Die Geschichte vom Magnetberg
Jeden Tag sahen die Gläubigen der Großen Moschee von Bagdad einen Lastenträger des Weges kommen. Sein Bart und sein Haar waren kurz geschoren und über dem linken Auge trug er eine schwarze Binde.
Eines Tages kam eine schöne junge Frau in anmutigen Schritten und mit wiegenden Hüften auf ihn zu. Sie schlug ihren Schleier zurück und sah ihn an.
„Nimm dieses Paket mit Oliven, Safranblüten, Schlangenkraut und Syrerkäse und trage es in mein Haus“, sagte sie. Der Lastträger tat, was sie sagte. Im Haus angekommen, bat sie ihn, sich auszuruhen. Erschöpft ließ er sich auf ihr Bett fallen.
„Woher kommst du?“ fragte sie ihn. „Ich sehe dir an, dass du ein Fremder bist. Deine Haut ist heller als unsere. Also erzähle mir, aus welchem Land kommst du und warum hast du ein Auge verloren? Warst du im Krieg oder hast du es durch eine Krankheit verloren?“
Der Lastträger schüttelte den Kopf. „Nein, nein“, sagte er. „Ich selbst bin schuld daran. Aber das ist eine lange und sonderbare Geschichte.“
„Das dachte ich mir“, antwortete die junge Frau. „Aber ich würde sie gerne erfahren. Ich höre dir gerne zu und es interessiert mich zu erfahren, wer du eigentlich bist.“
„Also höre“, sagte der Lastträger.Und dann begann er, zu erzählen.
Mein Name ist Adschib, ich bin der Sohn des Kassib. Dieser Name war einst in allen Ländern der Erde bekannt, denn ich war König und zugleich Sohn eines Königs. Außerdem war ich Gelehrter. Ich las alle heiligen Bücher, ich kannte die Sterne und die Dichter.
Als mein Vater starb, bestieg ich den Thron. Ich war ein gerechter und freundlicher Herrscher, war weise und tat viel Gutes. Jeder meiner Untertanen mochte mich.
Gerne ging ich auch zur See. Ich liebte das Meer, an dem unserer Hauptstadt lag. Und ich liebte die Inseln, die mir gehörten.
Eines Tages wollte ich meine Inseln besuchen. Darum nahm ich mit meinen Matrosen ein Schiff und wir stachen in See. Die Reise dauerte lange, fast zwanzig Tage, aber es war eine schöne Reise ohne besondere Zwischenfälle.
Doch plötzlich in einer Nacht kamen starke Winde auf. Bis zum Anbruch des Morgens wehte es stürmisch. Als der Sturm endlich vorbei war, erblickten wir eine Insel im Meer, auf der wir rasten konnten. Hier gingen wir an Land und ruhten uns aus, bis wir erneut in See stachen.
Als wir uns aber von der Insel entfernt hatten, verloren wir unseren Weg. Das Gewässer, durch das wir nun trieben, hatte niemand von uns zuvor gesehen, auch der Kapitän nicht. So sagten wir zu dem Matrosen, der Wache hielt:
„Steig zur Spitze des Mastes hinauf und schau, ob du etwas sehen kannst.“
Der Matrose tat, wie wir ihm befohlen hatten. Er stieg den Mast empor und schaute sorgfältig in alle Richtungen. Dann rief er:
„Oh mein Gebieter, ich sehe in der Ferne ein seltsames Ding. Das wird mal hell und mal dunkel.“
Da riss sich der Kapitän seinen Turban vom Kopf und warf ihn in den Schmutz. Dann raufte er sich voller Verzweiflung die Haare.
„Himmel, wir sind des Todes!“, rief er mit einer Grabesstimme. „Ich sage euch, niemand von uns wird gerettet werden.“
Als wir ihn so verzweifelt sahen, wurden auch wir sehr unglücklich. „Oh Kapitän“, rief ich. „Bitte sage uns doch erst mal, was die Wache eigentlich gesehen hat.“
„Mein Fürst“, erwiderte der Kapitän. „Morgen, wenn sich der Tag dem Ende neigt, werden wir zu einem Berg kommen, der aus schwarzem Gestein ist. Das ist der Magnetberg. Auch wenn wir versuchen, gegenzusteuern, wird uns die Strömung genau in diese Richtung treiben und wir sind machtlos dagegen.
Und sobald sich das Schiff zur Leeseite wendet, werden sich die Planken des Schiffes öffnen, und jeder Nagel wird heraus fliegen und an dem Berg haften bleiben. Denn die Allmacht Allahs hat dieses Gestein mit einer geheimnisvollen Kraft ausgestattet, mit der es ihm gelingt, alles Eisen an sich zu ziehen. Unendlich viel Eisen hängt bereits an diesem Magnetstein und alle Schiffe liegen in einzelnen Bestandteilen am Fuße des Berges.
Auf dem Gipfel des Berges aber steht eine Kuppel aus gelbem Kupfer, die von zehn Säulen getragen wird. Auf der Spitze dieser Kuppel steht ein Reiter aus Messing. Er hält eine Lanze in der Hand, die auf einen besonderen Stern am Himmel zeigt. Auf der Brust dieses Reiters befindet sich eine Platte aus Blei. Auf ihr sind Namen geschrieben, die magische Kräfte enthalten.
