Die Geschichte von der abgehauenen Hand
- Autor: Hauff, Wilhelm
[von Wilhelm Hauff]
Ich bin in Konstantinopel geboren. Mein Vater war ein Dolmetscher am türkischen Hof und trieb nebenbei einen einträglichen Handel mit wohlriechenden Essenzen und seidenen Stoffen. Er gab mir eine gute Erziehung, indem er mich selbst unterrichtete und mir von einem Priester Unterricht geben ließ. Mein Vater hatte anfangs vor, seinen Laden später einmal mir zu übergeben. Als ich aber größere Fähigkeiten zeigte, bestimmte er mich auf Anraten von Freunden zum Arzt.
Es kamen viele Franken in unser Haus, und einer davon überredete meinen Vater, mich in nach Paris reisen zu lassen, wo man den Arztberuf unentgeltlich und am besten lernen könne. Er selbst aber wolle mich, wenn er zurückreise, mitnehmen. Mein Vater schlug ein, und der Franke sagte mir, ich solle mich in drei Monaten bereithalten. Mein Herz hüpfte vor Freude, denn ich würde endlich fremde Länder sehen.
Am Vorabend der Reise führte mich mein Vater in sein Schlafkämmerlein. Dort sah ich schöne Kleider und Waffen auf dem Tische liegen. Was meine Blicke aber noch mehr verzauberte, war ein großer Haufen Gold. Mein Vater umarmte mich und sagte: "Siehe, mein Sohn, ich habe dir Kleider für die Reise besorgt. Diese Waffen hier hat mir schon dein Großvater umgehängt, als ich einst in die Fremde zog. Gebrauche sie nur, wenn du angegriffen wirst. Mein Vermögen ist aber nicht groß. Siehe, ich habe es in drei Teile geteilt. Einer davon ist dein, einer ist mein Unterhalt, und der dritte soll dir später einmal als Notpfennig in Stunden der Not dienen!" So sprach mein alter Vater unter Tränen. Vielleicht hatte er eine Ahnung, denn ich habe ihn nie wiedergesehen.
Die Reise ging gut vonstatten und wir waren bald im Lande der Franken angelangt. In Paris lebte ich drei Jahre lang und lernte, was ein tüchtiger Arzt wissen muss. Doch die Sehnsucht nach der Heimat wurde in mir immer stärker. In der ganzen Zeit hatte ich nichts von meinem Vater gehört, und ich ergriff eine günstige Gelegenheit, nach Hause zu kommen. Es ging nämlich eine Gesandtschaft nach Konstantinopel an den türkischen Hof, die mich als Wundarzt für die lange Reise bestellte.
Das Haus meines Vaters fand ich verschlossen, und die Nachbarn staunten, als sie mich sahen. Sie sagten mir, mein Vater sei vor zwei Monaten gestorben. Allein und verlassen zog ich in das verödete Haus ein. Ich fand alles noch so, wie es mein Vater verlassen hatte. Nur das Gold, das er mir als Notpfennig versprochen hatte, fehlte. Ich fragte den Priester, meinen ehemaligen Lehrer, und er sprach: "Euer Vater ist als ein heiliger Mann gestorben. Er hat sein Gold der Kirche vermacht." Das war mir unbegreiflich, doch was wollte tun? - Ich hatte keine Zeugen gegen den Priester und musste froh sein, dass er nicht das Haus und die Waren meines Vaters als Vermächtnis genommen hatte.
Das war das erste Unglück, was mich traf. Von jetzt an aber kam es Schlag auf Schlag. Mein Ruf als Arzt wollte sich nicht ausbreiten, weil ich mich schämte, den Marktschreier zu machen. Überall fehlte mir die Empfehlung meines Vaters, der mich bei den Reichen und Vornehmen eingeführt hätte. Auch die Waren meines Vaters fanden keine Käufer, denn die Kunden hatten sich auf andere Kaufleute verlegt.
Als ich dann nachdachte, fiel mir ein, dass ich in Franken oft Männer meines Volkes gesehen hatte, die das Land durchzogen und ihre Waren auf den Märkten der Städte auslegten. Ich erinnerte mich, dass man ihnen gerne etwas abkaufte, und dass man bei solch einem Handel das Hundertfache erwerben konnte. Mein Entschluss war gefasst. Ich verkaufte mein väterliches Haus und gab einen Teil des Geldes in die schützenden Hände eines alten Freundes. Von dem restlichen Geld kaufte ich, was man in Franken selten hat: Schals, seidene Stoffe, Salben und Öle. Dann mietete ich einen Platz auf einem Schiff und trat meine zweite Reise nach Franken an.
