Der Winter im Dörfli
- Autor: Spyri, Johanna
Um die Almhütte lag der Schnee so hoch, dass es aussah, als ständen die Fenster auf dem flachen Boden, denn weiter unten war von der ganzen Hütte gar nichts zu sehen, auch die Haustür war völlig verschwunden. Wäre der Almöhi noch oben gewesen, so hätte er dasselbe tun müssen, was Peter täglich ausführen musste, weil es fast immer über Nacht wieder geschneit hatte.
Jeden Morgen musste Peter jetzt aus dem Fenster der Stube hinausspringen, und war es nicht sehr kalt, so dass über Nacht der neu gefallene Schnee fest gefroren war, so versank er dann so tief in dem weichen Schnee; dann musste er mit Händen und Füßen und mit dem Kopf auf alle Seiten stoßen und werfen und ausschlagen, bis er sich wieder herausgearbeitet hatte. Dann gab ihm die Mutter den großen Besen aus dem Fenster, und mit diesem stieß und scharrte Peter nun den Schnee vor sich weg, bis er zur Tür kam. Dort hatte er dann eine besonders schwere Arbeit, denn da musste aller Schnee abgegraben werden. Tat man das nicht fiel der Schnee, wenn er noch weich war und die Tür aufging, in die Küche hinein, oder er fror fest, und dann war man drinnen ganz eingemauert ,denn durch diesen Eisfelsen konnte man nicht dringen, und durch das kleine Fenster konnte nur Peter hinausschlüpfen.
Für Peter brachte der strenge Frost aber auch viele Bequemlichkeiten mit sich. Wenn er ins Dorf hinunter musste, öffnete er nur das Fenster, kroch durch und kam draußen zu ebener Erde auf dem festen Schneefelde an. Dann schob ihm die Mutter den kleinen Schlitten durch das Fenster nach, und Peter hatte sich nur darauf zu setzen und abzufahren, wie und wo er wollte, er kam jedenfalls hinunter, denn die ganze Alm war zu einer einzigen großen Schlittenbahn geworden.
Der Öhi hatte Wort gehalten und war diesen Winter nicht auf der Alm geblieben. Sobald der erste Schnee gefallen war, hatte er Hütte und Stall abgeschlossen und war mit Heidi und den Ziegen ins Dorf hinuntergezogen. Dort stand in der Nähe der Kirche und des Pfarrhauses ein weitläufiges Gemäuer, das war in alter Zeit ein großes Herrenhaus gewesen, was man noch an vielen Stellen sehen konnte, obschon jetzt das Gebäude überall ganz oder halb zerfallen war.
Da hatte einmal ein tapferer Soldat gewohnt; er hatte dem spanischen König gedient und er hatte wegen seiner Tapferkeit großen Reichtum erworben. Dann war er heimgekommen ins Dorf und hatte von seinem verdienten Geld ein prächtiges Haus errichtet; in dem er leben wollte. Aber schon nach kurzer Zeit konnte er es in dem ruhigen Dorf vor Langweile nicht mehr aushalten, denn er hatte zu lange in einer lauten, unruhigen Welt gelebt. Er zog weg und kam nicht mehr zurück. Als man nach vielen, vielen Jahren sicher wusste, dass er tot war, übernahm ein ferner Verwandter unten im Tal das Haus, aber es war schon am verfallen, und der neue Besitzer wollte es nicht mehr aufbauen. So zogen arme Leute in das Haus, die wenig dafür bezahlen mussten, und wenn ein Stück abfiel von dem Gebäude, so ließ man es liegen. Seit jener Zeit waren aber auch schon wieder viele Jahre vergangen.