Und eins müsst ihr wissen, oh mein Fürst: solange dieser Reiter auf seinem Pferd sitzt, werden alle Schiffe, die unter ihm vorbei segeln, zugrunde gehen. Der Zauber wird erst enden, wenn er von seinem Pferd fällt.“
Nach diesen Worten begann der Kapitän, zu fluchen und zu jammern. Wir sahen den Tod nahen. Verzweifelt nahmen wir Abschied voneinander und vertrauten uns unsere letzten Willen an, in der Hoffnung, dass einer von uns überleben würde.
In dieser Nacht bekam niemand von uns ein Auge zu. Und als der neue Tag anbrach, waren wir dem Berg ein ganzes Stück näher gekommen. Das Wasser aber hatte uns ergriffen und trieb uns unaufhörlich dem Berg entgegen, ohne dass wir etwas dagegen tun konnten.
Als das Schiff immer näher kam, flogen tatsächlich alle Nägel und Eisenteile aus den Holzplanken heraus und hafteten am Magnetberg fest. Das Schiff zerfiel. Wir alle stürzten ins Meer. Einige von uns ertranken, andere wurden gerettet. Aber die Geretteten konnten einander nicht wieder finden. Die Wellen und der Wind vertrieben sie ins Ungewisse.
Allah rettete zwar mein Leben, aber nur, um mir neue Leiden zu senden und mich neuen schweren Prüfungen zu unterziehen.
Es gelang mir, mich an einer Planke des Schiffes fest zu halten, und so trieb ich an einen Felsen des Berges. Ich rettete mich schließlich auf den Berg. Dort sank ich auf die Knie, sprach ein Gebet und dankte Allah für meine Rettung. Doch dann überkam mich eine große Müdigkeit und ich fiel auf die Erde und schlief ein.
Da hörte ich im Schlaf eine Stimme, die sprach:
„Oh Sohn des Kassib, höre gut zu! Wenn du erwachst, sollst du die Erde unter den Füßen beiseite scharren. Darunter findest du einen Bogen aus Kupfer und drei Pfeile aus Blei, in denen Talismane eingraviert sind.
Nimm Pfeile und Bogen und schieße damit zu dem Reiter auf der Kuppel. Wenn du ihn triffst und beseitigst, wirst du den Söhnen von der Erde die Ruhe zurückgeben und sie von diesem Fluch befreien. Denn sobald du ihn getroffen hast, wird er ins Meer fallen. Das Pferd aber wird zu deinen Füßen herab stürzen. Dann verscharre es im Sand.
Bleibe ruhig, auch wenn nun das Meer zu brausen beginnt und das Wasser höher und höher bis zu dem Gipfel steigt. Dann wirst du im Meer eine Barke entdecken, in der sich eine Gestalt befindet. Die Gestalt hält ein Ruder in der Hand und kommt direkt auf dich zu. Habe keine Angst, sondern steige in die Barke.
Doch merke dir eins: dreh dich auf keinem Fall um. Wenn du in der Barke bist, wird die Gestalt dich zehn Tage lang führen und lenken. Dann gelangst du zu der Insel, die man „Insel des Heils“ nennt. Hier findest du Leute, die dich in deine Heimat zurück bringen.
Doch vergiss nicht: Alles geschieht nur unter der Bedingung, dass du dich nicht umdrehst.“
Dann erwachte ich aus meinem Schlaf und machte mich sofort daran, den Befehl der geheimnisvollen Stimme auszuführen. Ich suchte Pfeil und Bogen im Sand und schoss den Reiter von der Kuppel herab. Er stürzte ins tiefe Meer, während das Pferd tatsächlich zu meinen Füßen hernieder sank. Dort verscharrte ich es sofort, wie es mir aufgetragen war.
Nun begann tatsächlich die See zu steigen. Das Wasser erreichte den Berggipfel. Und da erblickte ich auch das Boot, das langsam auf mich zu steuerte. Als es näher gekommen war, konnte ich im Boot einen Mann aus Kupfer erkennen, der eine Bleiplatte auf der Brust hatte. In dieser Platte waren Namen, Zahlen und Zeichen eingeritzt.
Und der Mann aus Kupfer fuhr mich zehn lange Tage durch die Fluten. Dann endlich erschienen mir in der Ferne die Inseln des Heils. Ich freute mich, glaubte ich doch, meine Rettung sei gekommen. Und weil ich glaubte, alle Gefahr sei vorbei, drehte ich mich um.
Das hätte ich nicht tun dürfen, denn der Mann aus Kupfer fasste mich und schleuderte mich aus der Barke in das tiefe Meer. Dann entschwand er in der Ferne und war nicht mehr zu sehen.
Wahrlich, ich bin ein guter Schwimmer. So war es mir möglich, einen ganzen Tag lang durch das Meer zu schwimmen. Doch als die Nacht heran bracht, spürte ich, wie meine Arme erlahmten und mein Atem kurz wurde.