Unsere Fahrt war kurz und glücklich. Ich durchzog die großen und kleinen Städte der Franken und fand überall willige Käufer für meine Waren. Mein Freund in Konstantinopel sandte mir immer wieder frische Vorräte, und ich wurde von Tag zu Tag reicher. Da zog ich mit meinen Waren auch nach Italien. Ich muss aber noch gestehen, dass meine Arzneikunst auch wenig Geld einbrachte. Wenn ich in eine Stadt kam, ließ ich durch Zettel verkünden, dass ein griechischer Arzt da sei, der schon viele geheilt habe. Und wahrlich, mein Balsam und meine Arzneien füllten mir die Taschen.
So kam ich auch in die Stadt Florenz. Ich nahm mir vor, längere Zeit in dieser Stadt zu bleiben. Sie gefiel mir, und ich wollte mich von den Strapazen meiner Reisen etwas erholen. Darum mietete ich mir ein Gewölbe und nicht weit davon ein paar schöne Zimmer. Sogleich ließ ich auch meine Zettel umhertragen, die mich als Arzt und Kaufmann ankündigten.
Kaum hatte ich mein Gewölbe eröffnet, da strömten auch schon die Käufer herbei. Meine Preise waren ein wenig hoch, aber ich verkaufte doch meine Waren, weil ich freundlich mit den Kunden redete. Eines Abends, als ich schon mein Gewölbe schließen wollte, fand ich beim letzten Sortieren meiner Waren eine kleine Büchse, in der ein Zettel steckte. Ich entfaltete den Zettel und fand darin eine Einladung, mich um Punkt zwölf Uhr auf der Brücke Ponte vecchio einzufinden. Vielleicht wollte man mich ja heimlich zu einem Kranken führen, was schon öfter geschehen war. Ich beschloss also hinzugehen, doch hängte ich zur Vorsicht den Säbel um, den mir einst mein Vater geschenkt hatte.
Als es gegen Mitternacht ging, machte ich mich auf den Weg und kam zur besagten Brücke. Ich fand sie verlassen und beschloss zu warten. Es war eine kalte Nacht. Der Mond schien hell, und ich schaute hinab in die Wellen des Arno, die im Mondlicht schimmerten. Als es auf den Kirchen der Stadt zwölf Uhr schlug, richtete ich mich auf. Vor mir stand ein großer Mann, ganz in einen roten Mantel gehüllt, dessen Zipfel er vor sein Gesicht hielt. Ich war etwas erschrocken, fasste mich aber sogleich und sprach: "Wenn Ihr mich hierher bestellt habt, dann sagt, was ihr verlangt?" Der Rotmantel wandte sich um und sagte langsam: "Folge mir."
Das kam mir nicht geheuer vor und ich rief: "Glaubt ihr, ich lasse mich von jedem Narren foppen?" In drei Sprüngen hatte ich ihn erreicht, packte ihn an seinem Mantel und legte die andere Hand an den Säbel. Der Mantel blieb mir aber in der Hand, und der Unbekannte war verschwunden. Mein Zorn legte sich nach und nach, denn der Mantel war mir womöglich der Schlüssel zu diesem wunderlichen Abenteuer.
Ich hängte ihn um und ging nach Hause. Als ich kaum noch hundert Schritte davon entfernt war, streifte jemand dicht an mir vorüber und flüsterte in fränkischer Sprache: "Nehmt euch in Acht, Graf, heute Nacht ist nichts zu machen." Ehe ich mich aber umsehen konnte, war dieser Jemand schon wieder entschwunden. Dass dieser Zuruf dem Mantel und nicht mir selbst gegolten hatte, sah ich wohl ein. Doch was hatte das zu bedeuten?
