Der Winter dauert fort
- Autor: Spyri, Johanna
Am andern Tage kam Peter gerade rechtzeitig in die Schule heruntergefahren. Sein Mittagessen hatte er in seinem Rucksack mitgebracht; denn in der Schule war es folgendermaßen üblich: Wenn um Mittag die Kinder im Dörfli nach Hause gingen, dann setzten sich die einzelnen Schüler, die weit weg wohnten, auf die Klassentische, stemmten die Füße fest auf die Bänke und breiteten auf den Knien die mitgebrachten Speisen aus, um so ihr Mittagsmahl zu halten. Bis um ein Uhr konnten sie ihr Essen genießen und hatten Pause, dann fing die Schule wieder an. Hatte Peter einen solchen Schultag mitgemacht, dann ging er nach Schulende zum Öhi hinüber und machte seinen Besuch bei Heidi.
Als er heute nach Schulschluss in die große Stube beim Öhi eintrat, kam Heidi gleich auf ihn zu, denn sie hatte schon auf ihn gewartet. "Peter, ich weiß etwas", rief Heidi ihm entgegen.
"Sag's", gab er zurück.
"Jetzt musst du lesen lernen", lautete die Nachricht.
"Hab's schon getan", war die Antwort.
"Ja, ja, Peter, so mein ich es nicht", eiferte jetzt Heidi. "Ich meine so, dass du es nachher kannst.
"Kann nicht", bemerkte der Peter.
"Das glaubt dir jetzt kein Mensch mehr und ich auch nicht", sagte Heidi sehr entschieden. "Die Großmama in Frankfurt hat schon gewusst, dass es nicht wahr ist, und sie hat mir gesagt, ich soll es nicht glauben."
Der Peter staunte über diese Nachricht.
"Ich will dich schon lesen lehren, ich weiß ganz gut, wie", fuhr Heidi fort. "Du musst es jetzt einmal erlernen, und dann musst du jeden Tag der Großmutter ein Lied lesen oder zwei."
"Das ist nichts", brummte der Peter.
Dieser hartnäckige Widerstand gegen etwas, das gut und richtig war und Heidi so sehr am Herzen lag, regte Heidi richtig auf. Mit blitzenden Augen stellte sie sich jetzt vor den Jungen hin und sagte bedrohlich:
"Dann will ich dir schon sagen, was kommt, wenn du nie etwas lernen willst: Deine Mutter hat schon zweimal gesagt, du müssest auch nach Frankfurt, dass du allerhand lernst, und ich weiß schon, wo dort die Jungen in die Schule gehen. Beim Ausfahren hat mir Klara das furchtbar große Haus gezeigt. Aber dorthin gehen sie nicht nur, wenn sie Jungen sind, sondern immerfort, wenn sie schon ganz große Herren sind, das habe ich selber gesehen. Und dann musst du nicht denken, dass nur ein einziger Lehrer da ist wie bei uns, und ein so guter. Da gehen immer ganze Reihen, viele miteinander in das Haus hinein, und alle sehen ganz schwarz aus, als ob sie in die Kirche gingen, und haben so hohe schwarze Hüte auf den Köpfen" - und Heidi zeigte die Größe der Hüte mit den Händen an.
Peter lief ein Schauder den Rücken herunter.
"Und dann musst du dort hinein unter alle die Herren", fuhr Heidi mit Eifer fort, "und wenn du dann an der Reihe bist, so kannst du gar nicht lesen und machst noch Fehler beim Buchstabieren. Dann kannst du erleben, wie dich die Herren auslachen, das ist dann noch viel schlimmer als wenn die Tinette mich verspottet, und du solltest nur wissen, wie es ist, wenn diese spottet."
"So will ich", sagte der Peter halb kläglich, halb ärgerlich.
Im Augenblick war Heidi besänftigt. "So, dann ist es ja gut, dann wollen wir gleich anfangen", sagte sie erfreut, und eifrig zog Heidi Peter an den Tisch heran und holte das nötige Werkzeug herbei.
In dem großen Paket von Klara hatte sich auch ein Büchlein befunden, das Heidi besonders gut gefiel, und schon gestern Nacht war es Heidi in den Sinn gekommen, das könne man gut für Peters Unterricht gebrauchen, denn es war ein Abc-Büchlein mit Sprüchen.