Ich befürchtete schon, sterben zu müssen, da erfasste mich eine Welle, hoch wie ein Hügel, und warf mich auf die Küste eines unbekannten Landes. Ich kroch ans Ufer, brach zusammen und schlief so tief wie eine Schildkröte im Herbst.
Am nächsten Morgen erkundete ich das Ufer näher und stellte fest, dass ich auf einer Insel gelandet war. Ich wurde tieftraurig und mir sank jeglicher Mut. Doch plötzlich sah ich in der Ferne ein Schiff, das sich der Insel näherte. Ich kletterte auf einen Baum und versteckte mich im Laubwerk, um abzuwarten, was nun geschah.
Aus dem Schiff stiegen zehn Sklaven, die eine Hacke in der Hand hielten. Sie machten sich auf den Weg landeinwärts über die Insel. Irgendwann machten sie Halt und begannen zu graben, bis sie auf eine Metalltür stießen, die unter der Erde verborgen war.
Sie öffneten diese Falltür und kehrten zum Schiff zurück. Nun transportierten sie Lasten vom Schiff in diese seltsame Unterwelt. Brot und Honig, Butter und Braten trugen sie. Später trugen sie auch Stoffe, Kleider, ein Vogelhaus, ein Ballspiel und Bücher. Ununterbrochen zogen die Sklaven hin und her und her und hin und brachten so viele gute Dinge in ihr Lager.
Als alle Arbeit erledigt war, erschien ein würdiger alter Mann, der einen jungen Mann an der Hand hielt. Der junge Mann war von wunderbarer Schönheit, und er bezauberte mein Herz mit seiner Anmut.
Die Sklaven umringten ihn. Dann gingen alle zusammen in die Höhle hinunter. Als sie wieder heraus kamen, war der schöne junge Mann nicht mehr bei ihnen. Die Sklaven schlossen die Falltür sorgfältig ab, legten die Metallplatte darüber und schütteten die Erde darauf. Nun war alles wie vorher. Dann gingen alle zum Schiff zurück, zogen den Anker ein und fuhren davon.
Als ich sie nicht mehr sehen konnte, kletterte ich von meinem Baum herunter und ging genau zu der Stelle, wo ich die Metallplatte wusste. Ich grub die Erde zur Seite, bis ich an die Deckplatte kam. Ich brauchte all meine Kraft, sie zu heben. Dahinter wurde eine Wendeltreppe sichtbar.
Vorsichtig stieg ich die Treppe hinab und gelangte in eine große Halle. Sie war mit schönen Teppichen behangen. Mitten in der Halle auf einem Ruhebett lag der schöne Jüngling zwischen Kerzen, Blumen und Obst und fächerte sich Luft zu.
Als er mich sah, wurde er blass vor Angst. Doch ich sagte ihm:
„Hab keine Angst, ich bin ein Mensch wie du, der Sohn eines Königs und selbst sogar König. Das Schicksal hat uns zusammen geführt. Bitte erzähle mir, was du hier machst und warum du hier so einsam unter der Erde liegst.“
Er brauchte eine Weile, bis er mir glaubte, dass ich seinesgleichen war, und allmählich schwand die Blässe aus seinem Gesicht und er freute sich sehr, dass ich zu ihm gekommen war. Dann bat er mich, sich zu ihm zu setzen und sprach:
„Oh mein Bruder, die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist eine Geschichte, die Angst macht. Du musst wissen, ich bin der Sohn eines Juwelierhändlers, der im ganzen Land als reicher und edler Mann bekannt ist und der über erlesene Schätze verfügt.
Durch die ganze Welt sandte mein Vater seine Karawanen, um schöne Steine an Könige und Fürsten zu verkaufen.
Leider wurde ihm von Allah kein Kind geschenkt, und weil er täglich älter und älter wurde, verließ ihn der Mut, dass sich dieser große Wunsch für ihn erfüllen werde.
Da träumte er einen Traum. Eine Fee trat zu ihm und prophezeite ihm einen Sohn. Sein Leben, so sagte sie, würde schön aber kurz werden. Und dann wurde ich geboren.
Mein Vater befragte die Astrologen, die die Lehren der Planeten und himmlischen Kräfte kennen, die Gelehrten und die Weisen, die sich über die Seelen der Menschen auskennen, sowie das Buch der Natur, um meine Zukunft heraus zu finden.
Die Weisen berechneten den Stand der Sterne beim Augenblick meiner Geburt, rechneten, verglichen mein Horoskop mit anderen und berieten sich dann lange. Dann sprachen sie zu meinem Vater:
„Dein Sohn wir bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr in Frieden leben, doch dann zeigen sich unheilvolle Zukunftsvisionen. Nur wenn er in der Lage ist, diese schwierige Zeit zu überstehen, wird er in der Lage sein, ein langes Leben zu führen.
Doch eine schwere Prüfung ist ihm auferlegt:
In dem Meer, das man Meer der Gefahren nennt, ragt ein einsamer Berg heraus, den man den Magnetberg nennt. Auf dem Gipfel steht ein Reiter aus Messing, der ein uraltes Zauberbild ist.