Am anderen Morgen überlegte ich, was zu tun sei. Ich spielte mit dem Gedanken, den Mantel ausrufen zu lassen, als hätte ich ihn gefunden. Das erschien mir aber kein guter Plan, konnte doch jeder sich als Besitzer ausgeben. Ich dachte weiter nach und betrachtete den Mantel näher. Er war aus schwerem Samt, purpurrot, mit Pelz verbrämt und reich mit Gold bestickt. Der prachtvolle Anblick des Mantels brachte mich auf einen Gedanken, den ich auszuführen beschloss.
Ich trug ihn in mein Gewölbe und legte ihn zum Verkauf aus. Den Preis setzte ich so hoch an, dass sich gewiss kein Käufer finden würde. So konnte ich jedem, der nach dem Pelz fragen würde, scharf ins Auge blicken. Die Gestalt des Unbekannten hatte ich ja gesehen und glaubte sie unter Tausenden erkennen zu können. Es fanden sich auch viele Kauflustige für Mantel, dessen Schönheit alle entzückte. Aber keiner glich dem Unbekannten, und keiner wollte den hohen Preis bezahlen. Ich fragte die Kunden, ob solch ein Mantel nicht häufiger getragen würde. Alle winkten ab und versicherten, eine so kostbare Arbeit nie gesehen zu haben.
Es wollte schon Abend werden, da kam endlich ein junger Mann, der schon oft bei mir gewesen war. Auch er hatte viel für den Mantel geboten, warf einen Beutel mit Goldstücken auf den Tisch und rief: "Bei Gott, Zaleukos! Ich muss deinen Mantel haben, und sollte ich zum Bettler darüber werden." Da war ich nun in großer Not. Ich hatte den Mantel nur ausgehängt, um etwas über den Unbekannten zu erfahren. Jetzt kam ein junger Tor, um den ungeheuren Preis zu zahlen. Was blieb mir übrig! Ich gab nach, denn es tat mir auf der anderen Seite gut, für mein nächtliches Abenteuer so schön entschädigt zu werden. Der Jüngling zog den Mantel an und wollte gehen. Auf der Schwelle drehte er sich aber noch einmal um, und machte ein Papier los, das ich innen am Mantel übersehen hatte. Er warf es mir zu und sagte: "Hier, Zaleukos, das gehört wohl nicht zu dem Mantel."
Ich entfaltete das Papier und las: "Bringe heute Nacht um die bewusste Stunde den Mantel auf die Ponte vecchio. Vierhundert Goldstücke warten auf dich." Ich stand wie angewurzelt. So hatte ich also mein Glück verscherzt! Doch ich besann mich nicht lange, raffte die zweihundert Goldstücke des jungen Käufers zusammen, sprang ihm hinterher und rief: "Nehmt Euer Gold, guter Freund, und lasst mir den Mantel. Ich kann ihn unmöglich hergeben." Dieser hielt die Sache von Anfang für Spaß. Als er aber merkte, dass es mir ernst war, geriet er in Zorn, beschimpfte mich und verabreichte mir ein paar zünftige Schläge. Doch im Handgemenge konnte ich ihm glücklich den Mantel entreißen, und wollte auch schon enteilen. Der junge Mann rief aber die Polizei zu Hilfe und zerrte mich vor Gericht.
Der Richter war sehr erstaunt über die Anklage und sprach meinem Gegner den Mantel zu. Ich aber bot dem Jüngling mehr als die zweihundert Goldstücke, wenn er mir den Mantel ließe. Und was meine Bitten nicht vermochten, bewirkte nun das Gold. Er nahm es! Ich aber zog mit dem Mantel triumphierend davon und musste mir gefallen lassen, dass man mich für einen Wahnsinnigen hielt. Doch die Meinung der Leute war mir gleichgültig, denn ich wusste ja besser als sie, dass ich einen guten Handel machte.
Ungeduldig erwartete ich die Nacht. Um dieselbe Zeit wie am Vorabend ging ich zur Ponte vecchio, den Mantel unter dem Arm. Mit dem letzten Glockenschlag kam die Gestalt aus der Nacht hervor. Es war unverkennbar der Mann von gestern. "Hast du den Mantel?", fragte er.
"Ja, Herr", antwortete ich. Der Fremde trat mit mir an das breite Geländer der Brücke und zählte die vierhundert Goldstücke ab. Ich steckte das Geld ein und wollte mir nun auch den Käufer näher betrachten. Er hatte aber eine Maske vor dem Gesicht, aus der mich dunkle Augen furchtbar anblitzten.
