst war Kleopatra meine Gattin. Sie hatte zwei junge Brüder, die Söhne des Boreas. Diese jungen Männer müssten doch unter euch sein."

Da warf sich ein Sohn des Boreas dem greisen König in die Arme. Er versprach, zusammen mit seinem Bruder die Qual der Harpyien zu beenden. Sogleich bereiteten sie dem Phineus ein großes Mahl.

Kaum hatte der König die Speisen angerührt, als die Harpyien wie ein Sturm aus den Wolken herabstürzten. Die Helden versuchten sie mit lautem Geschrei zu vertreiben, aber die Harpyien ließen nicht ab, bis sie alles aufgezehrt hatten. Dann schwangen sie sich wieder in die Lüfte.

Die beiden Söhne des Boreas machten sich nun daran, sie mit gezücktem Schwert zu verfolgen. Dazu gab Zeus ihnen Flügel und unermüdliche Kraft, die sie wohl auch brauchen konnten. Denn die Harpyien kamen in ihrem Fluge dem schnellsten Winde gleich. Unermüdlich folgten die beiden Boreaden den räuberischen Ungeheuern und glaubten sie schon mit dem Schwert vernichten zu können.

Da schickte Zeus eine Botin, und sie sprach zu den geflügelten Helden: "Es ist nicht erlaubt, die Harpyien mit dem Schwerte zu fällen, denn sie sind die Jagdhunde des Zeus. Doch schwöre ich euch den großen Göttereid, dass die Harpyien König Phineus nicht mehr aufsuchen werden." Damit gaben sich die Boreaden zufrieden und kehrten zurück.

Unterdessen pflegten die Argonauten den Leib des greisen Königs, und . sie bereiteten ihm ein fürstliches Mahl, und er verzehrte gierig die reinen und reichlichen Speisen. Nach dieser Wohltat folgte auch schon bald eine große Freude, als sich die Boreaden wieder einfanden und den erlösenden Göttereid verkündeten.

Erklärungen:

[1] Die Argonauten sind eine Gruppe von griechischen Helden. Unter der Leitung von Iason stechen sie mit dem Schiff namens Argo in See und erleben zahlreiche Abenteuer.

[2] Bithynien ist eine Landschaft in Kleinasien, die an der Ostseite des Marmarameeres beginnt. Dieses Meer ist die Verbindung zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer.

[3] Apollon, ein Sohn von Zeus, ist der Gott der Weissagung. Sein berühmtestes Orakel stand im griechischen Delphi.

[4] Harpyien sind hässliche Riesenvögel mit Frauenköpfen. Ursprünglich wurden sie aber als schöne, geflügelte Göttinnen dargestellt.

[5] Zeus ist der oberste Gott der Griechen, der Vater der Götterfamilie.