Fünfzig Tage aber, nachdem der Messingreiter vom Magnetberg gestürzt ist, ist dein Sohn in großer Gefahr. Es kann sein, dass er sterben muss. Sein Mörder wird der Mann sein, der den Reiter herab geschossen hat, ein Prinz namens Adschib, der Sohn des Königs Kassib.“
Mein Vater wurde von großem Kummer erfasst. Er umsorgte mich mit seiner Liebe und passte auf mich auf. Die Zeit verging, und dann kam der Tag meines fünfzehnten Geburtstages. Es vergingen weitere zwanzig Tage, an denen nichts geschah.
Doch dann zehn weitere Tage später erhielt mein Vater die Nachricht, dass der Messingreiter ins Meer gestürzt war. Mein Vater erschrak und schrie auf vor Schmerz. Und dann ließ er einen unterirdischen Palast auf der Insel bauen, in den er alles bringen ließ, was man zum Leben brauchte.
Nun brachte er mich hier hin und versteckte mich in diesem unterirdischen Palast, fern von allen Menschen. In diesem Versteck brauchte ich mich nicht zu fürchten.
Alles das taten wir nur, um mich vor dem Prinzen Adschib zu verstecken. Darum lebe ich hier in dieser Einsamkeit. Und hier werde ich fünfzig Tage aushalten müssen. Zehn Tage sind schon vorbei, vierzig muss ich noch aushalten. Wenn diese Tage vorbei sind, wird mein Vater kommen und mich zurückholen.
Als ich diese Geschichte hörte, wunderte ich mich sehr.
„Aber ich bin Prinz Adschib, der Sohn des Königs Kassib!“, rief ich aus tiefstem Herzen. „Doch was sprichst du für ein krauses Zeug. Ich werde dich ganz bestimmt nicht töten. Ganz im Gegenteil: Ich werde hier bei dir leben, auf dich aufpassen und dir in dieser langen Zeit Gesellschaft leisten.
Dann will ich dich nach Hause begleiten. Wenn du mir danach ein paar Gefolgsleute zur Verfügung stellst, kann auch ich in meine Heimatstadt zurückkehren. Und Allah wird seine Freude an uns haben und uns unsere guten Taten vergelten.“
Der schöne Jüngling war sehr erfreut über meine Worte.
Ich aber stand auf, zündete einen Leuchter an und reinigte alle Lampen, damit sie heller brannten. Dann deckte ich den Tisch mit Getränken, Speisen und Süßigkeiten. Wir saßen zusammen, aßen und freuten uns an dem köstlichen Essen.
Nebenbei unterhielten wir uns bis in die tiefe Nacht hinein. Dann legten wir uns nieder und schliefen bis zum frühen Morgen. Später bereitete ich das Frühstück. Wieder aßen wir zusammen, spielten, plauderten, lachten, aßen aufs Neue und waren fröhlich bis zum nächsten Abend.
Und er sagte zu mir: „Möge der Himmel dich segnen!“ Und ich erwiderte: „Möge mein letzter Tag vor dem deinen kommen!“ So verbrachten wir die Zeit.
Als nun der letzte Tag gekommen war, der vierzigste nach neununddreißig Tagen, wollte der junge Mann ein Bad nehmen, und ich wärmte ihm das Wasser in einem großen Kupferkessel. Dann goss ich es in ein Becken.
Der junge Mann badete und ich massierte ihn, brachte ihn dann zu seinem Lager und deckte ihn gut zu. Seinen Kopf umwickelte ich mit einem Seidentuch, das mit Silber bestickt war.
Dann wollte der junge Mann essen. Ich wählte die schönste Wassermelone, legte sie auf einen Teller und stellte den Teller auf den Teppich.
Dann stieg ich auf das Bett, um das große Messer zu nehmen, das an der Wand direkt über den Kopf des Jünglings hing.
In diesem Moment wollte der junge Mann mich ein bisschen necken, und kitzelte mich am Unterschenkel. Nun bin ich aber sehr empfindlich gegen Kitzeln. Ich zuckte zusammen, fiel auf den Jüngling, und das Messer, das ich in der Hand hielt stach direkt in sein Herz.
Dann erst sah ich, was ich getan hatte. Der Jüngling war tot, und ich hatte ihn getötet. Da schrie ich auf vor Schmerz und verfluchte mich selbst. Unter Tränen sprach ich zu mir:
„Ein Tag war noch übrig von den vierzig gefährlichen Tagen. Ach, wenn ich doch nie dieses Messer genommen hätte. Ach, wenn ich doch nie diese Melone berührt hätte.
Oh Allah, ich flehe zu dir in meiner Not und erkläre dir hiermit feierlich meine Unschuld an seinem Tode. Doch was dein Wille bestimmt, das geschieht und geschehe.“
Verzweifelt stieg ich die Treppe hinauf und schloss die Falltür hinter mir. Dann bedeckte ich sie mit Erde. Doch kaum hatte ich die Arbeit getan, sah ich ein Schiff mit weißen Segeln, das direkt auf die Insel zukam.
Da wurde ich von großer Angst geschüttelt, und mein Herz erbleichte in meiner Brust.