"Ich danke euch, Herr, für Eure Güte", sprach ich. "Was kann ich sonst noch für euch tun?" "Nun, ich brauche eure Hilfe als Arzt, doch nicht für einen Lebenden, sondern für einen Toten", antwortete der Fremde. "Wie kann das sein?", rief ich voll Verwunderung. Der Fremde erwiderte: "Ich kam mit meiner Schwester aus fernen Landen. Gestern starb sie plötzlich an einer Krankheit, und die Verwandten hier wollen sie morgen begraben. Nach einer alten Sitte unserer Familie soll sie aber auch in der Gruft der Väter ruhen. Viele, die in fremden Ländern starben, ruhen dort einbalsamiert. Meine Verwandten, hier in der Stadt, sollen nun ihren Körper für das Begräbnis bekommen. Meinem Vater aber muss ich wenigstens den Kopf bringen, damit er seine Tochter noch einmal sehen und in der Gruft beisetzen kann."
Diese Sitte, die Köpfe geliebter Anverwandten abzuschneiden, kam mir zwar etwas schrecklich vor, doch wagte ich nichts dagegen einzuwenden. Ich sagte dem Fremden, dass ich mit dem Einbalsamieren der Toten wohl umgehen könne, und bat ihn, mich zu der Verstorbenen zu führen. Doch konnte ich mich nicht enthalten, zu fragen, warum denn dies alles so geheimnisvoll geschehen müsse. Er antwortete mir, dass seine Anverwandten, die seine Absicht für grausam hielten, ihn bei Tage abhalten würden. Wenn der Kopf aber erst einmal abgenommen sei, so könnten sie es nicht mehr ändern.
Wir kamen zu einem großen, prachtvollen Haus. Mein Begleiter ging an dem Haupttor des Hauses vorbei, und wir traten durch eine kleine Pforte, die der Fremde sorgfältig hinter sich zumachte. Dann stiegen wir im Finstern eine enge Wendeltreppe hinauf. Sie führte in einen spärlich erleuchteten Gang, der zu einem Zimmer führte, das erleuchtet war.
In diesem Gemach stand ein Bett, in dem der Leichnam lag. Der Unbekannte befahl mir, mein Geschäft gut und schnell zu verrichten, und ging wieder zur Türe hinaus. Ich packte meine Messer aus, die ich als Arzt immer bei mir führte, und näherte mich dem Bett. Nur der Kopf war von der Leiche sichtbar, aber dieser war so schön, dass mich tiefes Mitleid ergriff. In langen Flechten hing das dunkle Haar herab. Das Gesicht war bleich, die Augen geschlossen. Ich machte zuerst einen Einschnitt in die Haut, wie es Ärzte tun, wenn sie ein Glied abschneiden. Sodann nahm ich mein schärfstes Messer und schnitt mit einem Zug die Kehle durch.
Was für ein Schrecken! - Die Tote schlug die Augen auf und schloss sie wieder. Mit einem tiefen Seufzer schien sie jetzt ihr Leben auszuhauchen. Zugleich schoss mir das Blut entgegen. Da wusste ich, dass ich die Arme getötet hatte. Ich stand einige Minuten wie versteinert da. Hatte der Rotmantel mich betrogen, oder war die Schwester vielleicht nur scheintot gewesen? Das Letztere schien mir wahrscheinlicher. Aber ich durfte dem Bruder der Verstorbenen nicht sagen, dass mein Schnitt vielleicht ein wenig zu rasch gekommen war.
Ich beschloss den Kopf vollends ablösen. Aber die Sterbende stöhnte noch einmal, streckte sich in schmerzhafter Bewegung und starb. Da übermannte mich der Schrecken, und ich stürzte aus dem Gemach. Draußen im Gang war es finster. Keine Spur war von meinem Begleiter zu entdecken, und ich musste mich tastend fortbewegen, um an die Wendeltreppe zu gelangen. Endlich fand ich sie und kam halb fallend, halb gleitend hinab. Auch unten war kein Mensch. Die Türe fand ich nur angelehnt, und ich lief auf die Straße. Vom Schrecken verfolgt rannte ich in meine Wohnung und warf mich in die Polster meines Lagers. Erst der Morgen brachte mich wieder dazu, einen klaren Gedanken zu fassen.