Schon als der Öhi mit seinem kleinen Sohn Tobias hergekommen war, hatte er das verfallene Haus bezogen und darin gelebt. Seither hatte es meistens leer gestanden, denn man konnte dort nur leben, wenn man genug handwerkliches Geschick besaß, um das Haus wenigstens ein wenig zu reparieren. Der Winter oben im Dorf war lang und kalt. Dann blies und wehte es von allen Seiten durch die Räume, dass die Kerzenflammen ausgeblasen wurden und die armen Leute fürchterlich froren. Aber der Öhi wusste sich zu helfen. Gleich nachdem er beschlossen hatte, den Winter über im Dorf zu leben, hatte er das alte Haus wieder übernommen und war den Herbst durch öfter heruntergekommen, um darin alles so herzurichten, wie es ihm gefiel. Mitte Oktober war er dann mit Heidi heruntergezogen.
Kam man von hinten an das Haus heran, so trat man gleich in einen offenen Raum ein, da war auf einer Seite die ganze Wand und auf der anderen die halbe eingefallen. Über dieser war noch ein Bogenfenster zu sehen, aber das Glas daraus war längst weg, und dicker Efeu rankte sich darum und hoch hinauf bis zur Decke, die noch zur Hälfte fest war. Die war schön gewölbt, und man konnte gut sehen, das war die Kapelle gewesen. Ohne Tür kam man weiter in eine große Halle hinein, da waren hier und da noch schöne Steinplatten auf dem Boden, und zwischendurch wuchs das Gras dicht empor. Da waren die Mauern auch alle eingestürzt und große Stücke der Decke dazu, und hätten da nicht ein paar dicke Säulen noch ein festes Stück der Decke getragen, so hätte man denken müssen, diese könne jeden Augenblick auf die Köpfe derer niederfallen, die darunter standen. Hier hatte der Öhi einen Bretterverschlag ringsum gemacht und den Boden dick mit Streu belegt, denn hier in der alten Halle sollten die Ziegen ihren Stall haben.
Dann ging es durch mehrere Gänge, immer halb offen, dass einmal der Himmel hereinguckte und einmal wieder die Wiese und der Weg draußen. Aber ganz vorne, wo die schwere, eichene Tür noch fest in den Angeln hing, kam man in eine große, weite Stube hinein, die war noch gut. Da waren noch die vier festen Wände mit dem dunkeln Holzgetäfel ohne Lücken, und in der einen Ecke stand ein riesiger Ofen, der ging fast bis an die Decke hinauf, und auf die weißen Kacheln waren große, blaue Bilder gemalt. Da waren alte Türme darauf, mit hohen Bäumen ringsum, und unter den Bäumen ging ein Jäger mit seinen Hunden. Dann war ein stiller See unter großen, Schatten spendenden Eichen zu sehen, und ein Fischer stand daran und hielt seine Rute weit in das Wasser hinaus.
Um den ganzen Ofen herum ging eine Bank, so dass man sich hinsetzen und die Bilder studieren konnte. Hier gefiel es Heidi sogleich. Sobald sie mit dem Großvater in die Stube eingetreten war, lief sie zu dem Ofen, setzte sich auf die Bank und fing an die Bilder zu betrachten. Heidi rutschte auf der Bank entlang und dabei entdeckte sie wieder etwas Neues: In dem ziemlich großen Raume zwischen dem Ofen und der Wand waren vier Bretter aufgestellt, so wie zu einem Apfelbehälter. Darinnen lagen aber nicht Äpfel, da lag unverkennbar Heidis Bett, ganz so, wie es oben auf der Alm gewesen war: ein hohes Heulager mit dem Leintuch und dem Sack als Decke darauf. Heidi jauchzte auf:
"Oh, Großvater, da ist meine Kammer, o wie schön! Aber wo kannst du schlafen?"
"Deine Kammer muss nahe beim Ofen sein, damit du nicht frierst", sagte der Großvater, "die meine kannst du auch sehen."
Heidi hüpfte durch die weite Stube dem Großvater nach, der auf der anderen Seite eine Tür aufmachte, die in einen kleinen Raum hineinführte, da hatte der Großvater sein Schlafzimmer eingerichtet.