Ich sagte mir: „Wenn diese Menschen an Land kommen und den toten Jüngling finden, werden sie glauben, dass ich es war, der ihn umgebracht hat. Und dann werden sie mich töten.“
So stieg ich auf einen Baum und versteckte mit zwischen den Blättern. Kaum hatte ich mich versteckt, da ging das Schiff vor Anker. Die Sklaven und der alte Mann stiegen aus und gingen geradewegs auf den Platz zu, an dem sich die Falltür befand. Sie schaufelten die Erde beiseite, öffneten sie und stiegen hinab zur Höhle.
Hier fanden sie den Jüngling. Seine Haut glänzte noch von dem Bad, das ich ihm bereitet hatte, und in seinem Herzen fanden sie das Messer vor, durch das er gestorben war. Ich hörte, wie sie schrieen und den Mörder verfluchten.
Dann trugen sie den toten Jüngling ans Tageslicht und legten ihn auf die Erde. Der alte Mann beugte sich über ihn und fiel in Ohnmacht.
Und ich saß die ganze Zeit über zwischen den Blättern des Baumes, hörte ihr Klagen und Weinen und mein Herz zerriss fast vor Schmerz.
Als die Sonne sank, kam der alte Mann wieder zu sich. Es kam ihm die Erinnerung an das, was geschehen war, und er schüttelte sich vor Schmerz. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus, sank hernieder und starb.
„Oh wehe, unser Herr ist von uns gegangen“, riefen die Sklaven. Und sie streuten Sand auf ihren Kopf.
Dann trugen sie ihren toten Herrn zum Schiff, kamen zurück und nahmen auch den Sohn. Dann setzten sie die Segel, zogen den Anker ein und segelten davon.
Langsam stieg ich vom Baum herunter und kehrte zur Falltür zurück. Ich stieg die Treppe hinunter und betrat den Raum, in dem ich mich vierzig Tage aufgehalten hatte. Alles in diesem Raum erinnerte mich an den toten schönen Jüngling.
Und ich sprach den Vers vor mich hin: „Noch seh ich überall seine Spuren, ach Verlassenheit und Sehnsucht treibt mir die Tränen in die Augen.“
Jeden Tag ging ich nun um diese Insel herum und jede Nacht kehrte ich in diese Höhle unter der Erde zurück. So lebte ich einen Monat lang.
Dann eines Tages bemerkte ich, dass die Flut gesunken war und neues Land am Horizont erschien. Und als der Monat vorbei war, machte ich mich auf, das neue Land kennen zu lernen.
Der Weg war mühsam. Ich ging einen ganzen Tag lang, und als die Sonne sank, sah ich in der Ferne ein leuchtendes Feuer. Ich freute mich, hoffte ich doch, dass ich von dort Hilfe bekäme.
Als ich näher kam, erkannte ich, dass es kein Feuer war, das mich hergeführt hatte. Das Funkeln ging vom Kupferdach eines Palastes aus, auf das die sinkende Sonne ihren Glanz warf.
Lange betrachtete ich den Palast. Fremd und mächtig sah er aus. Plötzlich öffnete sich die Pforte und zehn Jünglinge traten heraus, einer schöner und kraftvoller als der andere.
Als ich näher kam, sah ich, dass alle Jünglinge ihr linkes Auge verloren hatten, mit Ausnahme eines alten Mannes, der als elfter aus der Pforte trat.
Sie kamen auf mich zu und verneigten sich. „Friede sei mit dir!“, sagte sie. Und dann fragten sie mich nach meiner Geschichte.
Nachdem ich ihnen meine Geschichte erzählt hatte, staunte sie sehr. Dann sprachen sie zu mir: „Komm herein zu uns. Möge uns deine Ankunft Glück bringen.“ Und so traten wir ein. Wir durchschritten viele Säle, die mit Goldbrokat bespannt waren, bis wir in einen Saal kamen, der größer und prächtiger als alle anderen war. Zehn Betten waren hier aufgebaut. In der Mitte aber lag ein kostbarer Teppich. Darauf ließ sich der alte Mann nieder, während sich die Jünglinge auf die Betten legten.
Dann sprachen sie zu mir: „Herr, lasse dich am oberen Ende des Saales nieder. Aber verhalte dich ruhig und stelle keine Fragen, was immer auch geschieht und was immer du auch siehst.“
Dann stand der alte Mann auf und verließ den Saal.
Als er zurückkam, verteilte er Speisen und Getränke, und gab allen davon. Wir aßen und tranken gemeinsam. Dann sagten die Jünglinge:“
„Nun bringe uns, was wir brauchen.“
Ohne ein Wort zu sagen, stand der alte Mann auf und verließ den Saal. Als er zurückkam, trug er in der Hand eine Schüssel, die mit einem Tuch zugedeckt war. In der anderen Hand hielt er eine Kerze.
Jedes mal stellte er die Schüssel und die Kerze vor einen der Jünglinge und verschwand wieder, um eine neue Schüssel und eine neue Kerze zu holen.