Jetzt saßen die beiden am Tisch, die Köpfe über das kleine Buch gebeugt, und die Lehrstunde konnte beginnen.
Peter musste den ersten Spruch buchstabieren und dann wieder und dann noch einmal, denn Heidi wollte die Sache sauber und geläufig haben.
Schließlich sagte sie: "Du kannst es immer noch nicht, aber ich will dir ihn jetzt einmal hintereinander lesen; wenn du weißt, wie's heißen muss, kannst du's dann besser zusammenbuchstabieren." Und Heidi las:
"Geht heut das A B C noch nicht,
Kommst morgen du vors Schulgericht."
"Ich geh nicht", sagte Peter störrisch.
"Wohin?" fragte Heidi.
"Vor das Gericht", war die Antwort.
"So mach, dass du einmal die drei Buchstaben kennst, dann musst du ja nicht gehen", entgegnete Heidi.
Jetzt setzte Peter noch einmal an und wiederholte beharrlich die drei Buchstaben so lange, bis Heidi sagte:
"Jetzt kannst du die drei."
Da Heidi aber bemerkt hatte, welch eine Wirkung der Spruch auf Peter hatte, wollte sie gleich noch ein wenig vorarbeiten für die folgenden Lehrstunden.
"Wart, ich will dir jetzt noch die anderen Sprüche lesen", fuhr sie fort, "dann wirst du sehen, was alles noch kommen kann."
Und Heidi begann sehr klar und verständlich zu lesen:
"D E F G muss fließend sein,
Sonst kommt ein Unglück hintendrein.
Vergessen H I K,
Das Unglück ist schon da.
Wer am L M noch stottern kann,
Zahlt eine Buß und schämt sich dann.
Es gibt etwas, und wüßtest's du,
Du lerntest schnell N O P Q.
Stehst du noch an bei R S T,
Kommt etwas nach, das tut dir weh."
Hier hielt Heidi inne, denn Peter war so mäuschenstill, dass sie einmal sehen musste, was er mache. Alle die Drohungen und unheimlichen Andeutungen hatten ihm so zugesetzt, dass er kein Glied mehr bewegte und ganz erschrocken Heidi anstarrte.
Heidi hatte sofort Mitleid mit ihm und meinte tröstend: "Du musst dich nicht fürchten, Peter; komm du jetzt nur jeden Abend zu mir, und wenn du dann lernst wie heut, so kennst du bald die Buchstaben, und dann passiert ja nichts. Aber nun musst du jeden Tag kommen, nicht so unregelmäßig, wie du in die Schule gehst; wenn es auch schneit, es macht dir ja nichts."
Peter versprach alles, denn er hatte sich so erschrocken, dass er jetzt ganz willig und folgsam war. Jetzt trat er seinen Heimweg an.
Peter befolgte Heidis Vorschrift ganz genau, und jeden Abend wurden mit Eifer die folgenden Buchstaben einstudiert und der Spruch beherzigt.
Oft saß auch der Großvater in der Stube und hörte dem Unterricht zu, wobei er vergnüglich sein Pfeifchen rauchte, während es öfter in seinen Mundwinkeln zuckte, so, als ob ihn von Zeit zu Zeit eine große Heiterkeit überkommen wollte.
Nach der großen Anstrengung wurde Peter dann meistens aufgefordert, noch dazubleiben und beim Abendessen mitzuhalten, was ihn sehr schnell für die ausgestandene Angst, die der heutige Spruch mit sich gebracht hatte, reichlich entschädigte.
So gingen die Wintertage dahin. Peter erschien regelmäßig und machte wirklich Fortschritte mit seinen Buchstaben.
Mit den Sprüchen hatte er aber täglich zu kämpfen. Man war jetzt beim U angelangt. Als Heidi den Spruch las:
"Wer noch das U in V verdreht,
Kommt dahin, wo er nicht gern geht",
da knurrte Peter: "Ja, wenn ich ginge!" Aber er lernte doch ordentlich weiter, so, als stehe er unter dem Eindruck, es könnte ihn doch heimlich einer beim Kragen nehmen und dorthin bringen, wohin er nicht gern ginge.
Am folgenden Abend las Heidi:
Ist dir das W noch nicht bekannt,
Schau nach dem Rütlein an der Wand."