Dann kam aber wieder eine Tür. Heidi machte sie geschwind auf und stand ganz verwundert still, denn da sah man in eine Art von Küche hinein, die war so ungeheuer groß, wie Heidi sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Da hatte es viel Arbeit für den Großvater gegeben, und es blieb auch noch immer viel zu tun übrig, denn da waren Löcher und weite Spalten in den Mauern auf allen Seiten, wo der Wind herein pfiff, und doch waren schon so viele mit Holzbrettern vernagelt worden, dass es aussah, als wären ringsum kleine Holzschränke in der Mauer angebracht. Auch die große, uralte Tür hatte der Großvater wieder mit vielen Drähten und Nägeln festzumachen verstanden, so dass man sie schließen konnte, und das war gut, denn nachher ging es in lauter verfallenes Gemäuer hinaus, wo dickes Gestrüpp emporwuchs und Scharen von Käfern und Eidechsen ihre Wohnungen hatten.
Heidi gefiel es gut in ihrem neuen Zuhause, und schon am anderen Tage, als Peter kam , hatte sie viel zu tun, um ihm alles in dem neuen zu Hause zu zeigen
Heidi schlief vortrefflich in ihrem Ofenwinkel, aber am Morgen dachte Heidi doch immer, sie sei noch auf der Alp. Sie vermisste ihre gewohnte Umgebung und war immer ein wenig traurig, nicht dort sein zu können. Aber wenn sie dann den Großvater draußen mit dem Schwänli und dem Bärli reden hörte und dann die Ziegen so laut und lustig meckerten, als wollten sie Heidi zurufen: "Mach doch, dass du einmal kommst, Heidi", dann merkte Heidi, dass sie doch daheim war, und sprang fröhlich aus ihrem Bett und dann so schnell als möglich in den großen Ziegenstall hinaus. Aber am vierten Tage sagte Heidi besorgt: "Heute muss ich unbedingt zur Großmutter hinauf, sie kann nicht so lange allein sein."
Aber der Großvater war damit nicht einverstanden. "Heute nicht und morgen auch noch nicht", sagte er. "Die Alm hinauf liegt der Schnee meterhoch, und immer noch schneit es weiter; selbst der kräftige Peter kann kaum durchkommen. Ein kleines Mädchen wie du, Heidi, wäre auf der Stelle eingeschneit und zugedeckt und nicht mehr zu finden. Wart noch ein wenig, bis es friert, dann kannst du bequem über die Schneedecke hinaufspazieren."
Das Wartenmüssen machte Heidi zunächst noch ein wenig Sorge. Aber die Tage waren jetzt so angefüllt von Arbeit, dass sie wie im Flug vergingen Jeden Morgen und jeden Nachmittag ging Heidi jetzt in die Schule im Dorf und lernte ganz eifrig, was da zu lernen war. Den Peter sah Heidi aber fast nie in der Schule, denn meistens kam er nicht. Der Lehrer war ein milder Mann, der nur dann und wann sagte: "Es scheint mir, Peter ist wieder nicht da. Die Schule täte ihm doch gut, aber es liegt auch gar viel Schnee dort hinauf, er wird wohl nicht durchkommen." Aber gegen Abend, wenn die Schule aus war, kam Peter meistens durch und machte seinen Besuch bei Heidi.
Nach einigen Tagen kam die Sonne wieder hervor und strahlte ganz hell über den weißen Boden, aber sie ging ganz früh wieder hinter den Bergen unter, so als gefalle es ihr lange nicht so gut zu scheinen wie im Sommer, wenn alles grünte und blühte. Aber am Abend ging der Mond ganz hell und groß auf und leuchtete die ganze Nacht über die weiten Schneefelder hin, und am anderen Morgen glitzerte und flimmerte die ganze Alp von oben bis unten wie ein Kristall.