Nur ich erhielt nichts. Dann nahmen die Jünglinge das Tuch von der Schüssel, und ich sah, dass Asche darin war. Sie nahmen die Asche, streuten sie auf ihren Kopf und schwärzten ihr Gesicht damit. Dann begannen sie zu klagen und zu stöhnen. Dabei riefen sie: „Ach, es ist alles unsere Schuld und alles, was wir tun müssen, geschieht uns recht.“
So stöhnten und klagten sie bis Mitternacht, und es hörte sich schauerlich und beängstigend an. Dann brachte ihnen der alte Mann andere Schüsseln. Sie wuschen sich, zogen sich andere Kleider an und waren wir vorher.
Da alles verwirrte mein Herz sehr und ich fragte: „Was ist mit euch? Warum tut ihr das? Ihr seid doch gesund und normal, warum bei Allah benehmt ihr euch wie Wahnsinnige?“
Sie winkten verlegen ab. „Stell uns keine Fragen!“, sagten sie. Dann legten sie sich schlafen, und ich tat es ihnen nach.
Als wir am nächsten Morgen erwachten, brachte der alte Mann uns Frühstück, und alles war wie immer.
Und der nächste Tag begann und verlief wie der Tag davor. Als es Abend wurde, sagten die Jünglinge wieder zu dem alten Mann:
„Bring uns, was wir brauchen!“ Und wieder brachte er ihnen die Schüsseln, wieder streuten sie Asche auf ihr Haupt und wieder begannen sie zu klagen und zu stöhnen.
Ich konnte das nicht mehr aushalten, und ich rief: „Ich verstehe euch nicht. Ich will wissen, was ihr für ein Geheimnis zu verbergen habt. Ich will wissen, warum ihr euer Auge verloren habt. Ihr sagt immer, ich soll nicht fragen, aber ich kann nicht anders. Ich will wissen, was hier los ist.“
Doch sie sagten: „Es ist besser, wenn du es nicht weißt.“
Aber das machte mich nur noch neugieriger. „Ich muss es wissen“, rief ich. „Sagt es mir bitte.“
Und sie erwiderten: „Wisse, es ist nur zu deinem Besten, dass wir dir nichts verraten. Denn wenn wir dir deine Bitte erfüllen und dir unser Geheimnis verraten, wirst du wie wir ein Auge verlieren. Und das ist nicht alles. Es wird dir noch viel übler ergehen.“
Doch ich wollte es einfach wissen. So sprach ich: „Wenn ihr mir euer Geheimnis nicht verraten wollt, werde ich gehen. Schließlich will ich nicht unter Verrückten leben. Es tut mir Leid, dass ich das sage. Ich will euch nicht beleidigen. Doch beleidigt ihr nicht auch mich durch euer Schweigen? Es ist genug. Ich gehe und verlasse dieses Haus des Schweigens und der Asche.“
Und so erhob ich mich. Da sagten sie: „Bleib!“
Und einer von ihnen sprach: „So soll sich dein Wunsch erfüllen, aber auch dein Schicksal. Es wird dir geschehen, was uns geschehen ist. Aber klage nicht und denke daran, dass es dein Wille war. Aber du musst wissen, wenn du dein Auge verloren hast, kannst du nicht in unser Haus zurückkehren. Wir sind schon zehn, und du bist von anderer Art als wir. Also überlege es dir gut.“
Danach brachte der alte Mann einen Hammel, schlachtete ihn und zog die Eingeweide heraus. Dann zog man dem Hammel die Haut ab und reinigte sie.
Nun sprachen die Jünglinge zu mir: „Lass dich nun in die Haut des Hammels nähen und dich auf das flache Dach des Palastes legen. Kurze Zeit später wird ein großer Vogel kommen und dich holen. Sein Name ist Roch. Er ist so stark, dass er in der Lage ist, einen Elefanten davon zu tragen.
Der Vogel wird dich für einen Hammel halten und dich mitnehmen, um dich zu fressen. Er wird dich hoch in die Wolken tragen und dich auf einem Berg niederlassen, um dich da zu verschlingen. Du musst dann mit deinem Messer die Haut des Hammels aufschlitzen und heraus kriechen.
Der Vogel Roch mag kein Menschenfleisch, und er wird sich vor dir erschrecken und davon fliegen. Du aber bist jetzt weit gereist. Mache dich auf und wandere zu einem Palast, das sich dort ganz in der Nähe befindet. Es ist zehnmal größer und zehnmal schöner als unser Palast.
Gold bedeckt das Dach und das Mauerwerk ist mit Edelsteinen besetzt. Diamanten, Türkise und Smaragde findet man hier.
Die Pforte wird für dich geöffnet sein. Tritt hinein, wie wir es damals auch gemacht haben. dann wird sich dein Wunsch erfüllen, und du wirst das Geheimnis erfahren.
Mehr dürfen wir dir nicht verraten. Da aber deine Neugier nicht zu stillen ist, wirst du den gleichen Weg beschreiten müssen, den auch wir damals gegangen sind. Möge aber dein Schicksal dir gnädig sein.“
Ich ließ mich durch diese mahnenden Worte nicht von meinem Entschluss abbringen, und so gaben sie mir ein Messer und nähten mich in die Haut des Hammels ein. Sie legten mich auf das Dach des Palastes und zogen sich zurück.
