Der Ruf
- Autor: London, Jack
Mit dem gewonnenen Geld stand der lang ersehnten Reise nach Osten nichts mehr entgegen. Es gab viele Gerüchte über eine Gegend mit einer fabelhaften wertvollen Mine. Auch eine Hütte sollte es dort geben. Viele waren schon dorthin ausgezogen, aber nur wenige hatten die Mine gefunden. Manche hatten bei der Suche ihr Leben verloren.
Die drei Männer, Buck und noch ein halbes Dutzend anderer Hunde machten sich auf den Weg. Erst fuhren sie mit ihrem Schlitten siebzig Meilen den Yukon hinauf und folgten dann dem Stewartfluss bis zu seiner Quelle. Eile hatten sie nicht. Ganz nach ihrem Willen reisten sie oder rasteten und gingen auf die Jagd.
Das war ein Leben ganz nach Bucks Herzen: jagen, fischen und umherrennen. Manchmal ging er wochenlang vor dem Schlitten her, und danach konnte er wieder wochenlang in einem Lager ausruhen. Dann packten die Männer ihre Pfannen aus und schürften nach Gold - aber stets vergeblich.
Als der Sommer ins Land kam, war es mit dem Schlitten fahren vorbei. Jeder musste sein Päckchen auf dem Rücken tragen - über Berge, durch sonnige Täler und finstere Wälder. Sie aßen am Rande des Eises süße Erdbeeren und pflückten wunderschöne Blumen.
Die Monate kamen und gingen. Einmal stießen sie auf menschliche Spuren und eine verlassene Jagdhütte. Einen Menschen sahen sie nicht.
Als es wieder Frühling wurde, fanden sie zwar nicht die gesuchte Hütte, aber in einem weiten Tal ein flaches Becken, auf dessen Grund das reine Gold zwischen dem Sand glänzte.
Nun hatte die Reise ein Ende. Jeden Tag arbeiteten die Männer, und jeden Tag fanden sie wohl Goldklümpchen im Wert von tausend Dollar. Immer fünfzig Pfund wurden in einen Sack aus Elchfell gefüllt. Diese stapelten sie neben dem Zelt wie zu Hause das Feuerholz.
Für die Hunde gab es nichts zu tun. Buck träumte wieder vor sich hin, oft von dem Mann mit den langen Haaren aus der anderen Welt. Dieser Mann schien ständig in Angst zu leben. Geräuschlos kroch er durch den Wald und späte vorsichtig nach allen Seiten. Er konnte so scharf hören und riechen wie ein Hund und von Baum zu Baum springen.
Buck hörte in seinen Träumen manchmal auch ganz deutlich einen Ton, einen Ruf. Ein eigenartiges Glücksgefühl überkam ihn dann und eine unbestimmte Sehnsucht. Manchmal sprang er dann auf und lief dem Ruf nach in den Wald. Dann bellte er laut oder winselte leise vor sich hin, je nachdem, wie ihm zumute war. Mitunter lief er tagelang davon.
Eines Nachts sprang er auf, denn er hatte den Ruf so deutlich wie noch nie gehört. Ein lang anhaltendes Heulen war es gewesen, ähnlich dem eines Hundes, aber doch anders. Wie gehetzt rannte er dahin. Erst als er ganz nah gekommen war, schlich er langsam und vorsichtig vorwärts. Auf einem offenen Platz unter hohen Bäumen saß ein großer, magerer Wolf, die spitze Schnauze zum Nachthimmel erhoben.
Der Wolf hatte Buck bemerkt und hörte auf zu heulen. Buck schlich näher. Seine Körperhaltung drückte Waffenstillstand aus, so wie es unter Raubtieren üblich ist. Doch der Wolf sprang auf und lief davon.
Buck folgte ihm in großen Sätzen, hetzte ihn in einen Hohlweg und versperrte ihm den Rückzug. Da wandte sich der Wolf um, erhob sich auf die Hinterbeine, knurrte, fletschte die Zähne und biss um sich.
Buck aber nahm den Kampf nicht auf. Mit freundlichem Knurren näherte er sich. Der Wolf war argwöhnisch, denn Buck war etwa dreimal so groß wie er. Schließlich beschnüffelte er den Hund, und dann balgten beide spielerisch herum.
Nach einer Weile setzte sich der Wolf in Trab, und Buck folgte ihm. Sie liefen Seite an Seite im dämmrigen Licht der Nacht bis an die Quelle des Flusses und noch weiter.
Die Sonne stieg hoch und höher, der Tag wurde warm. Sie kamen in flaches Land mit tiefen Wäldern und glitzernden Strömen. Buck war glücklich.
Als sie an einem Fluss standen und sich erfrischten, dachte Buck zum ersten Mal an John Thornten. Er setzte sich und stierte vor sich hin. Der Wolf lief weiter, kam zurück, beschnüffelte ihn und forderte ihn auf mitzukommen. Doch Buck drehte um und trabte langsam zurück. Wohl eine Stunde lief sein wilder Bruder neben ihm her, dann blieb er zurück und heulte kläglich in den Abendhimmel. Buck hörte es noch lange.