Als Peter wie die Tage vorher aus seinem Fenster in den tiefen Schnee hinab springen wollte, landete er so, wie er es nicht erwartet hatte. Er machte einen Satz hinaus, aber anstatt im Weichen zu landen, schlug es ihn auf dem unerwartet harten Boden gleich um, und unversehens rutschte er ein gutes Stück den Berg hinunter wie ein herrenloser Schlitten. Sehr verwundert kam er schließlich wieder auf seine Füße, und nun stampfte er mit aller Macht auf den Schneeboden, um sich zu versichern, dass auch wirklich möglich sei, was ihm soeben geschehen war. Es war richtig: Wie er auch stampfte und einschlug mit den Absätzen, kaum konnte er ein kleines Eissplitterchen herausschlagen. Die ganze Alm war steinhart zugefroren.
Das war Peter gerade recht: Er wusste, dass dieser Zustand der Dinge nötig war, damit Heidi einmal wieder da heraufkommen konnte. Schleunigst kehrte er um, trank seine Milch, die die Mutter eben auf den Tisch gestellt hatte, steckte sein Stück Brot in die Tasche und sagte eilig: "Ich muss in die Schule."
"Ja, so geh und lern auch brav", sagte die Mutter zustimmend.
Peter kroch zum Fenster hinaus - denn nun war man eingesperrt wegen des Eisberges vor der Türe-, zog seinen kleinen Schlitten nach sich, setzte sich darauf und schoss den Berg hinunter.
Es ging wie der Blitz, und als er beim Dorf da ankam, wo es gleich weiter hinab Richtung Maienfeld ging, fuhr Peter weiter, denn es kam ihm so vor, als müsste er sich und dem Schlitten Gewalt antun, wenn er auf einmal den Lauf stoppen wollte. So fuhr er zu, bis er ganz unten in der Ebene ankam und es von selbst nicht mehr weiterging. Dann stieg er ab und schaute sich um. Das Tempo der Schlittenfahrt hatte ihn noch weit über Maienfeld hinausgetrieben.
Jetzt bedachte er, dass er jedenfalls zu spät in die Schule käme, weil sie schon lange begonnen hatte, er aber zum Hinaufsteigen fast eine Stunde brauchte. So konnte er sich alle Zeit lassen zur Rückkehr. Das tat er denn auch und kam gerade oben im Dorf wieder an, als Heidi aus der Schule zurückgekehrt war und sich mit dem Großvater an den Mittagstisch setzte. Peter trat ein, und da er diesmal eine besondere Nachricht mitzuteilen hatte, so lag sie ihm so auf der Zunge, und er sie gleich beim Eintreten loswerden musste.
"Der Schnee ist ganz hart gefroren""Oh! Oh! Jetzt kann ich zur Großmutter hinauf!" frohlockte Heidi, "Aber warum bist du denn nicht in die Schule gekommen? Du konntest ja gut herunterschlittern", setzte sie auf einmal vorwurfsvoll hinzu, denn Heidi meinte, dass es nicht in Ordnung sei, so draußen zu bleiben, wenn man doch gut in die Schule gehen könnte.
"Bin zu weit gekommen mit dem Schlitten, war zu spät", gab Peter zurück.
"Das nennt man Schule schwänzen", sagte der Öhi, "und Leute, die das tun, nimmt man bei den Ohren, hörst du?"
Peter riss erschrocken an seiner Kappe herum, denn vor keinem Menschen auf der Welt hatte er einen so großen Respekt wie vor dem Almöhi.
"Und dazu ein Anführer, wie du einer bist, der muss sich doppelt schämen, sich so zu drücken", fuhr der Öhi fort. "Was meinst du, wenn einmal deine Ziegen eine da und die andere dort hinliefen und sie wollten dir nicht mehr folgen und nicht tun, was gut für sie ist, was würdest du dann machen?"
"Sie hauen", entgegnete Peter kundig.
"Und wenn einmal ein Bub so täte wie eine ungezogene Ziege und er würde ein wenig durchgehauen, was würdest du dann sagen?"
"Geschieht ihm recht", war die Antwort.
