Die Fahrt im Tarantas
- Autor: Verne, Jules
Am darauf folgenden Tag, dem 19. Juli, legte die "Kaukasus" am Landeplatz in Perm an.
Michael Strogoff wusste bereits genau, wie die Reise weitergehen sollte. Es kam ihm darauf an, möglichst schnell und unabhängig voranzukommen. Das ging nur in einem eigenen Wagen. Die Pferde samt Kutscher konnte er bei den Poststationen wechseln und gegen ein ordentliches Trinkgeld, würde er gute Qualität bei beidem erhalten.
Der Wagen, den der Kurier sich vorstellte, war ein Tarantas. Aufgrund der Verordnung herrschte reger Reiseverkehr und so war es nicht leicht ein zuverlässiges Gefährt zu finden. Mit viel Mühe konnte er noch einen ausfindig machen. Nadja hatte ihn auf seiner Suche begleitet und war mindestens so ungeduldig, wie er.
Der Tarantas schützte seine Insassen durch ein Tuchdach vor Dreckspritzern. Starke Lederdecken, die man ringsum zuknöpfen konnte, verschlossen den Wagen nahezu hermetisch.
"Schwesterchen, ich hätte dir gerne einen bequemeren Wagen ausgesucht!", bedauerte Michael Strogoff.
"Das sagst du zu mir? Ich wäre auch bis Irkutsk gelaufen, um zu meinem Vater zu gelangen."
Eine halbe Stunde später zeigte Michael Strogoff seinen Podaroshna vor und bekam unverzüglich drei Postpferde vor den Tarantas gespannt. Der Kutscher verstaute das wenige Gepäck, dass beide hatten, und schimpfte dabei laut vor sich hin:
"Raben, für sechs Kopeken pro Kilometer."
"Nein, Adler!", erwiderte Michael Strogoff, der die Sprache der Kutscher offenbar kannte. "Neun Kopeken pro Kilometer und ein gutes Trinkgeld."
Raben waren für den russischen Kutscher die armen oder geizigen Fahrgäste. Ein Adler dagegen war der vornehme Reisende, der mit Trinkgeld um sich warf und dementsprechend zügig befördert wurde.
Die Fahrt ging los und der Tarantas flog mit unbeschreiblicher Leichtigkeit über Stock und Stein. Weder Felsbrocken, noch Querrinnen, noch Löcher wurde ausgewichen. Für Michael Strogoff war, das kein Problem aber Nadja schien in ständiger Gefahr, vom Sitz zu fallen. Aber sie klagte nicht.
Als sie ihr Gleichgewicht einigermaßen gefunden hatte, fragte sie: "Wie lange brauchen wir durchs Gebirge?"
"Achtundvierzig Stunden - wir werden die Nacht durchfahren. Ich darf keine Zeit verlieren."
"Ich werde dich nicht aufhalten. Hast du die Route schon einmal gemacht?"
"Schon mehr als einmal. Meine Mutter lebt in Omsk und ich besuche sie, so oft ich kann."
An diesem Tag legte der Tarantas eine beachtliche Strecke zurück. Die Pferde liefen unermüdlich, und der Wechsel an den Poststationen verlief reibungslos.
Im Übrigen waren Michael Strogoff und Nadja nicht die einzigen Reisenden auf der Straße von Perm nach Jekaterinburg. Gleich zu Beginn fiel dem Kurier auf, dass ein Wagen vorausfuhr. Da aber genug Pferde zum Wechseln vorhanden waren, machte er sich keine großen Gedanken.
Gegen Abend überkam ihn doch ein unbestimmtes Misstrauen und er fragte den Postmeister, der gerade neue Pferde einspannen wollte, ob vor kurzer Zeit ein anderer Wagen vorbeigekommen sei.
"Ja, mein Herr. Vor zwei Stunden. Ein Wagen mit zwei Reisenden. Sie waren sehr in Eile - Adler, wie Sie!"
"Dann beeilt Euch, wir müssen schleunigst weiter!"
Die beiden waren fest entschlossen, die Nacht durchzufahren. Alles verlief ohne Zwischenfälle. Trotz des Gepolters konnte Nadja ein paar Stunden schlafen. Durch die zurückgeschlagene Plane kam frische Luft, die die Temperaturen etwas erträglicher machte.
Michael Strogoff blieb wach und kontrollierte, dass der Kutscher nicht einschlief.
Am Morgen so gegen acht Uhr zeichneten sich zum ersten Mal die Vorberge des Urals ab. Die gewaltige Gebirgskette, die Mauer und Grenze zwischen dem europäischen Russland und Sibirien bildet, lag noch in weiter Ferne.
Man würde die Passhöhe vermutlich Mitte der nächsten Nacht überschreiten. Während des ganzen Tages blieb der Himmel bedeckt. Daher war es nicht mehr so unerträglich heiß, aber die Atmosphäre lud sich mehr und mehr auf.
Je näher sie kamen, desto mehr zogen sich dunkle Wolken zusammen und ein fern rollender Donner kündigte ein schweres Gewitter an. Bei solchen Wetterprognosen war es nicht ratsam den Ural in der Nacht zu überqueren. Aber Michael Strogoff konnte und wollte keine Zeit verlieren.
Er versprach dem neuen Kutscher das dreifache Trinkgeld und begann den Tarantas für die kommende Nacht zu rüsten. Die Zügel wurden verstärkt, die Wagenplane durch Stricke gesichert, die Radlager mit Stroh gepolstert und die Achse mit einem Vierkantbalken vernagelt.
Sie sollte das Gefährt Sturm, Regen und unwegsamen Straßen Stand halten. Links und rechts vom Kutscherbock wurden zwei Laternen befestigt, damit der Wagen in der Dunkelheit von eventuellem Gegenverkehr gesehen wurde.
Man sieht, es wurde an alles gedacht, aber im Hinblick auf die bevorstehende Fahrt, war das auch mehr als notwendig.
"Wir sind soweit. Fahren wir los", befahl Michael Strogoff.
Gigantische Wolkenmassen balgten sich am Himmel. Aber es herrschte völlige Windstille. Die Straße führte direkt in die dunkelgrauen Wolkenberge hinein.
Unbeweglich, mit gekreuzten Armen saß Nadja neben ihrem Begleiter, der sich weit hinauslehnte, um den Weg und den Himmel besser beobachten zu können. Die ganze Atmosphäre war inzwischen fast tödlich still geworden.
Michael Strogoff zermarterte sich den Kopf, wer die Reisenden waren, die ihnen immer ein Stück voraus waren. Was trieb sie zu diesem halsbrecherischen Unternehmen?
Von elf Uhr an begannen unaufhörlich Blitze den Himmel aufzuhellen. Je höher sie kamen, desto unheimlicher tönte ein Brausen durch die Luft. Dazwischen vernahm man die Anfeuerungsrufe des Kutschers, der seine Pferde vorwärtstrieb.
"Wann erreichen wir die Passhöhe?", rief Michael Strogoff dem Kutscher zu.
"Um ein Uhr - wenn überhaupt!"
Als ein Blitz, dem ein entsetzlicher Donnerschlag folgte, die Nacht erhellte, konnte Michael Strogoff die Kiefern erkennen, die sich von Sturm weit zur Seite beugten. Der Orkan war nun ausgebrochen. Eine Lawine aus Felsen und zersplitterten Stämmen überrollte einige Meter vor dem Tarantas die Straße und stürzte in die Untiefe.
Die Pferde scheuten und hielten an. Michael Strogoff fasste Nadja bei der Hand.
"Es geht mir gut. Lass den Sturm nur kommen", sagte sie ruhig.