John Thornten war gerade beim Mittagessen im Zelt, als Buck heranstürmte und mit solcher Wucht gegen ihn sprang, dass er hintenüber fiel. Er leckte ihm quer über das Gesicht und stieß kurze Freudenschreie aus. Zwei Tage und zwei Nächte ließ er seinen Herrn nicht aus den Augen. Selbst in der Nacht sah er ihn an bis zum nächsten Morgen.
Am dritten Tag aber erklang wieder der Ruf aus dem Wald. Eine Unruhe überkam ihn, und wieder rannte er fort. Den Wolf fand er allerdings nicht. Nun blieb er oft tagelang fort und kam auch wieder in das Land, in dem der glitzernde Strom floss.
Einmal tötete er einen Bären, den die Moskitos geblendet hatten, als er fischte, und der nun hilflos durch die Wälder lief. Es war ein harter Kampf, aber er erfüllte Buck mit Genugtuung. Nun war er blutdürstiger als je zuvor. Er war ein Raubtier und ihm gehörte alles, was lebte. Das Gesetz des Stärkeren schrieb es ihm zu. Fast hätte man ihn für einen riesigen Wolf halten können.
Was er hatte, war die Wolfsschlauheit, dazu die Klugheit von Mutter und Vater sowie alle Erfahrungen seines harten Lebens. Dadurch wurde er zu einem furchtbaren Gegner. Da es Wild im Überfluss gab, war er vorzüglich bei Kräften. Immer wieder ging er aber zu seinem Herrn zurück.
"Solch einen Hund gibt es nicht zum zweiten Mal", sagte John Thornten eines Tages, als er Buck nachsah, der auf den Wald zuging.
Die Männer sahen aber nicht die furchtbare Veränderung, die mit Buck vorging, wenn er im Wald verschwand. Dort war er ganz das Raubtier. Er tötete Kaninchen im Schlaf, fing Truthähne im Flug, Fische im fließenden Wasser und Biber auf ihrem Damm. Er tötete aber nur, um Nahrung zu haben und nicht aus Freude am Morden. Besonders gern fing er Eichhörnchen, die er dann wieder laufen ließ und freute sich darüber, wenn sie schimpfend in die höchsten Spitzen der Bäume flüchteten.
Als das Wetter kühler wurde, zogen die Elche wieder tiefer in das Land. Einmal hatte er ein Schmaltier gerissen, aber er wünschte sich würdigere Gegner. Das wurde dann ein wohl sechs Fuß hohes Tier mit mächtigen Schaufeln. Seine kleinen Augen blickten scharf und drohend, und es schnaubte vor Wut beim Anblick des Hundes.
Buck versuchte zuerst, den Elch von den übrigen Tieren abzuschneiden. Das war kein leichtes Werk. Er bellte und sprang vor ihm herum, immer darauf bedacht, nicht von den schweren Schaufeln oder den mächtigen Hufen getroffen zu werden, denn ein Tritt von ihnen hätte genügt, ihn zu zermalmen. Der Elch kam nicht voran und seine Wut steigerte sich immer mehr. Er griff auch an, aber Buck wich aus.
Buck brauchte viel Geduld. Einen halben Tag lang reizte er die jungen Tiere, plagte die älteren mit seinem Gekläff und versetzte die Kälber in Angst und Schrecken. Von allen Seiten griff Buck an, so dass die Elche nicht zur Ruhe kamen. All sein Tun galt aber immer nur dem einen Tier, nur sein Leben forderte er.
Als der Tag zu Ende ging, zogen die Tiere weiter, nur der alte Elch stand noch da. Lange hatte er die anderen Tiere geführt, beschützt und beherrscht. Nun konnte er ihnen nicht folgen, denn vor ihm hüpfte und bellte ein erbarmungsloser Feind, der es ihm verbot, obwohl er viel kleiner war als er.
Tagelang ließ ihm Buck keine Ruhe. Er durfte kein Blättchen von einem Baum pflücken und keinen Schluck Wasser aus dem Bach trinken. In heller Verzweiflung lief er oft davon, aber Buck blieb ihm stets auf den Fersen. Der schwere Kopf des Elchs sank immer tiefer, seine Lauscher hingen schlaff nach vorn, sein Gang wurde von Stunde zu Stunde unsicherer. Dadurch fand Buck mehr Zeit, für sich selbst Nahrung zu suchen.
Am Abend des vierten Tages tötete er den Elch. Einen Tag und eine Nacht gönnte er sich Ruhe und fraß sich satt. Dann trat er erfrischt den Rückweg an.
Buck spürte, dass inzwischen etwas geschehen war. Dann stieß er auf eine Fährte, die aus dem Lager führte, in dem sein Herr gewesen war. Die Rückenhaare sträubten sich, seine Augen glühten, jeder Nerv an ihm bebte. Wie ein Schatten glitt er dahin, folgte der Weisung seiner Nase und fand so im Dickicht Moor. Er lag lang ausgestreckt da und war tot -von Pfeilen durchbohrt, deren Enden Federn trugen.