"So, jetzt hör zu, Ziegenoberst: Wenn du noch einmal auf deinem Schlitten über die Schule hinausfährst zu einer Zeit, da du hinein solltest, so komm dann nachher zu mir und hol dir, was du dafür verdienst."
Jetzt verstand Peter den Zusammenhang der Rede und dass er mit dem Buben gemeint war, der fortlaufe wie eine ungezogene Ziege. Er war ganz betroffen von dieser Ähnlichkeit und schaute ein wenig ängstlich in die Winkel hinein, ob so etwas zu entdecken sei, wie er es in solchen Fällen für die Ziegen gebrauchte.
Aber ermunternd sagte nun der Öhi: "Komm an den Tisch jetzt und iss mit, dann geht Heidi mit dir. Am Abend bringst du sie wieder heim, dann isst du dein Abendbrot hier."
Über diese unerwartete Wendung der Dinge war Peter höchst erfreut. Sein Gesicht verzog sich nach allen Seiten vor Vergnügen. Er gehorchte unverzüglich und setzte sich neben Heidi hin. Die hatte aber schon genug und konnte vor Freude, dass es zur Großmutter gehen sollte, gar nicht mehr essen. Heidi schob die große Kartoffel und den Käsebraten, die noch auf ihrem Teller lagen, Peter zu, der von der anderen Seite vom Öhi den Teller voll bekommen hatte, so dass ein ganzer Berg vor ihm aufgerichtet stand, aber der Mut zum Angriff fehlte ihm nicht.
Heidi rannte an den Schrank und holte ihren Mantel, den sie von Klara bekommen hatte, hervor. Jetzt konnte sie, ganz warm eingepackt, mit der Kapuze über dem Kopf, ihren Weg antreten. Sie stellte sich nun neben den Peter hin, und sobald dieser sein letztes Stück eingeschoben hatte, sagte sie: "Jetzt komm!" Dann machten sie sich auf den Weg.
Heidi hatte Peter sehr viel von Schwänli und Bärli zu erzählen, z.B. dass sie beide am ersten Tage in dem neuen Stall gar nicht hatten fressen wollen und dass sie den ganzen Tag die Köpfe hatten hängen lassen und keinen Ton von sich gegeben hatten. Und sie habe den Großvater gefragt, warum das so sei. Dann habe er gesagt: Den Ziegen ginge es so wie es Heidi in Frankfurt ergangen sei, denn sie seien ihr Leben lang noch nie von der Alm heruntergekommen. Und Heidi setzte hinzu: "Du solltest nur einmal erleben, wie das ist, Peter."
Die beiden waren schon fast oben angekommen, ohne dass Peter ein einziges Wort gesagt hätte, und es war auch, als ob ihn ein Gedanke so sehr beschäftige, dass er noch nicht einmal richtig zuhören konnte. Als sie nun bei der Hütte angekommen waren blieb Peter stehen und sagte ein wenig brummig: "Dann will ich noch lieber in die Schule gehen, als beim Öhi holen, was er gesagt hat."
Heidi war derselben Meinung und bestärkte Peter ganz eifrig in seinem Vorsatz. Drinnen in der Stube saß die Mutter allein und flickte Kleider. Sie sagte, die Großmutter müsse die Tage im Bett bleiben, es sei zu kalt für sie, und es gehe ihr auch sonst nicht so gut. Das war für Heidi etwas Neues; sonst saß die Großmutter immer an ihrem Platz in der Ecke. Heidi rannte gleich zu ihr in die Kammer hinein. Sie lag ganz von dem grauen Tuch umwickelt in ihrem schmalen Bett mit der dünnen Decke.
"Gott Lob und Dank!" sagte die Großmutter erleichtert, als sie Heidi herein springen hörte. Seit Peter berichtet hatte, dass ein fremder Herr aus Frankfurt gekommen sei und mit ihnen auf die Alm gehe und immer mit Heidi reden wolle, befürchtete die Großmutter, dass man Heidi wieder mit nach Frankfurt nehmen wolle. Auch wenn der Herr alleine abgereist war, hatte sie doch Angst davor, ein Abgesandter könnte kommen und Heidi holen. Heidi sprang zu dem Bett der Kranken hin und fragte sorglich: "Bist du sehr krank, Großmutter?"