Da schaut Peter zur Wand und meinte grinsend: "Ist keines da" "Ja, ja, aber weißt du, was der Großvater im Kasten hat?" fragte das Heidi. "Einen Stock, fast so dick wie mein Arm, und wenn man ihn herausnimmt, so kann man nur sagen: Schau nach dem Stock da an der Wand!"
Peter kannte den dicken Haselstock. Augenblicklich beugte er sich über sein W und suchte es zu erfassen.
Am anderen Tage hieß es:
"Willst du noch das X vergessen,
Kriegst du heute nix zu essen."
Da schaute Peter forschend zu dem Schrank hinüber, in dem das Brot und der Käse lagen, und sagte ärgerlich: "Ich habe ja gar nicht gesagt, dass ich das X vergessen will."
"Es ist recht, wenn du das nicht vergessen willst, dann können wir auch gleich noch einen lernen", schlug Heidi vor, "dann hast du morgen nur noch einen einzigen Buchstaben."
Peter war nicht einverstanden. Aber schon las Heidi:
"Machst du noch Halt beim Y,
Kommst du mit Hohn und Spott davon."
Da sah Peters plötzlich alle die Herren in Frankfurt vor sich, die mit den hohen schwarzen Hüten auf den Köpfen und Hohn und Spott in den Gesichtern. Augenblicklich nahm er sich das Ypsilon vor und hörte nicht eher damit auf, bis er es so gut kannte, dass er die Augen zumachen konnte und doch noch wusste, wie es aussah.
Am Tag darauf kam Peter schon sehr vergnügt bei Heidi an, denn da war ja nur noch ein einziger Buchstabe zu verarbeiten, und als ihm Heidi gleich den Spruch las:
"Wer zögernd noch beim Z bleibt stehn,
Muss zu den Hottentotten gehn!",
da höhnte Peter: "Ja, wenn kein Mensch weiß, wo die sind!"
"Freilich, Peter, das weiß der Großvater schon", versicherte Heidi. "Wart nur, ich will ihn geschwind fragen, wo sie sind, er ist nur beim Herrn Pfarrer drüben." Und schon war Heidi aufgesprungen und wollte zur Tür hinaus.
"Warte", schrie jetzt Peter in voller Angst, denn schon sah er in seiner Einbildung den Almöhi mitsamt dem Herrn Pfarrer daherkommen und wie ihn die zwei nun gleich anpacken und den Hottentotten übersenden würden, denn er hatte ja wirklich nicht mehr gewusst, wie das Z hieß. Sein Angstgeschrei ließ Heidi stehen bleiben.
"Was hast du denn?" fragte sie verwundert.
"Nichts! Komm zurück! Ich will lernen", stieß Peter mit Unterbrechungen hervor. Aber Heidi hätte jetzt selbst gern gewusst, wo die Hottentotten leben, und sie wollte unbedingt den Großvater fragen. Peter rief ihr aber so verzweifelt nach, dass Heidi nachgab und zurückkam. Nun musste er aber auch etwas tun dafür. Das Z wurde nicht nur so oft wiederholt, dass der Buchstabe für alle Zeit in seinem Gedächtnis festsitzen musste, sondern Heidi ging gleich noch zum ganze Worte lesen über, und an dem Abend lernte Peter so viel, dass er einen großen Schritt vorwärts kam. So ging es weiter Tag für Tag.
Der Schnee war wieder weich geworden, und darauf schneite es jetzt einen Tag nach dem andern, so dass Heidi wohl drei Wochen lang gar nicht zur Großmutter hinauf konnte. Umso fleißiger arbeitete sie mit Peter, damit er Heidi bald beim Liederlesen ersetzen könne. So kam Peter eines abends von Heidi nach Hause, trat in die Stube ein und sagte:
"Ich kann's!"
"Was kannst du, Peterli?" fragte erwartungsvoll die Mutter.
"Das Lesen", antwortete er.
"Ja ist das denn möglich! Hast du's gehört, Großmutter?" rief die Brigitte aus.
Die Großmutter hatte es gehört und war ganz überrascht und fragte sich, wieso er das jetzt auf einmal könne.
"Ich muss jetzt ein Lied lesen, Heidi hat's gesagt", berichtete Peter weiter. Die Mutter holte schnell das Buch herunter, und die Großmutter freute sich, sie hatte so lange kein gutes Wort gehört. Peter setzte sich an den Tisch hin und begann zu lesen. Seine Mutter saß neben ihm und hörte ganz erstaunt zu; nach jedem Verse musste sie mit Bewunderung sagen: "Wer hätte das gedacht!"