Hundert Schritte weiter stieß Buck auf einen der neuen Schlittenhunde, die Thornten in Dawson gekauft hatte. Er lag im letzten Todeskampf.
Vom Lagerplatz hörte er viele Stimmen und eintönigen Singsang. Auf dem Gesicht liegend fand er Hans, der mit Pfeilen bedeckt war wie ein Stachelschwein mit Stacheln.
Dann konnte er den Platz vor dem Zelt überblicken. Er sah Yeehats-Indianer ihre Tänze aufführen und dazu singen. Plötzlich hörten diese ein furchtbares Geheul und sahen ein Tier, wie sie noch keins gesehen hatten. Es war Buck, der sich zwischen sie stürzte. Er sprang auf den ersten zu, es war gerade der Häuptling, warf ihn zu Boden und riss ihm die Gurgel auf, dass das Blut weit umherspritzte. Noch bevor die Indianer reagieren und zu Ihren Pfeilen und Bogen greifen konnten, tötete er weitere von ihnen. Panik entstand, alle flohen in den Wald. Buck verfolgte sie. Erst nach einer Woche sammelten sie sich in einem entlegenen Tal, aber sie waren nicht mehr viele.
Als Buck zurückkam, fand er Peter, der im Schlaf auf seinem Lager erschlagen worden war. Thorntens verzweifelten Kampf las er aus den Fußspuren im Sand und verfolgte sie bis hinunter an den See. Seine Spuren führten in das Wasser hinein, aber nicht wieder heraus. Buck wusste, dass er tot war, Am Ufer lag auch Skeet, treu bis zum Ende. Buck fühlte eine große Leere in sich.
Die Nacht kam, und der Vollmond stand am Himmel. Buck lag traurig am Ufer des Sees. Da tönte ein Laut zu ihm herüber, den er kannte, der Laut aus einer anderen Welt. John Thornten war tot, und damit war das letzte Band zerrissen, das ihn an die Menschen band. Er wollte dem Ruf folgen.
Auf ihren Jagdzügen waren die Wölfe bis hier in dieses Tal gezogen. Im Mondschein kamen sie daher, und Buck erwartete sie hoch aufgerichtet. Die Wölfe standen starr vor Schreck, als sie ihn plötzlich sahen. Es dauerte lange, bis der Kühnste zum Angriff vorsprang. Buck fasste ihn gut und brach ihm das Genick. Dann stand er wieder da, still und regungslos. Drei Wölfe griffen ihn noch an, doch sie alle mussten sich blutüberströmt zurückziehen.
Plötzlich fielen alle zusammen über ihn her, und nur seine Gewandtheit konnte ihn retten. Er schnappte nach allen Seiten und passte auf, dass sein Rücken frei blieb. Er kämpfte so tapfer, dass die Wölfe sich nach einer halben Stunde zurückzogen. Sie schnaubten vor Wut, und zeigten ihre Zähne voller Mordlust. Sie wussten aber nicht so richtig, wie sie sich verhalten sollen.
Endlich kam ein alter, magerer, halb lahmer Wolf freundlich näher, und Buck erkannte in ihm seinen wilden Bruder, mit dem er einen Tag und eine Nacht durch die Wildnis gezogen war.
Dann trat noch ein alter, mit Narben bedeckter Wolf herzu, setzte sich, richtete seine Nase empor zum Mond und stieß ein jämmerliches Geheul aus. Buck horchte auf. Das war der Ruf, den er kannte. Er setzte sich neben den Alten und stimmte ein. Schließlich kamen auch die übrigen Wölfe - einer nach dem anderen - heran, beschnupperten ihn und schlossen sich dem Geheul an.
Als ein Wolf aufsprang und zum Wald lief, folgten ihm die anderen. An der Seite des wilden Bruders stürmte auch Buck laut bellend davon.
Es dauerte nicht lange, bis die Yeehats bemerkten, dass die Wölfe ihr Aussehen änderten. Einige hatten tiefbraune Flecken am Kopf und ein weißes Mal vor der Brust. Immer, wenn sie die Wölfe sahen, bemerkten sie an der Spitze des Rudels einen sehr großen Wolf. Sie fürchteten ihn und nannten ihn den Geisterwolf. Er bestahl ihr Lager und beraubte ihre Fallen mit einer solchen Schlauheit, dass sie ihm nichts anhaben konnten. Er zerriss alle ihre Hunde und fürchtete auch die tapfersten Krieger nicht.
Bald zogen die Indianer nicht mehr in dieses Tal, in dem der große Wolf mit dem glänzenden prächtigen Fell lebte. Aber er war nicht immer hier. Wenn die Wölfe vor den langen Winternächten des Nordens flohen und in den Süden zogen, wohin auch ihre Beutetiere gingen, dann lief Buck in langen Sätzen an der Spitze des Rudels.