Ich entschloss mich, gleich in mein Geschäft zu gehen und eine sorglose Miene zu machen. Aber ach! Ein neuer Umstand vermehrte meinen Kummer, den ich jetzt erst bemerkte. Meine Mütze, mein Gürtel und auch meine Messer fehlten mir. Hatte ich sie in dem Zimmer der Getöteten gelassen oder erst auf der Flucht verloren? Das Erste schien mir wahrscheinlicher, was mich als Mörder entlarven konnte.
Ich öffnete wie gewöhnlich mein Gewölbe. Mein Nachbar trat zu mir, wie er es jeden Morgen zu tun pflegte, denn er war ein gesprächiger Mann. "Ei, was sagt Ihr zu der schrecklichen Geschichte, die heute Nacht vorgefallen ist?", sprach er. Ich tat so, als ob ich davon nichts wüsste. "Wisst Ihr denn nicht, dass Bianka, die schöne Tochter des Gouverneurs, in dieser Nacht ermordet wurde? Ich sah sie noch gestern so heiter mit ihrem Bräutigam durch die Straßen von Florenz fahren. Heute hätten sie ihre Hochzeit gehabt."
Gegen Mittag trat ein Mann vom Gericht in mein Gewölbe und bat mich, die Leute zu entfernen. "Signore Zaleukos", sprach er und zog die Sachen hervor, die ich vermisste. "Sind das Eure Sachen?" Ich überlegte kurz und beschloss, die Sache nicht weiter zu verschlimmern. Ich bekannte mich zu den Dingen. Der Gerichtsmann bat mich, ihm zu folgen. Er führte mich in ein großes Gebäude, das ich bald als Gefängnis erkannte.
Zwei Stunden nach meiner Verhaftung wurde ich aus meinem traurigen Gemach geführt. Mehrere Treppen ging es hinauf, dann kam ein großer Saal. Um einen langen, schwarzbehängten Tisch herum saßen dort zwölf Männer, meistens Greise. An den Seiten des Saales waren Bänke, angefüllt mit den vornehmsten Leuten aus Florenz. Oben auf den Galerien standen dicht gedrängt die Zuschauer.
Als ich vor den schwarzen Tisch getreten war, erhob sich ein Mann mit finsterem Gesicht. Es war der Gouverneur. Er sprach zu den Versammelten, dass er als Vater in dieser Sache nicht richten dürfe, und dass er seine Stelle an den ältesten der Senatoren abtreten müsse. Der Älteste war ein Greis von neunzig Jahren. Er stand gebückt, und seine Schläfen waren mit dünnem, weißem Haar bedeckt. Seine Augen brannten aber feurig, und seine Stimme war stark und sicher.
Er fragte mich gleich, ob ich den Mord gestehe. Ich bat um Gehör und erzählte unerschrocken, was ich getan hatte und was ich wusste. Ich bemerkte wohl, dass der Gouverneur bei meiner Erzählung bald rot wurde. Wütend fuhr er auf: "Du Elender!", schrie er, "willst du dein Verbrechen, das du aus Habgier begangen hast, noch einem Anderen aufbürden?"
Der Senator erklärte dem Gouverneur mit ruhiger Stimme, dass er über das frühere Leben seiner Tochter Rechenschaft ablegen müsse, um die Wahrheit zu finden. Damit endete die Verhandlung an diesem Tag. Ich wurde wieder in mein Gefängnis zurückgeführt, wo ich immer wieder überlegte, dass es doch irgendeine Verbindung zwischen der Toten und dem Rotmantel geben müsse.
Voll Hoffnung trat ich am nächsten Tag in den Gerichtssaal. Es lagen mehrere Briefe auf dem Tisch. Der alte Senator fragte mich, ob sie meine Handschrift hätten. Ich sah sie an und fand, dass sie den beiden Zetteln ähnelten, die ich als Botschaft erhalten hatte. Ich sagte es den Senatoren, aber man schien nicht darauf zu achten, denn der Namenszug unter den Briefen war unverkennbar ein Z, der Anfangsbuchstabe meines Namens. Die Briefe aber enthielten Drohungen an die Verstorbene und Warnungen vor der Hochzeit.
Als ich am dritten Tage wieder in den Saal geführt wurde, las man mir das Urteil vor. Das Gericht legte mir einen vorsätzlichen Mord zur Last und verurteilte mich zum Tode. Von allen verlassen, fern von meiner Heimat, sollte ich unschuldig in der Blüte meiner Jahre durch das Beil sterben.