Auch die Großmutter folgte mit Spannung einem Verse nach dem andern, sie sagte aber nichts dazu.
Am darauf folgenden Tag fand in der Schule in Peters Klasse eine Leseübung statt. Als die Reihe an Peter kommen sollte, sagte der Lehrer:
"Peter, muss man dich wieder übergehen, wie immer, oder willst du einmal wieder - ich will nicht sagen lesen, ich will sagen: versuchen, an einer Zeile herumzustottern?"
Peter fing an und las hintereinander drei Zeilen, ohne abzusetzen.
Der Lehrer legte sein Buch weg. Mit stummem Erstaunen blickte er auf Peter, so, als habe er so etwas noch nie gesehen. Endlich sagte er: "Peter, an dir ist ein Wunder geschehen! Solange ich mit unbeschreiblicher Geduld mit dir gearbeitet habe, warst du nicht imstande, auch nur das Buchstabieren richtig zu erfassen. Jetzt, wo ich, wenn auch ungern, die Arbeit mit dir aufgegeben habe, weil sie doch nicht erfolgreich war, geschieht es, dass du kommst und hast nicht nur das Buchstabieren, sondern ein ordentliches, sogar deutliches Lesen erlernt. Woher können zu unserer Zeit denn noch solche Wunder kommen, Peter?"
"Durch Heidi", antwortete dieser.
Höchst verwundert schaute der Lehrer zu Heidi hinüber, die ganz bescheiden auf ihrer Bank saß,. Er fuhr fort:
"Ich habe überhaupt eine Veränderung an dir bemerkt, Peter. Während du früher oftmals die ganze Woche, ja mehrere Wochen hintereinander in der Schule gefehlt hast, so bist du in der letzten Zeit nicht einen Tag ausgeblieben. Woher kann eine solche Änderung zum Guten gekommen sein?"
"Vom Öhi", war die Antwort.
Mit immer größerem Erstaunen blickte der Lehrer von Peter zu Heidi und von dieser wieder zu Peter zurück.
"Wir wollen es noch einmal versuchen", sagte er dann behutsam, und noch einmal musste Peter an drei Zeilen seine Kenntnisse erproben. Es war richtig, er hatte lesen gelernt.
Sobald die Schule zu Ende war, eilte der Lehrer zum Herrn Pfarrer hinüber, um ihm mitzuteilen, was vorgefallen war und in welcher erfreulichen Weise der Öhi und Heidi in der Gemeinde wirkten.
Jeden Abend las jetzt Peter daheim ein Lied vor. So weit gehorchte er Heidi, weiter aber nicht, ein zweites Lied las er nie; die Großmutter forderte ihn aber auch nie dazu auf.
Die Mutter Brigitte wunderte sich täglich, dass Peter dieses Ziel erreicht hatte, und an manchen Abenden, wenn die Vorlesung vorbei war und der Vorleser in seinem Bett lag, musste sie wieder zur Großmutter sagen:
"Man kann sich doch nicht genug freuen, dass Peter das Lesen so schön erlernt hat. Jetzt kann man gar nicht wissen, was noch aus ihm werden kann."
Da antwortete einmal die Großmutter:
"Ja, es ist so gut für ihn, dass er etwas gelernt hat; aber ich will doch herzlich froh sein, wenn der liebe Gott nun bald den Frühling schickt, damit Heidi auch wieder heraufkommen kann. Es ist doch, als ob Heidi ganz andere Lieder läse. Es fehlt so manchmal etwas in den Versen, wenn sie Peter liest, und ich muss es dann suchen, und dann komme ich nicht mehr nach mit den Gedanken, und der Eindruck kommt mir nicht ins Herz, wie wenn mir Heidi die Worte liest."
Das kam aber daher, weil Peter es sich beim Lesen ein wenig bequem machte. Wenn ein Wort kam, das gar zu lang war oder sonst schlimm aussah, so ließ er es lieber ganz aus, denn er dachte, auf drei oder vier Worte in einem Verse werde es der Großmutter wohl nicht ankommen, es kommen ja dann noch viele. So kam es, dass fast keine Hauptwörter mehr in den Liedern vorkamen, die Peter vorlas.