"Nein, nein, Kind", beruhigte die Alte, indem sie Heidi liebevoll streichelte, "der Frost ist mir nur ein wenig in die Glieder gefahren."
"Wirst du dann auf der Stelle gesund, wenn es wieder warm ist?" fragte Heidi eindringlich weiter.
"Ja, ja, wenn Gott will, noch vorher, damit ich wieder an mein Spinnrad kann. Ich meinte schon heute, ich könnte es probieren, morgen wird's dann schon wieder gehen", sagte die Großmutter in zuversichtlicher Weise, denn sie hatte schon gemerkt, dass das Kind erschrocken war.
Ihre Worte beruhigten Heidi, die sich sehr gesorgt hatte, denn krank im Bett hatte Heidi die Großmutter noch nie getroffen. Heidi betrachtete sie jetzt ein wenig verwundert, dann sagte sie:
"In Frankfurt legen sie einen Schal an zum Spazierengehen. Hast du etwa gemeint, man müsse ihn anlegen, wenn man ins Bett geht, Großmutter?"
"Weißt du, Heidi", entgegnete sie, "ich nehme den Schal so um im Bett, dass ich nicht friere. Ich bin so froh darüber, die Decke ist ein wenig dünn."
"Aber Großmutter", fing Heidi wieder an, "dein Bett geht ja da wo dein Kopf liegt nach unten, wo er doch eigentlich höher liegen sollte; so sollte ein Bett nicht sein"
"Ich weiß schon, Kind, ich spüre es auch wohl", und die Großmutter suchte auf dem Kissen, das wie ein dünnes Brett unter ihrem Kopfe lag, einen besseren Platz zu gewinnen. "Siehst du, das Kissen war nie besonders dick, und jetzt habe ich so viele Jahre darauf geschlafen, dass ich es ein wenig flachgelegen habe."
"O hätte ich doch in Frankfurt die Klara gefragt, ob ich nicht mein Bett mitnehmen könnte", sagte jetzt Heidi. "Da gab es drei große, dicke Kissen aufeinander, so dass ich gar nicht schlafen konnte und immer weiter herunterrutschte, bis ich flach lag, und dann musste ich wieder hinauf, weil man dort so schlafen muss. Könntest du so schlafen, Großmutter?"
"Ja freilich, das macht warm, und man kann so gut atmen, wenn man mit dem Kopf so hoch liegen kann", sagte die Großmutter, ein wenig mühsam ihren Kopf aufrichtend, so als wolle sie eine höhere Stelle finden. "Aber wir wollen jetzt nicht weiter davon reden, ich habe ja dem lieben Gott für so vieles zu danken, was andere Alte und Kranke nicht haben. Schon das gute Brötchen, das ich immer bekomme, und das schöne, warme Tuch hier und dass du so zu mir kommst, Heidi. Willst du mir auch wieder etwas lesen heute?"
Heidi lief hinaus und holte das alte Liederbuch herbei. Nun suchte sie ein schönes Lied nach dem andern, denn Heidi kannte sie jetzt ganz genau, und sie freute sich selbst, das alles wieder zu hören denn Heidi hatte ja, seit sie nicht mehr zur Großmutter hatte kommen können, die Verse, die ihr auch sehr gefielen, nicht mehr gehört.
Die Großmutter lag mit gefalteten Händen da, und auf ihrem Gesichte, das erst so bekümmert ausgesehen hatte, lag jetzt ein so freudiges Lächeln, als wäre ihr eben ein großes Glück zuteil geworden.
Heidi hielt auf einmal inne.
"Großmutter, bist du schon gesund geworden?" fragte sie.