Schon nach kurzer Zeit spürte ich den Vogel kommen. Er schnappte mich und flog mit mir davon. Als er mich eine Weile später auf der Erde ablegte, ergriff ich das Messer und kroch aus der Haut des Hammels heraus. Der Vogel erschrak, als er mich sah, und flog davon. Erst jetzt sah ich, dass er ein großer weißer Vogel war, dick wie zehn Elefanten und groß wie zwanzig Kamele.
Ich zögerte nicht lange. Die Neugier trieb mich voran, und so wanderte ich bis ich mittags am Goldpalast ankam.
Der Palast übertraf alles an Schönheit und Reichtum, was ich je gesehen hatte. Neben dem Portal, durch das ich schritt, gab es neunundneunzig Türen aus vornehmstem Sandelholz und Aloe. Sie waren mit Gold und Rubinen verziert, die Türklinken waren aus reinstem Silber.
Und hinter jeder Tür verbarg sich ein Saal oder ein Garten, in dem sich die edelsten Schätze des Meeres oder der Erde häuften.
Im ersten Saal, in den ich trat, fand ich mich zwischen vierzig Mädchen wieder. Sie waren eine schöner als die andere, sodass ich fast den Verstand verlor.
Sie trugen goldene Schleier, ihre Körper waren anmutig, wie Gazellen in der Steppe und ihre Haut war so geschmeidig wie ein Leopard in der Wüste. Ihre Augen sahen sanft aus, und ihr Mund hatte ein heiteres Lächeln. Ihre Gesichter erstrahlten wie Blumen in der Oase.
Ich war so verwirrt von ihrer Schönheit, dass ich für einige Zeit meine Augen schließen musste, so sehr hämmerte mein Herz.
Die Mädchen aber sagten: „Allah sei gepriesen, dass er uns einen Menschen sandte, der so wertvoll ist, wie wir es sind. Möge unser Haus auch dein Haus sein, Fremder.“
Dann baten sie mich, mich auf dem Diwan nieder zu lassen. „Heute bist du unser Herr und Gebieter und wir sind deine Sklavinnen“, sagten sie zu mir. „Sag uns, was wir zu tun haben, und wir werden es für dich tun.“
Dann erhob sich eine und brachte mir Essen, eine andere wärmte Wasser und wusch mir Füße und Hände. Später wechselten sie meine Gewänder, reichten mir Wein, setzten sich zu mir und redeten und lachten mit mir. Als der Abend kam, ließ ich mich auf meinem Lager nieder und schlief glücklich ein.
Auch in den nächsten Tagen wurden alle meine Wünsche erfüllt, und ich lebte und fühlte mich wie im Paradies. So ging es Nacht für Nacht und Tag für Tag.
Glücklich rief ich: „Erst jetzt weiß ich, was es heißt, zu leben. Doch ich weiß auch, dass Glück nicht für immer ist. Eines Tages wird dieses Paradies zu Ende sein.“
„Aber nein“, sagten die Mädchen. „ Du kannst für immer bei uns bleiben. Du musst uns nur versprechen, uns niemals etwas über deine Erlebnisse zu erzählen. Und eins musst du dir ganz besonders zu Herzen nehmen: Niemals darfst du die vierzigste Tür des Saales öffnen, denn dahinter verbirgt sich ein großes Geheimnis.“
Am nächsten Morgen schritt ich durch den Saal und zählte die Türen. Als ich vor der vierzigsten Tür angekommen war, überkam mich meine Neugier und ich öffnete sie mit einem Ruck.
Mitten in dem Saal stand ein herrliches schwarzes Pferd. Es war gesattelt und gezäumt. Vor ihm standen zwei Krippen, eine war aus Kristall und mit Sesam gefällt, die andere war aus Lapislazuli. In ihr befand sich Rosenwasser.
Verwundert schaute ich das Pferd an. Ob das wohl das Geheimnis war? Neugierig nahm ich das Pferd und führte es aus dem Palast heraus. Dann stieg ich in den Sattel. Das Pferd aber bewegte sich nicht.
Da stieß ich meine Fersen in seine Flanken, doch auch jetzt machte das Pferd keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen.
Nun nahm ich die Gerte und schlug zu. Als das Pferd den Schlag fühlte, wieherte es laut. Wie ein Donner klang dieses Wiehern. Dann breitete das Pferd weite Flügel aus und flog mit mir zum Himmel empor. Höher und höher flog es mit mir. Die Landschaft unter mir wurde kleiner und kleiner, schließlich flog es sogar durch die Wolkendecke hindurch.
Die Geheimnisse, die ich hier oben sah, hatte ich noch nie gesehen. Wie eine Wunderwelt sah die Welt des Himmels für mich aus.
Nachdem wir eine Weile geflogen waren, schwebte es auf das Dach eines Palastes herab und warf mich von seinem Rücken. Als ich am Boden lag, schleuderte es mir seinen Schweif ins Gesicht und schlug mir dabei das linke Auge aus.
Ich schrie laut und wand mich in meinem Schmerz. Doch das Pferd drehte sich um und flog davon. Dann verlor ich die Besinnung. Als ich erwachte, war ich sehr verwirrt.
