Der Wind in den Weihen, Kapitel 10: Die Rettung
- Autor: Grahame, Kenneth
Während der Maulwurf verängstigt durch den wilden Wald irrte, döste die Ratte gemütlich vor ihrem Kamin. Mit nach hinten gelehntem Kopf und aufgeklapptem Mund verweilte sie gerade im Land der Träume. Die Papiere mit den begonnenen Reimen waren auf den Boden gerutscht. Das laute Knistern des Kamins ließ die Ratte aufschrecken.
Als sie die auf dem Boden herumliegenden Blätter sah, erinnerte sie sich wieder daran, dass sie vergeblich nach dem richtigen Reim gesucht hatte, bevor sie eingeschlafen war. Sie blickte durch den Raum, um den Maulwurf nach einer guten Reimidee zu fragen. Aber sie konnte ihn nicht erkennen.
Die Ratte rieb die Augen und spitzte ihre Ohren. Doch im Haus war es still. Auch auf die liebevollen Rufe nach dem Freund kam keine Antwort. Die Mütze des Maulwurfs war weg und die Gummistiefel fehlten ebenfalls. Da wagte die Ratte einen Blick vor die Haustür und tatsächlich ... Spuren waren im Schlamm zu erkennen. Sie stammten eindeutig von den neuen Gummistiefeln des Maulwurfs.
Nachdenklich stand die Ratte einige Minuten an der Garderobe. Dann holte sie ihre Ausrüstung, die im wilden Wald unerlässlich war. Sie schnallte einige Pistolen um, einen Knüppel und eine Laterne. Es war bereits dunkel, als die Ratte den Waldrand erreichte. Trotzdem durchbrach sie zielstrebig das Dickicht.
Aufmerksam suchte sie nach Spuren des Maulwurfs. Immer wieder begegneten der Ratte hässliche Fratzen, bei deren Anblick sie sofort nach den Pistolen griff. Doch die hässlichen Gesichter verschwanden immer ganz von alleine. Die Ratte hörte auch das Pfeifen und Klopfen. Dennoch marschierte sie mutig durch den ganzen Wald. Keinen Weg ließ sie aus. Mit kräftiger Stimme rief sie nach dem verschollenen Freund. "Maulwurf! Wo bist du? Ich bin es, dein Rattenfreund!"
Als keine Antwort folgte, durchforstete Ratte den Wald kreuz und quer. Bis sie einen schwachen Ruf vernahm. Sie hielt sofort inne, rief zurück und freute sich nicht schlecht, als eine leise Antwort folgte. Die schwache Stimme kam aus Richtung der alten Buche und fragte: "Rattenschätzchen, bist du es tatsächlich?"
Als die Ratte in die Kuhle bei der Buch kroch, erblickte sie einen völlig erschöpften, zitternden Maulwurf. "Mein Rattenschätzchen", rief er, "so sehr habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gefürchtet!"
"Das kann ich mir denken", tröstete ihn die Ratte, "du hättest auf mich hören sollen." Immerhin hatte er ja alles versucht, den Maulwurf von diesem unliebsamen Abenteuer abzuhalten. "Hör mal, selbst wir Leute vom Flussufer wagen uns kaum in diese gefährliche Gegend. Und alleine schon gar nicht. Und wenn eine Gruppe diesen Ausflug dann doch einmal wagt, gilt es, einige Tricks für den Notfall zu kennen. Die sind nicht wirklich schwer, aber wissen sollte man sie schon," belehrte die Ratte ihren Freund.
"Aber dem Kröterich würde ein Ausflug in den Wald sicher nicht schrecken", fragte der Maulwurf hoffnungsvoll.
"Ha!", lachte da die Ratte, "nicht mal die Nasenspitze würde er in den Wald stecken." Das herzliche Lachen der Ratte beruhigte den Maulwurf. Inzwischen zitterte er deutlich weniger und sein Selbstvertrauen kam zurück. Doch als die Ratte zum Aufbruch mahnte, schüttelte der Maulwurf den Kopf. "Rattenschätzelchen, dazu bin ich zu müde. Auch wenn es bald dunkel wird. Ich muss erst wieder zu Kräften gelangen", sagte er.
Die gutmütige Ratte ließ sich darauf ein und hoffte später auf das Licht des Mondes. Der Maulwurf kuschelte sich in das trockene Blätterlager und schlief kurz darauf ein. Als Träume ihn einholten, wälzte er sich aber unruhig hin und her. Die Ratte suchte sich ebenfalls ein gemütliches Plätzchen in der Höhle und legte sich auf die Lauer, stets die Hand an der Pistole.