"Es geht mir gut, Heidi, es ist mir gut geworden darüber. Lies es noch fertig, willst du?"
Das Kind las sein Lied zu Ende, und als die letzten Worte kamen:
"Wird mein Auge dunkler, trüber,
Dann erleuchte meinen Geist,
Dass ich fröhlich zieh' hinüber,
Wie man nach der Heimat reist",
da wiederholte sie die Großmutter und dann noch einmal und noch einmal, und auf ihrem Gesicht lag jetzt eine große freudige Erwartung. Auch Heidi fühlte sich jetzt ganz wohl. Heidi erinnerte sich an den Tag, als sie aus Frankfurt heimkehrte, und voller Freude rief sie aus: "Großmutter, ich weiß schon, wie es ist, wenn man nach der Heimat reist." Sie antwortete nichts, aber sie hatte die Worte wohl vernommen, und der Ausdruck, der Heidi so gut gefallen hatte, blieb auf ihrem Gesicht.
Nach einer Weile sagte das Kind wieder: "Jetzt wird's dunkel, Großmutter, ich muss heim; aber ich bin so froh, dass es dir jetzt wieder gut geht."
Die Großmutter nahm die Hand des Kindes in die ihrige und hielt sie fest; dann sagte sie:
"Ja, ich bin auch wieder so froh; wenn ich auch noch liegen bleiben muss, so geht es mir doch gut. Siehst du, das weiß niemand, der es nicht erfahren hat, wie das ist, wenn man viele, viele Tage so ganz allein daliegt und hört kein Wort von einem andern Menschen und kann nichts sehen, nicht einen einzigen Sonnenstrahl. Dann kommen so schwere Gedanken über einen, dass man manchmal meint, es könne nie mehr Tag werden und man könne nicht mehr weiter. Aber wenn man dann einmal wieder die Worte hört, die du mir vorgelesen hast, so ist es, wie wenn einem ein Licht davon aufgehen würde im Herzen, an dem man sich wieder freuen kann."
Jetzt ließ die Großmutter die Hand des Kindes los, und nachdem es ihr gute Nacht gesagt hatte, lief es in die Stube zurück und zog den Peter eilig hinaus, denn es war unterdessen Nacht geworden. Aber draußen stand der Mond am Himmel und schien hell auf den weißen Schnee, dass es war, als sei es noch heller Tag. Peter zog seinen Schlitten heran, setzte sich vorn darauf, und Heidi hinter ihn, und schon sausten sie die Alm hinunter,.
Als Heidi später auf ihrem schönen, hohen Heubette hinter dem Ofen lag, da kam ihr die Großmutter wieder in den Sinn, wie sie so schlecht mit dem Kopf lag, und dann musste Heidi an alles denken, was sie gesagt hatte, und an das Licht, das ihr die Worte im Herzen anzünden.
Und Heidi dachte: Wenn die Großmutter nur jeden Tag die Worte hören könnte, dann würde es ihr jeden Tag wenigstens einmal gut gehen. Aber Heidi wusste, nun konnten eine ganze Woche, oder vielleicht auch zwei, vergehen, ehe sie wieder zur Großmutter hinauf durfte. Das machte Heidi so traurig, dass sie ganz angestrengt darüber nachdachte, was sie nur tun könnte, damit die Großmutter die Worte jeden Tag zu hören bekäme.
Auf einmal hatte Heidi eine Idee, und sie freute sich so sehr darüber, dass es ihr fast zu lange bis zum nächsten Morgen dauerte.. Auf einmal setzte Heidi sich wieder ganz gerade auf in ihrem Bett, denn vor lauter Nachdenken hatte sie ihr Nachtgebet noch nicht zum lieben Gott hinaufgeschickt, und das wollte sie doch nie mehr vergessen.
Als Heidi nun so recht von Herzen für sich und den Großvater und die Großmutter gebetet hatte, fiel sie auf einmal in das weiches Heu zurück und schlief ganz fest und friedlich bis zum nächsten Morgen.