Langsam stieg ich vom Dach herab und befand mich dort, wo ich hergekommen war, zwischen den zehn Jünglingen, die in ihren Ruhebetten lagen.
Als ich sie erblickte, sagte ich zu ihnen: „Nehmt mich in eurer Mitte auf. Seht, ich bin genauso geworden, wie ihr.“
Aber die Jünglinge entgegneten: „Nein! Niemals darfst du in unsere Kreise eindringen. Der Vogel Roch, das fliegende Pferd und die vierzig schönen Mädchen sind unser Geheimnis.
Du kamst vom Magnetberg zu uns und drangst schon viel zu weit in unsere Geheimnisse ein. Nun musst du zurückkehren. Du löst unsere Rätsel nicht. Es reicht, dass du sie erleben durftest. Nun geh in deine Welt zurück und finde den rechten Weg.“
Da drehte ich mich um und ging. Ich schor mir die Haare und den Bart und verzichtete auf mein königliches Dasein. Ich suchte um Vergebung für meinen Übermut und meine Schuld, den schönen Jüngling getötet zu haben. Auch wenn ich es nicht absichtlich getan hatte, so war ich doch nicht mehr würdig, ein Leben im königlichen Goldpalast zu führen.
Jedem von uns wird einmal jede Freude genommen, und jeder von uns fügt einmal einem anderen Leid zu, auch wenn wir es nicht wollen.
So erkannte ich, dass das Leben ohne Leid nur möglich ist, wenn wir auf den Reichtum verzichten. Und weil ich ein Auge verloren hatte, wollte ich zusätzliche Einsicht gewinnen.
So lebte ich als wandernder Mönch und als Fakir. Dann aber erkannte ich, dass nicht in der Einsamkeit das Heil liegt, sondern unter dem Leben mit den Menschen, die Allah erschaffen hat. So wurde ich der, der ich jetzt bin, ein Mann, der Lasten trägt, fremde und eigene.
Ich wanderte durch die Welt, bis ich in die Stadt Bagdad kam. Hier bin ich ein Namenloser geworden, ein einfacher Mensch unter einfachen Menschen. Ich bin ein anderer geworden, zufriedener und weiser als jemals zuvor. Ich habe meinen Frieden gefunden.
Nun, das ist meine Geschichte über mein verlorenes Auge und den geschorenen Bart.
So erzählte der Lastenträger, und die Dame fand seine Geschichte ungewöhnlich, und weil er ihr gefiel, bat sie ihn, zu bleiben. Sie wollte ihn dafür reich beschenken. Doch er, der ein König gewesen war und ein Sohn des Königs, nahm nur den Lohn, der ihn für die Beförderung des Paketes zustand, bedankte sich für die Bewirtung, grüßte die schöne Dame lächelnd und war alsbald in den Straßen der Stadt verschwunden.
Sie aber dachte noch lange über die Geschichte nach.
Den König Schahirar, dem Scheherazade diese Geschichte erzählt hatte, erging es nicht anders. Am nächsten Abend stellte er viele Fragen über die Rätsel des Magnetberges und über den Goldpalast.
„Ich begreife, was diese Geschichte sagen will“, sagte er. „Der Jüngling konnte auf der Insel dem Tode nicht entfliehen, den Allah für ihn bestimmt hatte. Und dafür, dass Adschib in die Geheimnisse der Zehn, dem Flügelpferd und den Wunderwelten eingetaucht war, musste er einen hohen Preis zahlen, sein Auge. Doch dadurch ist ihm eine tiefere Sicht in die Geheimnisse des Lebens gegeben worden, als unsere Augen eigentlich sehen können. Ist es nicht so? Trotzdem verstehe ich von vielen Dingen den Sinn nicht so richtig.“
Da erwiderte Scheherazade: „Oh König. Solche Legenden sind nicht immer leicht zu verstehen. Warum fragt ihr nach dem Sinn? Liegt nicht in jedem Wunderteppich der Märchen mit seinen Linien, Farben und Figuren nicht Sinn genug?“
„Mag sein“, nickte der König. „Mag sein, dass die Geschichten immer dunkler und rätselhafter werden, je länger sie von Mund zu Mund überliefert werden. Doch ich frage dich, Scheherazade, weißt du auch Geschichten aus jüngerer Zeit?“
„Ich kenne eine Geschichte aus der Zeit des großen Kalifen Harun al Raschid“, entgegnete Scheherazade. „Der Inhalt dieser Geschichte ist zunächst, dass ein Mann einen Apfel isst. Doch aus dieser Kleinigkeit ergeben sich seltsame und schreckliche Dinge.“
„Wie seltsam!“, wunderte sich der König. „So seltsam ist das gar nicht“, sagte Scheherazade. „Das Schreckliche oder Seltsame ist oft eine Folge von Kleinigkeiten. Und so wächst aus den kleinen Dingen manchmal etwas Großes. So ist es nicht nur im Märchen, sondern auch im Leben aller Menschen.“
„Erzähle mir die Geschichte“, befahl der König. Und Scheherazade begann.