Als der Maulwurf endlich ausgeschlafen hatte, wagte die Ratte einen Blick aus der Höhle und erschrak. "Es schneit", sagte sie knapp. Der Maulwurf blickte ebenfalls neugierig hinaus und fand den ehemals dunkelgrünen Wald in neuem Licht. Der Schneeteppich glitzerte, wo vorher Schwärze herrschte. Den feinen Puderteppich wollte man am liebsten gar nicht betreten. Doch die Ratte drängte: "Wir probieren es trotzdem. Es wird schon gut gehen."
Jedoch zeigte es sich in dem neuen Landschaftsbild äußerst schwierig, den alten Weg zu finden. Weder Ratte noch Maulwurf wussten noch, an welcher Stelle sie sich befanden. Sie marschierten los und erkannten schnell, dass die Bäume ob der weißen Schneedecke allesamt gleich aussahen. Der Wald schien kein Ende zu nehmen und keine Unterschiede mehr aufzuweisen.
Die Freunde ruhten sich kurz aus, doch es war zu kalt, um länger zu verweilen. Sie stießen auf ein Gelände, das Hoffnung auf einen Unterschlupf oder eine Höhle machte. "Wenn wir uns durcharbeiten, könnten wir uns richtig ausruhen", sagte die Ratte, die inzwischen auch recht erschöpft war. Irgendwann müsse der Schnee ja wieder verschwinden, hoffte sie. Da stolperte der Maulwurf plötzlich und fiel auf die Nase. "Mein Bein, oh weh, mein Bein", jammerte er sogleich. Er saß im Schnee und hielt sein Schienbein fest.
"Oh du Armer", sagte die Ratte, "heute ist wahrlich nicht dein Glückstag." Sie kniete nieder, untersuchte das Bein und erkannte die Schnittwunde. Mit einem Taschentuchverband linderte die Ratte die erste Not. "Ich muss über einen Zweig gestolpert sein", jammerte der Maulwurf. "So ein Pech."
Doch die Ratte sah, dass der Schnitt glatt war. Er konnte nicht von einem Zweig stammen. "Das sieht eher nach einer Metallkante aus oder so", sagte sie zum Maulwurf. Nachdem die Wunde verbunden war, ging die Ratte los und suchte, die Stelle an der der Unfall passiert war genauer. Plötzlich rief er: "Ja, hurra!" und vollführte einen Freudentanz, obwohl der Schnee das kaum zuließ.
Der Maulwurf humpelte verwundert zu seinem Freund, der den Tanz nicht unterbrechen wollte. "Hmm", sagte er nachdenklich, "soll das ein Stiefelabkratzer sein, der dir so viel Freude bereitet?" Die Ratte stieß ihren Knüppel in den Schneeberg, der neben dem Stiefelabkratzer aufgetürmt war. Bald schon legte er einen Fußabstreifer frei. Maulwurf nörgelte herum. "Was soll das. Dies ist nichts anderes als Müll", rief er entnervt.
"Bist du dickfellig", rief die Ratte fast schon böse, ob der ignoranten Art des Freundes. "Hilf gefälligst mit", sagte er energisch. Der Maulwurf schloss sich dem Kraftakt an und begann ebenfalls, an dem Schneeberg zu kratzen. Nach zehnminütiger Schwerstarbeit stieß die Ratte mit der Knüppelspitze gegen etwas, das hohl klang. In atemloser Freude arbeiteten sie mit vereinten Kräften weiter, bis sie auf eine dunkelgrüne kleine Tür stießen. Im Mondlicht konnten sie ein Messingschild mit der Aufschrift: D A C H S lesen. Verblüfft wäre der Maulwurf beinahe noch einmal gestolpert. "Du bist ein Wunder", rief er enthusiastisch in die vom Mondlicht durchbrochene Dunkelheit des wilden Waldes. Der Maulwurf konnte sich ob der Schlauheit seines Begleiters nicht mehr beruhigen. Darauf reagierte die Ratte eher genervt. "Willst du die ganze Nacht im Schnee hocken?", fragte sie. "Häng dich an den Klingelzug und zieh mit all deiner Kraft daran, während ich klopfe!", forderte die Ratte.
Die Ratte donnerte mit dem Knüppel an die kleine grüne Tür. Der Maulwurf packte den Klingelzug und hängte sich mit seinem gesamten Gewicht an die Kette. In der Ferne hörten sie eine dunkle Glocke läuten.