Ich saß am Abend einsam in meinem Kerker. Da tat sich die Türe auf, und ein Mann trat herein, der mich lange schweigend betrachtete. "So also finde ich dich wieder, Zaleukos?", sagte er. Der Klang seiner Stimme erweckte alte Erinnerungen in mir. Es war Valetty, ein Freund, den ich in Paris während meiner Studien kennen lernte. Er sagte, er habe von meiner Geschichte gehört und sei gekommen, um mich noch einmal zu sehen. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Ich schwor ihm hoch und heilig, dass alles wahr sei. "Hast du Bianka wirklich nicht gekannt?", fragte Valetty. Ich beteuerte, sie nie gesehen zu haben.
Nun erzählte mir mein Freund, dass ein tiefes Geheimnis auf der Tat liege. Der Gouverneur habe meine Verurteilung sehr hastig betrieben, und es sei ein Gerücht unter die Leute gestreut worden, dass ich Bianka aus Rache über ihre Heirat mit einem Anderen ermordet habe. Ich sagte zu Valetty, dass der Träger des Rotmantels sehr verdächtig sei, dass ich aber nichts beweisen könne. Mein Freund umarmte mich und versprach, alles zu tun, um wenigstens mein Leben zu retten.
Zwei lange Tage war ich in Ungewissheit. Endlich erschien Valetty und sprach: "Ich bringe Trost. Du wirst leben und frei sein, aber eine Hand verlieren." Ich dankte meinem Freund für die Rettung meines Lebens. Er sagte mir, dass der Gouverneur unerbittlich gewesen sei. Dann habe er aber zugestimmt, dass man in den Büchern der florentinischen Geschichte nach einen ähnlichen Fall Ausschau hielt, um sich danach zu richten.
Tag und Nacht hatte Valetty in den alten Büchern gelesen und endlich einen Fall gefunden. Dort lautete die Strafe: Es soll ihm die linke Hand abgehauen werden, seine Güter eingezogen, er selbst auf ewig verbannt werden. So lautete jetzt auch meine Strafe. Und ich will euch nicht diese Stunde vor Augen führen, da ich meine Hand auf den Block legte und mein Blut strömte!
Valetty nahm mich in sein Haus auf, bis ich genesen war. Dann versah er mich edelmütig mit Reisegeld, denn ich hatte ja alles verloren. Ich reiste mit dem ersten Schiff, das ich fand, von Florenz nach Konstantinopel. Meine Hoffnung war auf das Geld gerichtet, das ich einst meinem Freunde übergeben hatte. Ich konnte nur staunen, als dieser mich fragte, warum ich denn nicht mein Haus beziehe! Er sagte, dass ein fremder Mann unter meinem Namen ein Haus im Quartier der Griechen gekauft habe. Dieser Mann habe den Nachbarn gesagt, dass ich bald selber kommen werde. Ich ging sogleich mit meinem Freund dorthin und wurde von allen meinen Bekannten freudig empfangen. Ein alter Kaufmann gab mir einen Brief, den der fremde Mann für mich dagelassen habe.
Ich las: "Zaleukos! Zwei Hände stehen bereit, rastlos für dich zu schaffen. Das Haus, das du siehst, ist dein. Und alle Jahre wird man dir so viel reichen, dass du zu den Reichen deines Volkes zählen wirst. Mögest du dem vergeben, der unglücklicher ist, als du selbst." Ich konnte ahnen, wer es geschrieben hatte, und der Kaufmann gab an, dass es wohl ein Franke gewesen sei. Er habe einen roten Mantel angehabt.
In meinem neuen Haus fand ich alles aufs Beste eingerichtet, und das Gewölbe war mit Waren gefüllt. Zehn Jahre sind seitdem verstrichen. Aus alter Gewohnheit gehe ich immer noch auf Handelsreisen, doch habe ich jenes Land, wo ich so unglücklich wurde, nie mehr betreten.
Jedes Jahr erhielt ich tausend Goldstücke. Es machte mir auch Freude, doch es kann mir den Kummer meiner Seele nicht ersetzen, denn das grauenvolle Bild der ermordeten Bianka trage ich ewig bei mir.